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Ich glaube! – O, wenn es Worte gäbe, um die Empfindungen auszudrücken, mit denen ich sage: ich glaube! Es reichen sich darin ich weiß nicht was für ein unirdisches Glück, für ein unirdischer Schmerz die Hand: gefunden zu haben die ewige Wahrheit, aber – wie spät! Doch immer, doch durch das ganze Leben hindurch den Durst nach jener, die Sehnsucht nach dieser gehabt zu haben; aber ihren Quell zu finden – wie spät! Sich sagen zu müssen, daß vielleicht nur eine einzige stärkere Bewegung des Willens, ein einziger entschiedener Schritt des innersten Wesens zum Licht der Erkenntnis mich schon vor Jahren auf den Pfad hätten bringen können, auf dem ich jetzt gehe – o ja, das wär' ein bitterer Schmerz, wenn er nicht überwältigt würde durch das unsterbliche Siegesgefühl, das den ganzen Menschen[3] ergreift und sein irdisches Leben dermaßen mit dem ewigen zusammenschmilzt, daß er vergißt, nach Tagen und nach Jahren zu rechnen, weil Tage und Jahre einen andern Inhalt, einen andern Wert, eine andere Bedeutung bekommen – wenn er sagt: Ich glaube! – Mit diesem Gefühle müssen in alten Zeiten Siegesboten aus gewonnenen Schlachten heimgeeilt sein in die Vaterstadt, um zu verkünden, daß der Feind gewichen und überwältigt sei. Er ist sehr müde, der arme Bote, und ganz bestaubt, und blutet aus seinen Wunden, und seine Waffen sind auch ganz abgenutzt; – die Übrigen sehen es! Er selbst aber sieht es nicht, weiß und merkt es nicht; und wenn er's wüßte, so wär' es ihm ganz einerlei! denn seine Seele ist nur erfüllt von dem einen: Sieg! ruft er, Sieg! das Vaterland ist gerettet! – Und so rufe ich, der sehr arme Bote, dennoch tausendmal glücklicher als jener, der nur über irdische Schlachten triumphierte: Sieg! das Vaterland ist gewonnen! ich glaube!
Doch wer glaubte denn nicht? Aus fernsten Zeiten, aus verschollnen Jahrtausenden, von untergegangenen Völkern, von unerklärten Denkmalen und Ruinen, aus geheimnisvollen Religionen, aus rohen Fetischdiensten, aus embryonischen Ahnungen, aus tiefsinnigen Mysterien, aus wilden Horden, aus fein zivilisierten Staaten – all überall tritt der Glaube als religiöses Gefühl[4] uns entgegen. Wenn das ist – warum denn dieser Jubel, diese Seligkeit? dann werde doch ich nicht einzig und allein in der Nacht des Unglaubens verwildert gewesen sein, sondern auch meinesteils geglaubt haben? O ja, ich glaubte. Aber! – – »Die Teufel glauben auch – und zittern.« Eva glaubte auch der Schlange und fiel. Die Egypter glaubten auch – an den Apis; die Phönizier auch – an Baal und Astarte; der Götzendiener auch – an den hölzernen Klotz, den er zu einem Bilde zurecht geschnitzt hat, und zwar aus demselben Baum, der ihm Holz zum Kochen und zur Feuerung gegeben – wie der erhabene Isaias in trauriger Majestät diese Seelenblindheit beschreibt und mit den Worten endet: »Sein Anteil ist Asche; sein töricht Herz betet davor anstatt seine Seele zu retten.« (Isaias 44, 13–20.) – O ja – ich glaubte! an einen selbstgeschaffenen Gott – und mein Anteil war Asche! an Idole – und sie sanken in den Staub oder – in's Grab, und mein Anteil war Asche. Sie konnten nicht meine Seele retten, nicht sie trösten, nicht sie erlösen, nicht sie heiligen; mein Anteil war Asche. Mein Herr und mein Gott! wie traurig ist es, bekennen zu müssen, daß ich so lange, so tief, so innig, so fest und warm etwas geglaubt habe, was Du nicht warst und was ich doch mit unbefangener Verwegenheit Gott nannte. Und ich gab diesem Etwas Deine Attribute, stellte mich unter seine[5] Hand, fühlte mich so sicher unter seiner Leitung, als ob es die der ewigen Wahrheit, der göttlichen Liebe sei! fühlte mich der Unsterblichkeit gewiß, der Vergebung der Sünden, des ewigen Lebens – weil ich es brauchte, weil ich mich darnach sehnte, weil ich nicht mit dem rätselhaften Dasein fertig werden konnte, ohne es in dieser Weise zu deuten – weil ich eben ein sehr lebhaftes, religiöses Gefühl hatte, wie das sehr gut beim Götzendienst stattfinden kann. Aber mein Anteil war Asche, denn dies Gefühl vermochte nicht, meine Seele zu retten, als der Augenblick kam, wo es hieß: Was willst du jetzt? gänzlichen Abfall oder gänzliche Unterwerfung? – Mit all meinem religiösen Gefühl stand ich am Abfall. O, das war eine fürchterliche Zeit, und ich kann gar nicht begreifen, daß ich erst kürzlich aus ihr herausgetreten bin. Mir ist zu Sinn, als hätte ich sie vor hundert Jahren durchgemacht, dermaßen fern liegt sie mir. Doch nicht fern genug, um nicht sie, um nicht die ganze Epoche, deren Ende sie war, deutlich übersehen und mit großer Klarheit erkennen zu können.
