Hymne an die Liebe

[170] Froh der süßen Augenweide

Wallen wir auf grüner Flur;

Unser Priestertum ist Freude,

Unser Tempel die Natur; –

Heute soll kein Auge trübe,

Sorge nicht hienieden sein!

Jedes Wesen soll der Liebe,

Frei und froh, wie wir, sich freun!


Höhnt im Stolze, Schwestern, Brüder!

Höhnt der scheuen Knechte Tand!

Jubelt kühn das Lied der Lieder,

Festgeschlungen Hand in Hand!

Steigt hinauf am Rebenhügel,

Blickt hinab ins weite Tal!

Überall der Liebe Flügel,

Hold und herrlich überall!


Liebe bringt zu jungen Rosen

Morgentau von hoher Luft,

Lehrt die warmen Lüfte kosen

In der Maienblume Duft;

Um die Orione leitet

Sie die treuen Erden her,

Folgsam ihrem Winke, gleitet

Jeder Strom ins weite Meer;
[171]

An die wilden Berge reihet

Sie die sanften Täler an,

Die entbrannte Sonn erfreuet

Sie im stillen Ozean;

Siehe! mit der Erde gattet

Sich des Himmels heilge Lust,

Von den Wettern überschattet

Bebt entzückt der Mutter Brust.


Liebe wallt durch Ozeane,

Höhnt der dürren Wüste Sand,

Blutet an der Siegesfahne

Jauchzend für das Vaterland;

Liebe trümmert Felsen nieder,

Zaubert Paradiese hin –

Lächelnd kehrt die Unschuld wieder,

Göttlichere Lenze blühn.


Mächtig durch die Liebe, winden

Von der Fessel wir uns los,

Und die trunknen Geister schwinden

Zu den Sternen, frei und groß!

Unter Schwur und Kuß vergessen

Wir die träge Flut der Zeit,

Und die Seele naht vermessen

Deiner Lust, Unendlichkeit!

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 170-172.
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