An die Phantasie

[204] Ewig träufle dein Kelch, Zauberin Phantasie.

Seinen Himmel auf mich herab;

Ewig lächle dein Blick deinem Geweyheten,

Der an deinem Altare kniet!

Dein unsterblicher Fuß weilet, o Königin,

An den Quellen des Morgenroths;

Du entschöpfest dem Quell liebliches Rosenlicht,

Und bestrahlest die Erdenwelt.

Dein allmächtiger Wink winket den Himmel schnell

Auf die trauernde Erd herab;

Streut ein Tempe mir hin, bauet mir Lauben auf,

Bettet Betten von Rosen mir.

Du entpflückest dem Thal Edens, o Königin,

Aetherblumen zum Kranze dir;

Und umsäuselst die Stirn deiner Erkohrenen

Mit dem träufelnden Strahlenkranz.

Eine Grazie hüpft, leicht wie ein Rosenblatt,

Liebelächelnd mir auf den Schooß;

Und ich senke mein Haupt an die geliebte Brust,

Schweb in Träumen Elysiums.

Trunken wandl' ich mit ihr, strömet das Abendroth,

Durch die schlummernden Blumen hin;

Durch den purpurnen Hain, durch das Gebüsch von Gold,

Durch das schlummernde Mondenlicht;

Und aus Rosengewölk lächelt der Abendstern

Meiner Wallerin ins Gesicht.

Ewig träufle dein Kelch, Zauberin Phantasie,

Seinen Himmel herab auf mich!
[204]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 204-205.
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