Wie in einer unterirdischen Höle habe ich mein ganzes Leben bis vor wenig Monaten hingebracht. Ich schmückte diese Höhle nach besten Kräften, mit großer Anstrengung, mit aufrichtiger Liebe, unter manchem Mühsal, unter sehr vielen, heißen Tränen – und stets mit der festen Überzeugung,[6] daß sie keine Höhle, sondern ein heiliger Tempel sei. Ich zündete Lampen, Kerzen und Fackeln in ihr an – so hell, wie der arme Geist es vermogte, und trug Blumen in sie hinein, so viel deren das arme Herz fand. Ich errichtete Altäre in ihr und opferte meinen Idolen: Liebe, Wahrheit, Ruhm – diese drei Genien, welche, je nachdem sie in der erlösten oder unerlösten Seele ihre Gezelte aufschlagen, zum Abgrund oder in die Glorie führen. Die Liebe in der unerlösten Natur – und der Mensch fällt mit ihr in eine Sklaverei seines Ichs, die um so gefährlicher ist, als alles, was in ihm natürlich gut – für sie bereit zu jedem Opfer ist. Man will leiden mit dem geliebten Gegenstand, und entbehren und trauern und opfern und gar nichts haben, und ihn allein glücklich machen; und aus diesem Sehnen und Streben steigt ein so feiner, süßer, duftiger Egoismus auf, daß er, wie das Arom der schönen Lilie, der lieblichen Orangenblüte betäubend, lähmend, berauschend wirkt, so daß, selbst wenn keine Enttäuschungen eintreten sollten, Entnervung und Abspannung sich einstellen, und das Herz so schwer und müde machen, daß es zu Zeiten erliegen möchte vor einer geheimnisvollen Traurigkeit, die wie ein melancholischer Schatten auftaucht und zu flüstern versucht: »Hast du auch wirklich dasjenige gefunden, was für alle Ewigkeit dir genügt und dich befriedigt und der Quell deines wahren[7] Glückes ist?« – Und wenn man tapfer »Ja« antwortet, so klingt das oft wie »Ach!« – und sagt man »Ach!« so weiß man oft selbst nicht recht, was alles darin enthalten ist von jenem – ich möchte ihn nennen idealischen Schmerz, der, wie Ixion, die Göttin aus seinen Armen als eine leere Wolke entschweben sieht. Weil das Ich sich nährt mit der ganzen Kraft der Liebe: so nimmt es immense Proportionen an und treibt die Selbstsucht bis auf die feinste äußerste Spitze, wo es eigentlich immer an einem Haar über dem Abgrund schwebt. Und weil es schwebt, so bildet es sich ein, es sei im Himmel – oder doch nahe dabei. O Verblendung! – In der erlösten Natur ist es gerade umgekehrt: das Ich nährt mit seinem Opfer die Kraft der Liebe und verschwindet allmählich, bis es als ein wüster Komet unter den Horizont hinabsinkt und im ewigen Osten die Sonne der Gnade aufgeht, deren Strahl die Liebe so entzündet, wie er einst das Opfer auf dem Altar Abels entzündete und es angenehm vor Gott machte, weil es Gott geweiht war.
Das Streben nach Wahrheit richtet ebenso große Verwirrung in der unerlösten Natur an, als die Liebe. Man hat keinen festen Ausgang, denn man steht nicht so, daß man in den ewigen Mittelpunkt, in die göttliche Offenbarung, gelassen und demütig, zuversichtlich und beseligt schaute; man steht schief zu ihr, oder seitwärts,[8] oder kehrt ihr gar den Rücken zu. Man sieht den Fokus nicht; man weiß nicht, von wo die Strahlen auslaufen; Licht und Schatten rieseln seltsam durcheinander, phantastische Gebilde erzeugend, an denen man Wohlgefallen hat, weil sie wunderlich und tausenderlei Deutung fähig sind. Es ist unmöglich, auf diesem Wege zur Wahrheit zu kommen; deshalb wird man sehr geistig hochmütig, und überschätzt sich und seine geistigen Gaben, daß es ein Erbarmen ist. In der erlösten Natur ist Wahrheit und Offenbarung eines und dasselbe. In ihrem Licht sieht man klar und scharf, und hat man einen ewigen Maßstab für Erscheinung und Wesen, für Form und Inhalt, für Schale und Kern. Auf ihrem Fundament fußet man sicher, weil er ein Felsen ist, den ebensowenig die Höllenmächte zersplittern, als die Stürme der Zeiten erschüttern, als menschliche Klügelei untergraben, als wechselnde Lehren irdischer Weisheit oder Torheit berühren können. Sie bietet den Punkt dar, den Archimedes begehrte, um den Hebel sicher zu stellen, mit dem er die Welt zu bewegen sich getraute. Ihre Substanz gewährt den tiefsten Geistern, den einfältigsten Gemütern, den wärmsten Herzen, den größten Charakteren ununterbrochen eine heilsame, kräftigende Nahrung, welche die Entwicklung und Ausbildung aller fördert, – ganz unähnlich den Wahrheiten, welche man ohne sie verkündet,[9] und welche, um verstanden zu werden, besondere Fähigkeiten bei den Adepten voraussetzen, so daß man sehr klug, oder sehr beschränkt, oder sehr verkehrt, oder sehr einseitig sein muß, um sie aufzufassen. Die Wahrheit ist nur eine, und da die Menschenseele geschaffen ist, um dieselbe in sich aufzunehmen, so paßt sie für jede Seele, ohne Ausnahme – wie das Tageslicht unabweislich die ganze Erde überflutet. Und will jemand sich dagegen absperren, Türen und Fenster verschließen und verhängen, seine Wohnung mit vielen Lichtern dann erhellen – doch schimmert durch irgend einen Spalt, durch irgend eine kaum wahrnehmbare Ritze golden der Tag hinein, klopft an und spricht: Die Nacht ist vorüber! tue mir auf und laß mich ein!
Sehnsucht nach Liebe und Wahrheit hat jeder, kennt und versteht jeder. Ruhmdurst? – der ist freilich etwas anderes. Dieser Drang zu leben über das irdische Leben hinaus in einer irdischen Unsterblichkeit, der Frucht großer Gedanken, großer Taten, großer Werke – dies Verlangen, hinter dem Nachen des Lebens einen langen, funkelnden Lichtstreif durch das Meer der Zeit ziehen zu sehen – diese Sehnsucht, die Stelle, wo man auf der Erde gestanden hat, mit etwas Unvergänglichem zu bezeichnen, das der fernen Zukunft von uns erzählt – mag von wenigen empfunden, von wenigen begriffen werden. Ich[10] hatte ihn! Nie dachte ich an den Beifall des Augenblicks; immer an eine irdische Unsterblichkeit. Ach, mit welchen vergänglichen Mitteln und Werkzeugen wähnte ich ein ewiges Ziel erreichen zu können – wenn man überhaupt auf irdische Unsterblichkeit das große Wort ewig anwenden darf! – In der erlösten Natur gestaltet es sich anders! die Sehnsucht nach Schauen des ewigen Glanzes, nach Ruhe im ewigen Licht wird umso mächtiger, als man seines überirdischen Zieles, für das man geschaffen ist, sich bewußt wird – das Streben, sich für dasselbe vorzubereiten und sich in harmonische Verbindung mit demselben zu bringen, wird weit tätiger und intensiver, aber an die Erde und ihre kommenden Geschlechter denkt man nicht länger als Verkünder des Ruhmes.
