Klagen einer Nonne

[20] Der Flora junge Rosenhand

Bestreuet jetzt die Flur

Mit Kränzen, und ein bunt Gewand

Umhüllet die Natur.


Nur nicht für mich! Mir wallt vom Thal

Kein Wohlgeruch empor.

Mir tönt das Lied der Nachtigall

Nur Klagen in mein Ohr.


Mit Fittigen der Mitternacht

Irrt die Melancholey

Um mich herum. Kein Lenztag macht

Mich von dem Kummer frey.


Selbst an des heilgen Altars Fuß,

Werf ich oft einen Blick

In jene Zeit, da Damons Kuß

Mir Himmel war, zurück.


Beym Paternoster seufze ich

Die Worte himmelan,

Erhöre, heilge Jungfrau, mich,

Und schenk mir ihn zum Mann.


Um meine Augenlieder schleicht

Der süße Schlaf nicht gern;

Oft sieht, wenn schon die Nacht entweicht,

Mein Leid der Morgenstern.
[20]

Stets schwebt mir meines Damons Bild

Vor Augen, der die Luft

Mit lauten Trauertönen füllt,

Und meinen Namen ruft.


Vergebens ruft! Nie werd ich ihn,

Den treuen, wiedersehn,

Nie mit ihm, wenn die Bäume blühn,

Durch Schattenhayne gehn.


Nein, trauern werd ich, bis der Arm

Des Grabes mich umfaßt,

Wenn du o Schwermuth, und du Harm

Mich aufgezehret hast.
[21]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 20-22.
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