Der May

[28] Der junge May erscheint, und streuet Gold,

Und Azur in die Lüfte,

Das Thal, besät mit Frühlingsblumen, zollt

Den Zephyrn wieder Düfte.


Nun schlinget sich der Bach, vom kalten Band

Des Eises loßgebunden,

Die Flur hinab, den sammetweichen Rand

Mit Kränzen rund umwunden.


In jedem Wellchen schwimmt Aurorens Bild,

Wenn sie den Tag erwecket,

Den ganzen Ost in ihren Purpur hüllt,

Den Berg mit Gold bedecket.


Nun sinket Dämmerung und grüne Nacht

Von jedem Wipfel nieder,

Nun wirbeln, wenn der Abendstern erwacht,

Der Nachtigallen Lieder.


Nun hüpft die Ruh, dort, wo das Quellchen schwätzt,

Im aetherblauen Kleide,

Mit ihrer Schwester, die der Erdball schätzt,

Am Arme, mit der Freude.


Sie fliehn die Stadt, den goldenen Pallast,

Und seine Marmorsäale

Die Tafeln, die der weise Comus haßt,

Die schäumenden Pocäle.
[28]

Sie tanzen durch die Blümchen ihren Reihn,

Von Westen sanft gekühlet,

Und um den Schäfer, der im Buchenhayn

Auf seiner Flöte spielet.


O dreymahl glücklich, wer an ihren Arm

Geschlungen, durch die Flächen,

Voll Heerden, irrt, in Thälern, die kein Harm

Beschleichet, an den Bächen.


Sein Geist ist ruhig, wie der Sommersee,

Um den ein Wäldchen nicket,

Wenn Luna von des Himmels blauer Höh

Auf ihn herunterblicket.
[29]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 28-30.
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