Der gefesselte Strom

Was schläfst und träumst du, Jüngling, gehüllt in dich,

Und säumst am kalten Ufer, Geduldiger,

Und achtest nicht des Ursprungs, du, des

Ozeans Sohn, des Titanenfreundes!


Die Liebesboten, welche der Vater schickt,

Kennst du die lebenatmenden Lüfte nicht?

Und trifft das Wort dich nicht, das hell von

Oben der wachende Gott dir sendet?


Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es quillt,

Wie, da er noch im Schoße der Felsen spielt',

Ihm auf, und nun gedenkt er seiner

Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er,


Der Zauderer, er spottet der Fesseln nun,

Und nimmt und bricht und wirft die Zerbrochenen

Im Zorne, spielend, da und dort zum

Schallenden Ufer und an der Stimme


Des Göttersohns erwachen die Berge rings,

Es regen sich die Wälder, es hört die Kluft

Den Herold fern und schaudernd regt im

Busen der Erde sich Freude wieder.


Der Frühling kommt; es dämmert das neue Grün;

Er aber wandelt hin zu Unsterblichen;

Denn nirgend darf er bleiben, als wo

Ihn in die Arme der Vater aufnimmt.

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Stuttgart 1953, S. 69-71.
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