Dies waren also meine Idole, mit denen ich lebte in meiner unterirdischen Höhle. Da kam der Tag, der ihren Untergang sah – fast zur nämlichen Zeit verlor ich sie alle drei. Die Welt wurde urplötzlich so fratzenhaft häßlich, so verzerrt von Konvulsionen des sittlichen oder vielmehr des entsittlichten Lebens, das sich in schauderhafter Blöße schamlos zeigte, in höchster Frechheit hier, in höchster Feigheit dort – daß mir graute vor ihrem Ruhm. Das Suchen und Auffinden von Bruchstücken der Wahrheit, die wie Unkraut neben dem Baum der Offenbarung[11] aufschießen – führt in ein Chaos von Lüge und Verkehrtheit, in welchem jeder zum Empörer gegen göttliches Gesetz und göttliche Ordnung wird: dies sah ich mit Schauder rings um mich her. Und in dieser Zeit, wo alles wankte, alles bedroht wurde, alles fiel, wo nichts Farbe und Stich hielt, wo der natürliche Mensch auf nichts außerhalb der eigenen Brust sich verlassen durfte, als auf die Liebe der Geliebten, als auf ein treues Herz – da verlor ich ein solches Herz! Es sank ins Grab! – – – Und so war ich denn allein in meiner Höhle! die Kerzen erloschen, die Blumen verwelkten! mir war alles gleichgültig – denn die Altäre waren leer. Was sich in meiner Seele vorbereitete und zurechtmachte, läßt sich nicht scharf und bestimmt in Worte fassen, weil ein schwarzer Strom von Traurigkeit dermaßen in Katarakten über sie hinweg donnerte, daß sie betäubt und gleichsam pralysiert in ihren Fähigkeiten war. Sie litt; und doch verhielt sie sich nicht bloß leidend! sie versuchte, wie lange und wie weit sie das passive Leiden würde ertragen können: so sage ich jetzt, um einigermaßen meinen Zustand zu bezeichnen. Denn trotz ihrer Versteinerung und Betäubung blieb sie nicht passiv am Boden liegen, sondern ging und ging vorwärts. Der Erfolg hat es gezeigt; – denn sie kam an.
Der Ausgang meiner Höhle war auf der Spitze[12] eines Berges, und auf dunkeln labyrinthischen Wegen gelangte ich dahin. Nun stand ich oben, in freier Luft, in kräftiger Atmosphäre, unter einem unermeßlichen, strahlenden Sternenhimmel, der sich in einem ebenso unermeßlichen Meere rings um mich her abspiegelte. Da sprach neben mir eine Stimme: »Dies ist die Kirche Christi.« Und ich fiel nieder und betete an. Und die Stimme deutete mir die strahlenden Sternbilder; – da hörte ich Lehren, Mysterien, Worte, wie mein Ohr sie nie zuvor vernommen, wie ich gar keine Ahnung hatte, daß etwas so himmlisch und heilig Liebevolles, so Erhabenes, so die Seele Verklärendes für mich, für uns, für alle – gelehrt und gegeben werden könne. Sie sanken so tief, so überwältigend, so gewichtig in meine Seele hinein, daß sie ihnen für alle Ewigkeit untertan blieb. Und ich, gehorchend meiner Seele, blieb auf meinen Knien liegen und betete an. Und seitdem ist mir wohl. Ich habe in der geoffenbarten Religion Gott gefunden, der ein Gott der höchsten Liebe ist, und an die geoffenbarte Religion glaube ich.
Aber ist nicht die christliche Religion eine geoffenbarte, und bin ich nicht in derselben geboren und aufgewachsen? Da hatte ich sie ja mein Lebenlang! O, mit nichten! freilich bin ich in der lutherischen Konfession getauft und konfirmiert; aber wie hätte ich dadurch eine geoffenbarte[13] Religion haben sollen? ich hatte ja keine Kirche! – Die Protestanten lehren freilich die Existenz einer unsichtbaren Kirche; und das klingt ja ungemein erhaben. Nur ist es etwas schwer zu begreifen und begreiflich zu machen, wie und wodurch man sich mit diesem unbestimmten Begriff in lebendigem Verkehr in Wechselwirkung bringen könne. Ich wenigstens habe es nie begriffen. Es kommt mir vor, als sei meine Seele von jeher eine schlafende Katholikin gewesen. Im Schlaf ist man nicht zurechnungsfähig. Da ziehen die wunderlichsten Träume, die unsinnigsten Vorstellungen, die zusammenhanglosesten Bilder an uns vorüber; ja, wir nachtwandeln sogar und tun im somnambulen Zustand außerordentliche Dinge, die wir wachend nicht vollführen können. Dennoch aber sind wir gefangen und gebunden und bewußtlos – und nur wachend im Besitz unsers Willens und unserer Erkenntnis. Als meine Seele wach wurde, fand sie sich katholisch; denn alles, was die Protestanten lehrten, hat sie nie begreifen, nie in sich aufnehmen, nie sich zur Nahrung machen können. Kein Echo tönte wieder, kein Ton schlug an, keine Saite vibrierte. Nicht den geringsten Anknüpfungspunkt fand ich für mein religiöses Gefühl, weder in meiner Jugend noch in späteren Jahren.
Ich erinnere mich sehr lebhaft der Zeit, die meiner Konfirmation vorherging. Ich empfing[14] den Unterricht bei einem alten würdigen Prediger, zu dem ich nachmittags ging. Ich sehe alles lebhaft vor mir: sein grünes Zimmer, seinen langen Schreibtisch, an welchem wir uns gegenüber saßen; sein gutes altes Gesicht, sein Sammetkäppchen auf dem weißen Haar. Es war im Winter; mächtige entlaubte Bäume standen vor den Fenstern, und die Abendsonne warf den Schatten ihrer Aeste auf die Wand mir gegenüber. Krähen flogen krächzend um die Bäume und suchten sich ihr Nachtquartier. Im Zimmer war eine gewisse schwere Luft, welche immer vom Tabaksdampf übrig bleibt. So genau weiß ich das alles; aber von dem, weshalb ich bei dem alten Herrn war, und was er mich lehrte – weiß ich nicht eine einzige Silbe. Dies ist mir immer sehr merkwürdig gewesen! nie und zu keiner Zeit habe ich mich darauf besinnen können, was ich in dem Religionsunterricht gelernt. Doch war ich in meinem sechzehnten Jahr, und mir fehlte weder Gedächtnis, noch Wißbegier, noch Empfänglichkeit für das Höhere. Ich meine auch, daß ich recht andächtig ihm zugehört habe, daß mein religiöses Gefühl nicht untätig war; ich vermochte nur nicht irgend etwas positives von dem aufzunehmen, was er mir vortrug. Es war wie eine Ahnung, daß dies alles doch nicht die Wahrheit sei. Den Text der heiligen Schrift, über den der alte Prediger an meinem Konfirmationstag sprach, weiß[15] ich hingegen sehr gut. Es war der Spruch des Johannes: »Bleibet in meiner Liebe.« So empfing ich denn Bruchstücke von Religion; und kann eine Konfession mehr als Bruchstücke geben, die sich selbst aus ihnen gebildet hat?
