An die Phantasie

[78] Rosenwangigte Phantasie,

Die du Bilder ins Herz deiner Vertrauten mahlst,

Die Vergangenheit aus dem Schoos

Ihrer Mitternacht rufst, hinter den Schleyer blickst,

Der das Auge der Zukunft deckt,

Dich gen Himmel erhebst, unter Verklärten wallst,

In die Harfen der Engel singst,

Und den blendenden Thron Gottes von ferne schaust;

Beut mir immer den Schwanenarm!

Reiß mich flügelgeschwind, über die Wolkenbahn,

In den goldenen Sternensaal!

Oder wandle mit mir, holde Begleiterin,

In die Tage des Flügelkleids,

Die, im scherzenden Tanz, über mein Haupt entflohn,

In die Tage der ersten Glut! – –

Rollt mein Leben zurück? Zauberin Phantasie,

Wohin zauberst du meinen Tritt? – – –

Gaukelnd hüpf' ich daher, hasche den Schmetterling,

Der am Busen der Rose trinkt,

Baue Hütten mir auf, flügle den bunten Ball

Durch die Bläue der Sommerluft! – –

Welche Göttergestalt! Unschuld, die Minnerin

Dieser friedlichen Schäferflur,

Führt ein Mädchen am Arm. Heller und röther blühn

Alle Wangen des Blumenvolks,

Das den schmeichelnden Kuß ihres Gewandes fühlt.[78]

Itzt, itzt schlüpft sie dahin, und mir

Lacht ihr Seelenblick, mir! – – Seh ich die Laube dort,

Wo mein Busen an Agathons

Busen fröhlicher schlug, wo wir den Abendstern

Oft den Himmel besteigen sahn?

Reizend bist du mir stets, schattendes Rebendach,

Wo dein Wonnegespräch, o Freund,

Dein geselliger Scherz, Flügel des Augenblicks

Mancher seeligen Stunde gab! – –

Flieh das blumichte Grab, flüchtige Führerin,

Wo die göttliche Lilla schläft!

Flieh, sonst bricht mir das Herz! – Schwinge dich wolkenan,

Und bewalle mit mir den Stern,

Wo, mit Morgengewölk röthlich umhüllt, ihr Geist

An melodischen Quellen irrt,

Und den Strom des Gesangs, welcher den goldenen

Engelharfen entrauschet, trinkt! – –

Wonne! Wonne! die Welt taumelt zurück! Ich bin

Am Gestade des lichten Sterns!

Lilla hüpfet heran, leitet mich an der Hand

Unter Chöre der Seeligen.

Engel stehen umher, werfen mir Kronen zu,

Winden Palmen mir um den Schlaf – –

Weil auf diesem Gestirn immer, o Phantasie!
[79]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 78-80.
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