Phryne

[302] Als Phryne mit der kleinen Hand

Noch um der Mutter Busen spielte,

Nichts als den keimenden Verstand

Und den Beruf der Sinnen fühlte;

Da kam ihr schon, an jener Brust,

Das erste Lallen erster Lust.


Sie hatte kaum das Flügelkleid

Und einen bessern Putz empfangen,

So scherzten Witz und Freundlichkeit

In beiden Grübchen ihrer Wangen;

So stiegen aus der zarten Brust

Die regen Seufzer junger Lust.


O wie beglückt schien ihr das Jahr,

Das nun sie in Gesellschaft brachte,

Wo sie so oft die Schönste war,

So reizend sprach und sang und lachte!

Wie wuchsen sie und ihre Brust,

Und die Geschwätzigkeit der Lust!
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Sie ward mit Anstand stolz und frei,

Und ihre Blicke pries die Liebe;

Der Spiegel und die Schmeichelei

Vermehrten täglich ihre Triebe,

Und ihr gerieth, bei reifer Brust,

Die sanfte Sprache schlauer Lust.


Die Oper, das Concert, der Ball

Erhitzten ihren Muth zum Scherzen.

Nur Phryne wies sich überall

Als Meisterin der jungen Herzen,

Und faßte, mit belebter Brust,

Die ganze Redekunst der Lust.


Doch wahre Sehnsucht nimmt sie ein;

Die Stolze läßt sich überwinden.

Ihr Scherz verstummt, ihr Muth wird klein,

Sie lechzt, und kann nicht Worte finden.

Denn ach! es wallt in ihrer Brust

Das Unaussprechliche der Lust.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 302-303.
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