Die Kirche ist die von Jesus Christus, dem Sohne Gottes, gestiftete Heilsanstalt, in welcher die Menschheit für ihre ewige Bestimmung herangebildet, auf Erden heilig, im Himmel selig gemacht wird; – und zwar in der Weise und nach der Ordnung, die Er begründet hat, die durch die heilige Schrift und die Tradition aufbewahrt, und durch die Autorität, welche ihr als sichtbare Repräsentantin des heiligen Geistes inwohnt, in Kraft gehalten werden. Willkürlicheres, Nebelhaftes, Widersprechendes gibt es nicht in ihr; aber für die zarteste Gliederung, die feinste Verzweigung hat sie Raum – ohne der Verflüchtigung des Geistes ins Blaue hinein die Hand zu bieten; denn sie hat einen unverlierbaren Mittelpunkt an dem irdischen Stellvertreter Christi, an dem Papst – welcher der Schlußstein dieser Gemeinschaft seit achtzehn Jahrhunderten ist. Mit dieser Gemeinschaft hat der Protestantismus gebrochen, die Autorität und die Tradition mit Füßen getreten, von der Einheit der sichtbaren Kirche sich losgerissen, folglich auch von der unsichtbaren sich abgelöst, welche nichts anderes als eine Vervollständigung der sichtbaren ist; – mit welchem Recht[16] durfte er da behaupten, bei diesem Bruch, bei diesem Abfall, die christliche Offenbarung respektiert, ja sogar sie gerettet, sie in einer neuen Kirche neu hergestellt zu haben? Er war geboren aus Willkür, und er behauptete dies Recht aus Willkür; und damit hat er sich seinen Charakter indelebilis für die ganze Zeit seines Bestehens aufgedrückt: Willkür ist sein Lebensprinzip.
Während anderthalb Jahrtausenden war die Kirche Lehrerin, Bildnerin, Retterin, Trösterin der Menschheit gewesen. Unter ihrem Schutz und Schirm war die Welt groß, reich und schön geworden wie nie zuvor. Der Hauch des Lebens durchwehte diese Welt. Konnte es anders sein? Der Sohn Gottes war ja lebendig in ihr – und der Glaube an sein Leben verlieh dem ganzen Leben der Menschheit Kraft und Bewegung, Schwung und Ausdauer, eine Richtung in Gesinnung und Tat, die weit über den materiellen Genuß, über die Befriedigung des rohen Bedürfnisses und über die Forderung des Augenblicks hinausgriff. Nur Kinder und Sklaven leben für die Gegenwart und in der Sinnlichkeit allein! Jene Jahrhunderte müssen sehr männlich und sehr frei gewesen sein, denn aus ihrer ganzen Hinterlassenschaft entnehmen wir, daß sie immer die Zukunft und das Übersinnliche im Auge hatten. Sie waren eben christlich. Die Gemeinschaft, welche sie in der Kirche fanden, übertrugen sie in[17] die verschiedenen Zweige und Äußerungen des Lebens, so daß Einheit und keine Vereinzelung – Vielseitigkeit und keine Zersplitterung herrschte. Die Zunft, die Gilde, der Orden – – alles war gegliedert und daher voll Bewegung, einem Haupt unterworfen und somit wohlgeordnet, unter einen heiligen Schutzpatron gestellt, und somit religiös beseelt. Dies aber sind die wesentlichen Bedingungen des rechtschaffenen Lebens: Glaube, Gehorsam, Tätigkeit. Damit wird tüchtiges zustande gebracht; zuweilen Großes. Jene Jahrhunderte wußten das; denn sie folgten der Kirche und die lehrt es. Darum entstand keine Vereinigung irgend einer Art, ob weltlich, ob geistlich, die sich nicht Regel, Disziplin und Oberhaupt gegeben hätte, um ihre Kraft zu konzentrieren. Ob sie Handel und Wandel treiben – ob sie Dome bauen – ob sie studieren und lehren – ob sie Kranke und Arme pflegen – ob sie beschaulich zurückgezogen oder in der Welt allein nicht mit ihr leben wollten; – der Ritter, der Geistliche, der Kaufmann, der Handwerker, der Mönch, der Künstler, die Jungfrau, das Weib – alle, alle fanden die Gemeinschaft, die ihren Bedürfnissen entsprach, deren Gesetze sie annahmen, um aus deren treuer Befolgung Stärkung und Belehrung zu empfangen und innerhalb des Spielraumes, den diese öffneten, eine größere Wirksamkeit als in der Vereinzelung,[18] eine lebhaftere Anregung der Kräfte und eine besser geordnete Anwendung derselben zu finden. Gegen diese reiche, volle, selbständige organische Entfaltung des Lebens – ach, wie unsäglich arm erscheint das mechanische unserer Gegenwart! – Jenes soll roher gewesen sein, sprechen dessen Gegner. Es gab mehr Kämpfe und Fehden als heutzutag – das ist gewiß! mehr Zechgelage mit ihrem Gefolge von Zank, Streit und Rauferei – das ist möglich! eine derbere Art zu handeln, zu sprechen, sich zu gehaben – kann sein und schadet nichts! weniger allgemeine Bildung, Schulgelehrsamkeit, Bücher- und Federweisheit – Gott Dank, ja! Das alles hat seine Schattenseiten gehabt, ich geb' es bereitwillig zu; – aber roh, so daß durch diese Roheit die höchsten Interessen der Menschheit verabsäumt gewesen wären – war man nicht. Neben derber Plumpheit und neben wilden Ausbrüchen unbändiger Kraft stand in voller Blüte die heilige Charitas, die christliche Barmherzigkeit. Welch eine Menge von Vereinen, von Institutionen, – welch eine Tätigkeit der Einzelnen und der Korporationen für alles, was des Erbarmens bedurfte. Wo irgend eine Bedürftigkeit, ein Leid auftauchte, gleich daneben stand gewiß ein Orden, eine Bruderschaft, um Linderung zu spenden. Wo ein vereinsamtes Wesen ein ausgestoßenes, ein reuiges, ein schuldbewußtes war – die Pforte eines Klosters[19] öffnete sich ihm und es fand eine beschirmende Freistatt. In den Spitälern dienten fromme Männer und Frauen um Christi willen den armen Kranken; nicht etwa nur solche, die sich durch ein Gelübde dazu verpflichtet hatten oder die durch ihre Regel dazu veranlaßt wurden; – nein! sie kamen aus der Welt, aus ihren Schlössern und ihren Häusern, und kehrten dahin zurück; aber sie hielten sich nicht für zu gut, um die Elendesten zu pflegen. Dennoch gab es mehr Leid, Jammer und Armut, als Hilfe geschafft werden konnte. Was geschah? – himmlische Herzen, heilige Seelen, die sich selbst nicht genug taten durchhelfen – sie teilten das, was sie nicht lindern konnten: sie machten sich arm mit den Armen; sie verschenkten Hab und Gut, und nahmen das Gewand der Armut, um den Armen näher und ihnen ähnlicher zu sein. Das taten nicht etwa nur die großen Heiligen, wie die heilige Elisabeth und St. Franziskus von Assisi und an dere ihrer Ordnung! nein! es entstanden die Bettelorden mit ihren demütigen Kindern, der heiligen Armut – mit dieser frommen Schar, die nichts begehrte, als Liebe der Armut durch das höchste Opfer an den Tag zu legen. Wem das Herz in solchem Liebesfeuer brennt, der ist nicht roh; und solcher Herzen gab es zu vielen Tausenden. Roh mag die Zeit gewesen sein aus Mangel an jenem Wissen, das man heutzutag Bildung[20] nennt – und an jener Bekanntschaft mit Gebräuchen, Sitten, Erfindungen, Gewohnheiten und Bestrebungen, welche jetzt Erziehung heißen; – aber roh, weil ihr der Sinn für das Höhere und Göttliche gefehlt hätte, war sie nicht. Ich weiß wohl, daß die Welt jetzt nicht imstande ist, sich von dem Liebesopfer einen Begriff zu machen, welches die Bettelorden geboren hat, weil der Glaube an das Göttliche so sehr geschwunden ist. Aber sie wird es allmählich doch wieder lernen und dann es begreifen, – wenn sie begriffen hat, in welcher Entgöttlichung sie dahin taumelt oder dumpf vegetiert.
Roh soll die Zeit gewesen sein! und die erhabenen Dome? und die mystische Poesie? und die lieblichen Bilder? – trägt das alles ein Gepräge von Roheit? und hätte so großes und herrliches gedacht und geschaffen werden können, wenn nicht die erhabenen Ideen, die ihm zugrunde liegen, ein Gemeingut der ganzen Epoche gewesen wären? Zu solchen Schöpfungen gehört ein Zusammenwirken mannigfacher, schöner und edler Kräfte – gehört eine Beharrlichkeit in der Begeisterung, welche nur aus einem reinen Quell genährt werden können. Nur Kinder und Sklaven bauen Kartenhäuser, – ob von Papier, ob von Lehm, ob von Theorien – gleichviel! Sie währen ihre Sekunden oder ihre Jahre, – aber nichts ewiges hat in ihnen gewohnt, und somit[21] sind sie leer; denn leer ist alles, was nicht von Gott erfüllt ist, von dem gekreuzigten Gott der Offenbarung.
Und immer wieder muß ich fragen: roh soll die Zeit gewesen sein? Man vergleiche doch einmal die Lehre des heiligen Thomas von Aquino über das Eigentum mit der Lehre irgend eines Kommunisten unserer Tage. Dieser zielt auf die Stallfütterung der Menschheit hin, welche sich kraft- und willenlos, nur bereit zum animalischen Genuß an ihren Trögen, wie eine Viehheerde zurechtlegen soll. Jener macht die Besitzenden zu Verwaltern Gottes. Auf welcher Seite ist die Roheit? Sind die Mysteres de Paris roher, oder das Buch von der Nachfolge Christi? Sind die modernen Doktoren und Professoren der Philosophie weiser, tiefsinniger, erhabener, als die Kirchenlehrer des Mittelalters? Wer das bejahete, müßte doch heimlich sich selbst auslachen! – Oder will man mit den bestaubten langweiligen Folianten nichts zu tun haben – gut! Auch die Praris des Lebens wurde mit Weisheit gehandhabt: da ist ein Hansebund – und die Städte erblühen zu einem unbegreiflichen Flor; da sind die Ritterorden – und sie erobern Länder und Völker, und verschaffen der sittigenden Kraft des Christentums Eingang bei den Barbaren.
Aber das ist es eben: die Macht und Kraft der Kirche spricht sich in allen Erscheinungen, Bildungen,[22] Schöpfungen des Mittelalters aus. Ihr Licht leuchtet aus allem hervor; ihre Lehre wird in allem lebendig; sie ist das große Herz, welches sein Blut durch die Adern der Menschheit treibt, seinen Atemzug in den Busen der Menschheit haucht. Von diesem Herzen hat der Protestantismus sich losgerissen, und um den wahnwitzigen Abfall zu motivieren, hat er behauptet, diesem göttlichen Herzen entströme Gift zum Verderben der Menschheit. – Und das hat man geglaubt? – Warum denn nicht? Eva glaubte der Schlange – und fiel; Adam glaubte der Eva – und fiel. Man glaubte denen, die sich Reformatoren nannten – und fiel; denn zu furchtbarer Tätigkeit wurde durch ihre Lehre die Frucht der Erbsünde, die böse Lust in der Menschheit angeregt.
Der Protestantismus riß sich los von dem Felsen der Kirche und stellte sich mit seiner Lehre auf den Triebsand der eigenen Willkür, und verfiel in den greulichen Widerspruch, für dieselbe eine Autorität in Anspruch zu nehmen, die nicht in ihr war und die sie auch gar nicht ausüben konnte, aus Mangel an Mitteln. Luther – und mit ihm das ganze reformatorische Geschlecht – berief sich auf eine individuelle Berechtigung aus der heiligen Schrift unter Mitwirkung des heiligen Geistes die geoffenbarte Religion herauszulesen. Verblendet von Hochmut begriff er nicht, daß er seine Offenbarungen an die Stelle[23] der göttlichen setzte. Verblendet von jener Kurzsichtigkeit, die niemals von der Leidenschaftlichkeit sich trennt, war es ihm für den Augenblick nur darum zu tun, den Abfall in möglichst weiten Kreisen zu verbreiten, und dazu eignete sich jene Berechtigung ganz außerordentlich, welche er den Menschen vindicierte, in letzter Instanz bei der Frage um göttliche Dinge auf ihr eigenes Urteil sich zu berufen. Hatten sie dasselbe ausgesprochen: so hatte ja der heilige Geist aus ihnen geredet, der jedem Bibelleser zum Verständnis des göttlichen Wortes verhalf. Wem ist es nicht eine Wonne, sich erleuchtet zu wissen vom heiligen Geist? Dann steht man ja neben – nicht unter Gott. »Und Ihr werdet wie Götter,« sprach die Schlange zu Eva.
In jener Kurzsichtigkeit hatte Luther nur gänzlich vergessen, daß es diesen vom heiligen Geist erleuchteten auch wohl einfallen könne sich nicht bloß gegen die Kirche, sondern andererseits auch gegen seine Lehre zu erheben. Sein Zorn gegen die Sakramentierer, gegen die Wiedertäufer, gegen Kaspar von Schwenkfeld und alle »Schwarmgeister« ist komisch und traurig, da sie nur ganz dasselbe taten, was er zuerst getan. Bei sich selbst verehrte er diesen Schritt als eine göttliche Inspiration; bei anderen fand er ihn frevelhaft und sündlich. Ich wundere mich gar nicht über diese verschiedene Auffassungsweise desselben[24] Gegenstandes von einem und demselben Menschen; es geht uns allen sehr oft so. Ich wundere mich nur über die merkwürdige Anmaßung und Beschränktheit, so recht auf Grund und Boden dieses unauflöslichen Widerspruches eine neue Kirche bauen zu wollen.
Die Folge davon war ganz natürlich, daß Luther aus einem Widerspruch in den andern fiel. Klar, scharf und bestimmt ist bei ihm nur eines: der Haß gegen die Kirche. Spricht er den aus, so versteht man immer ganz genau, was er will und lehrt; – aber sonst sehr schwer. Die Lehre von der sichtbaren Kirche, als von der großen Gemeinde aller Christen auf Erden, die denselben Glauben bekennen, dieselben Sakramente gebrauchen, von ihrem gemeinsamen geistlichen Oberhaupt, dem Papst zu Rom, und den ihm untergeordneten Bischöfen unter Mitwirkung des heiligen Geistes regiert und geleitet werden – diese Lehre verwarf er. In diese majestätische Einheit wollte er sich nicht fügen, dieser erhabenen Ordnung sich nicht unterwerfen, als ob in ihr nicht Platz wäre, um das Atom seines Individuums unterzubringen. Hingegen trat er mit der Behauptung auf, Christus habe nur eine unsichtbare Kirche, eine geistige Gemeinschaft gegründet, ganz übereinstimmend mit seiner anderen Behauptung: dem Gläubigen würde alles inwendig durch die Salbung des Geistes gelehrt.[25] So waren denn glücklich die verhaßten Priester mit ihrem allverhaßtesten Oberhaupt beseitigt, und jedes Mitglied der lutherischen Gemeinde war in Glaubenssachen zu einem irrtumslosen Lichtgeist erhoben, während es im Leben der größte Sünder blieb. Freilich beschreibt die Augsburgische Konfession dann doch wieder diese unsichtbare Kirche als eine zum Teil an äußeren Zeichen erkennbare, nämlich als die Gemeinschaft der Heiligen, in welcher das Evangelium recht gelehrt und die Sakramente recht gespendet werden. (Confess. Aug. Art. VII.) – Aber das macht das Verständnis noch unmöglicher. Die Heiligen, so lange sie auf Erden wandeln, kennt nur das Auge Gottes, aber nicht der Nachbar zur Rechten und Linken; also können sie kein Kennzeichen abgeben. Wie darf der Ausdruck gebraucht werden: das Evangelium sei recht zu lehren, da der heilige Geist sich ja dem Amt unterzieht, und es doch vermutlich auszufüllen wissen wird, was jeder Einzelne bei sich selbst genügend erfährt. Und endlich: die Sakramente sollen recht gespendet werden. Da vergessen die Reformatoren nur, daß es in ihrer Gemeinde unmöglich ist: sie haben ja keine Priester, und an diese ist die rechte Verwaltung der Sakramente einzig und allein gebunden, weil sie durch die heiligen Weihen die Befähigung dazu empfangen haben. Wer übrigens von den sieben Sakramenten der Kirche[26] fünf verworfen und für überflüssig oder schädlich oder gottlos erklärt hat; der sollte doch nicht an die Beibehaltung und Ausspendung von zwei entweihten Überbleibseln das Kennzeichen einer Kirche knüpfen wollen! Es dürfte gar so leicht jemand auftreten und sprechen: Du hast fünf gestrichen, wir streichen zwei! – Und die Wiedertäufer strichen nach besten Kräften, vorwärts gehend auf dem Wege, den Luther eingeschlagen.
Eine Staatsanstalt, die man Kirche nennt, hat der Protestantismus. So lange ich in ihm lebte, begriff ich nicht, was ich damit zu tun haben könnte. Ich nahm ganz ehrlich und ganz konsequent die lutherische Berechtigung für mich in Anspruch, auf feine eigene Hand und nach meinem eigenen Gutdünken und Ermessen in der heiligen Schrift nach der göttlichen Offenbarung mich umzusehen. Altes und neues Testament, Propheten, Psalmen und Episteln – alles las ich und las ich; fand es auch wunderschön und wahr, begeisternd und beseligend; – war auch viel zu warmherzig und phantasiereich, um je in die Wüsten und Haiden des Rationalismus zu verfallen; – aber von christlichem Glauben war nicht eine Spur in mir. Die heilige Schrift ist ein erhabenes Bruchstück, welches der Protestantismus mit sich nahm, als er die Kirche verließ; folglich kann eine nach voller Erkenntnis ringende Seele sich im Besitz der Bibel niemals im Besitz der vollen Wahrheit[27] wähnen; denn es fehlt ihr die objektive Bestätigung der Wahrheit – und deren bedarf sie, um sicher zu ruhen im Glauben. Es wird ihr vielleicht nicht klar, daß sie nur an einem Bruchstück zehrt – und noch weniger klar, wo sie es zu ergänzen habe. Der Ergänzung aber bedarf sie, und nun fängt sie an zu suchen.
Mein Herr und mein Gott, Du weißt es, wie ich gesucht habe! Ich bin gepilgert von einer Grenze unsers Weltteils zum andern – von den Katarakten des Nils zu den Grotten von Staffa – von Cintras Hügeln nach den Gärten von Damaskus – über Alpen und Pyrenäen und Libanon – über Meere und durch die arabische Wüste – von den Ufern des Shanon im grünen Erin zu den Ufern des heiligen Jordan; ich bin zuhause gewesen unter dem Zelt des Beduinen und in den Palästen der haute volée von Europa; ich habe gekannt, was mir an verschiedenen Ständen und Verhältnissen, Völkern und Menschen nur irgend erreichbar war; in den größten Kontrasten hab' ich mich bewegt; in London z.B. ging ich vom rag fair zur Vorstellung bei I. K. H. der Herzogin von Kent. Die Höhen- und Tiefenpunkte der Zivilisation, die verschiedenen Kulturstufen der Völker, den Zusammenhang der Bildung mit Religion und Volkscharakter, mit Kunst und Sitten, die ganze Geschichte der Menschheit in lebendigen Bildern wollt' ich vor Augen sehen,[28] von Angesicht zu Angesicht wollt' ich das Leben der Menschheit schauen. Ich wollte verstehen und erkennen – – ja, was denn so eigentlich? »Den Menschen!« sprach ich zu mir selbst. Wahrscheinlich wollt' ich wohl mich selbst verstehen lernen; aber das war unmöglich, denn kein positives Gesetz stand fest genug bei mir in Kraft, daß es mir hätte zur Richtschnur und zum Maßstab werden können, um die Erscheinungen und Bewegungen in mir und außer mir sicher und unbefangen zu beurteilen. Ich lebte in Willkür und von Bruchstücken, und war in der Beziehung ein ächtes Produkt des Luthertums.
Aber das stand fest in mir, daß der heilige Geist nicht bloß durch Bibellesen über den Menschen komme. So richtig dies war, so falsch war der Schluß, den ich daraus zog. Ich nahm an, daß jedes Individuum seine spezielle göttliche Offenbarung durch die Natur, durch die Weltgeschichte, durch starke und edle Empfindungen, durch die Schönheit, durch die Kunst empfangen könne – daß in dem allen ein Strahl ewiger Wahrheit lebe, welcher einem gleichen in uns eingekerkerten Strahl entspreche, ihn berühre und erklingen mache, wie die Morgensonne die Memnons- Statue, und dadurch den Menschen in harmonische Verbindung mit der Schöpfung und dem Schöpfer bringe. Ganz heidnisch wurde ich; aber ich wurde es mit der tiefsten Aufrichtigkeit und mit einer[29] solchen Liebe zur Wahrheit, daß mein unausgesetztes Bestreben dahin ging, die größtmögliche Übereinstimmung in mein äußeres und inneres Leben zu bringen, so daß ich schrieb wie ich dachte, und sprach, wie ich schrieb, und lebte wie ich sprach, und widerum dachte, wie ich lebte. Wer mich gekannt hat in den zehn Jahren, welche 1848 vorher gingen, und welche die Entfaltung meines Lebens nach außen ungefähr umfassen, wird dies bestätigen. Eines ist mir recht merkwürdig: daß ein so positiver Charakter ohne irgend ein positives Fundament sich bilden konnte! An dessen Stelle trat mein unbegreifliches Selbstvertrauen oder – um ein weniger wohlklingendes, aber richtigeres Wort zu brauchen – mein maßloser Stolz. Ich glaubte an mich selbst, an die Übereinstimmung zwischen meinem Können und Wollen und Sollen mit einer Energie, die eines edleren Glaubens wert gewesen wäre. Nichts und niemand imponierte mir oder blendete mich. Allem und jedem stellte ich mich höchst bestimmt und gelassen gegenüber und dachte: Du bist Du, und ich bin ich, und nun wollen wir mit einander reden. So hatte auch eigentlich niemand irgend einen Einfluß auf meine Art zu denken oder die Dinge zu betrachten. Ich handelte wohl manchmal unter fremden Einfluß, doch aus meiner inneren Richtung brachte er mich nicht heraus. Ich war wie verzaubert in mein Ich und wußte von keiner Art von Autorität.[30] Wie ich durch das Leben habe kommen können, ist mir jetzt im Grunde ganz unerklärlich, und nur dadurch einigermaßen zu verstehen, daß mehr oder minder alle Menschen ungefähr in demselben Fall waren wie ich und nichts, oder sehr wenig, von einer höheren Autorität wußten. Es fallen ja alle gesellschaftlichen Zustände auseinander, weil ihnen das Lebensprinzip, die Religion, fehlt. Ich meine nicht, daß einzelne nicht sehr gut und lieb und brav sein könnten; ich lebte ja auch nicht in permanenten schlechten Taten. Aber dadurch bewahrheiten wir nur das erhabene Dogma der Kirche, daß in dem unerlösten Menschen das natürliche Ebenbild Gottes nur verdunkelt, Wille und Erkenntnis nur geschwächt sind; daß die Erbsünde – diese bittere Hinterlassenschaft für uns Staubgeborene alle – uns nur entstellt, aber nicht in Grund und Boden verderbt hat, wie die lutherische Lehre irrtümlich festsetzt. Denn der natürliche Mensch, bevor er aus der Gnade wiedergeboren ist, hat nicht bloß Freude am Guten, sondern auch Sehnsucht danach. Der Faden, der ihn mit Gott verbindet, ist zwar zerrissen, kann aber durch die Erlösung wieder angeknüpft werden. Der Wille, der ihn zu Gott hinwendet, ist matt, ist nicht die Quintessenz seines ganzen Wesens und ermangelt der Ausdauer; aber vorhanden ist Willenskraft sowohl als Erkenntnisvermögen des Guten und Wahren ebenso[31] gewiß – als es gewiß ist, daß diese Fähigkeiten nur durch den Gebrauch der Gnadenmittel und durch die sorgsame Pflege, welche die Kirche ihren glücklichen Kindern schenkt, zu lebendiger Entfaltung und standhafter Wirksamkeit ausgebildet werden. Nie hat sich Luther zu dem tiefen Verständnis der Menschennatur in ihrer ursprünglichen Erhabenheit und Vielseitigkeit erheben können; denn nie hat er begriffen, was es heiße: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.« Doch davon später! –
Stolz war der Grundzug meines Charakters, die Basis, auf welcher ich mein Leben gründete. Durch ihn sind die Engel aus dem Himmel gefallen und Luzifer in den Abgrund; – ich weiß es! mich hat die Hand meines Gottes gehalten, als es noch Zeit war. Dieser Stolz gab mir ein grenzenloses Bedürfnis innerer Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen von Menschen und Dingen. Ich wollte kein Sklav sein fremder Urteile, fremder Meinungen oder Ansichten; ich mochte weder heucheln noch schmeicheln, um Lob zu hören, Tadel zu meiden. Auch von Gewohnheiten, Verweichlichungen, Bedürfnissen mochte ich nicht abhängen. Es war mir eine Lust, zuweilen etwas zu entbehren und auszuhalten – aber dies war stets etwas Selbstgewähltes. Immer auf eigenen Füßen zu stehen, war mir eine Wonne. Kam irgend ein Sturm, so beugte ich mich und ließ ihn vorüber[32] rauschen. Aber ich blieb auf meinen Füßen – und Gott ließ mich wirklich stehen, so daß ich, wer weiß wie oft, zu mir selbst sprach: Gott ist mir eben nichts, was die natürliche Kraft nicht für mich, ich kann alles aushalten. Es begegnete hätte ertragen können; – darin bestand gerade die innere Führung meiner Seele. Denn als der erste, große Schmerz, der einzig wahre Schmerz meines Lebens über mich kam – ja, wo war da die Kraft? Bis dahin hatte ich die Schmerzen überwunden, weil ich mich gegen all ihre Angriffe immer hinter Helm und Schild meines Stolzes und Selbstvertrauens flüchten konnte; – jetzt war das vorbei! ich war im Herzen getroffen und überwunden bis ins Mark der Seele; denn, so groß der Stolz sein mochte – die Liebe war größer gewesen. Noch behielt ich meine Waffen in Händen, obwohl ich sie nicht mehr brauchen konnte, nutzlos mich beschwerend mit ihrer Last, die mein Leid nur vermehrte und einen unerträglichen Druck mir aufbürdete. Endlich gab ich sie und mich in Deine Hand, mein Herr und mein Gott!
Ich hatte manchesmal große Kämpfe zu bestehen, große Versuchungen; jeder hat sie; allein die stolze Seele hat sie häufiger und heftiger, weil die Selbstüberschätzung sie herausfordert. Wie ich sie bestanden habe – mein Gott, Du weißt es! Eines ist mein Trost: ich kämpfte sie durch und[33] zu Ende. Feig war ich nicht. Ich schwamm nun einmal gegen den Strom und war bereit, jeden Kampf aufzunehmen, so daß ich mich recht übte in der Tapferkeit. Hat sie mir jahrelang auch keine gute Frucht gebracht, sondern mich recht eigentlich festgesetzt in der Rebellion, für die ich in manche Schlacht gegangen bin: so kam doch der Augenblick, wo sie mir wahrhaft diente. Denn als es galt, die unsterbliche Seele zu retten – da war die Tapferkeit auf ihrem Platz, sprang hinzu, ließ nicht nach und half sie retten.
War ich denn glücklich? – In meinem Leben war eine große Einheit und eine große, einem Teil meiner Fähigkeiten entsprechende Aktivität. Darin fand ich manchmal süße Befriedigung und großen Genuß. Dann lebte ich nach Ideen, nicht nach materiellen Bedürftigkeiten; – mochten nun auch die Ideen falsch sein, so gaben sie mir doch einen gewissen Schwung, so lange ich sie für wahr hielt, und mit Begeisterung lebt es sich immer leicht. Dies alles zusammen nennt der natürliche Mensch glücklich sein. Dazu kamen herrliche Geschenke Gottes: Liebe, Freundschaft, Talent, Gesundheit, Unabhängigkeit. Ich war zuweilen ganz ergriffen von Dankbarkeit gegen Gott und sprach es aus, daß ich auf der weiten Welt kein glücklicheres Geschöpf kenne, als mich selbst.
Daß neben diesem Gefühl zuweilen die gründlichste Unbefriedigtheit in dem Gewande einer[34] ganz übermenschlichen Langeweile auftauchte – daß über demselben große Melancholien schwebten – versteht sich von selbst, denn sie sind die Zwillingsgeschwister des irdischen Glücks. Sie sind das schwarze Flügelpaar, welches dem Schmetterling über sein himmelblaues oder purpurfarbenes gebreitet ist. Aber außer dieser Melancholie und dieser Langeweile war in mir ein unabweisliches Bewußtsein, daß ich noch zu einer ganz anderen Entwicklungsstufe kommen würde. »Meint Ihr denn wirklich, ich sei zu nichts anderem bestimmt, als ewig Romane für Euch zu schreiben? – o da irrt Ihr Euch heftig!« sagte ich zu jemand, der sich dessen vielleicht erinnert, wenn er diese Zeilen lesen sollte. Und: »Ich werde noch einmal etwas tun, worüber die Welt ganz anders erstaunen wird, als daß ich Faustine geschrieben habe« – antwortete ich einer Person, die mir übertrieben schmeichelhaft sagte, Faustine sei ein erstaunenswertes Buch. Solche Dinge äußerte ich natürlich halb lachend und wie im Scherz; allein es war mir tiefster Ernst damit. Und bisweilen sagte ich sie auch ernst; in meinen Büchern gewiß! »Israel, zu deinen Zelten!« – schrieb ich vor sieben Jahren im geliebten Kloster auf dem Carmel. Und am 26. August 1847 in mein Notizbuch:
»Meine Brust ist ein Altar, auf dem eine ewige Flamme brennt zur Huldigung des Göttlichen, aber nicht zur Ehre Gottes. Wird es mit[35] mir noch dahin kommen, daß ich erkenne, die ewige Lampe vor falschen Göttern entzündet zu haben? Wird Gott dereinst die Stelle der Götzen einnehmen? Oder sollte mein ganzes Erdenleben nur dem Kultus von Idolen gewidmet sein?«
Und einige Monate früher, am Pfingstsonntag, als man mir Glück wünschte zum Fest des hl. Geistes:
»Ja! er wird noch dereinst über mich kommen, der heilige Geist! denn es ist unmöglich, daß es so mit mir bleibe.«
Eine freundliche teilnehmende Seele erschreckte ich einmal sehr, weil ich – nachdem sie mein Leben als ein Beneidenswertes gepriesen und mir alles aufgezählt hatte, was mir zu teil geworden sei – fast ungeduldig ihr entgegnete: »Ja, ja, ja! das hab' ich und besitz' ich, und es mag wohl sehr viel sein! aber – da es mein ist, mein Eigentum ist, so absorbiere ich es in mir, und mir ist zu Mut, als hätte ich nie etwas besessen und nichts gehabt. Und finde ich nicht dasjenige, was umgekehrt mich absorbiert, so ist mein Leben ein elendes gewesen.«
Mit solcher Klarheit klopfte die Wahrheit manchmal an mein Herz, ohne imstande zu sein, es in Grund und Boden zu erschüttern. Diese Trauer, die als ein Schatten von Licht der Erkenntnis in meine Seele fiel, währte zuweilen nur Minuten, zuweilen Tage und Wochen. Auch[36] täuschte ich mich manchmal über ihren Ursprung, vergaß, daß sie die verschleierte Klage um Nichtbesitz des Ewigen sei, und wähnte, sie könne dennoch einmal durch Vergängliches beschwichtigt werden. Dann dacht' ich: »Ja, wenn es so oder so wäre! – wenn dies oder jenes einträte! – wenn du das erringen, das durchsetzen könntest! – Hätte ich aber das verlangt, was mir bisweilen so bezaubernd schien, daß ich mit Schmerzen und Tränen danach verlangte, so würde es nicht eines Strohhalms Gewicht in die Schale der innern Befriedigung geworfen haben; – darüber kam ich regelmäßig, bald unter großen Qualen, bald mit gelassener Nüchternheit zur Erkenntnis.
Auch war mein Leben zu voll, zu aktiv, als daß ich mich nicht immer wieder zu frischer Tatkraft angeregt gefühlt hätte; – denn mit dem Reisen, mit dem Verkehr in kleinen und großen Kreisen, und mit meinen Freunden – war es nicht abgetan. Ich schrieb ja! ich war zu meiner Zeit Schriftstellerin und was man nennt »eine berühmte Frau« oder eine »Celebrität«. Ich schrieb und zwar so, wie ich alles tat, was ich tat: aus innerm Drang, um mir selbst zu genügen, um in irgend etwas den Durst meiner Seele nach Vervollkommnung auszusprechen und um ihn in anderen anzuregen. Ich schrieb mit einer Art von Leidenschaft, so daß ich, wenn ich in tiefer Nacht vom Schreibtisch aufstand und zu Bette ging, bisweilen[37] aus meiner Ermüdung ganz schlaftrunken aufjubelte vor Freude, daß ich am andern Tage weiter schreiben könne. Einen solchen Genuß fand ich darin! denn wenn ich schrieb, war ich bedürfnislos! dann fehlte mir nichts, dann bemerkte ich keine Lücke, spürte keinen Mangel, wußte von keiner Sehnsucht, keiner Unruh, verlangte nichts als meine geliebte Arbeit, und traute dem Buch, welches ich gerade unter der Feder hatte, ganz naiv zu, daß es eine große und gute Wirksamkeit in der Welt üben würde. Mit dem letzten Federstrich erlosch mein Interesse für dasselbe; die reife Frucht hatte sich vom Baum abgelöst und ging ihn nun weiter gar nichts an! so wenig an, daß mir die ferneren Schicksale meiner Bücher nicht sehr zu Herzen gingen. Nie las ich sie wieder und höchst ungern sprach ich über sie, wenn man mich durch Fragen oder Lob oder dergleichen dazu veranlaßte. Von all meinen Büchern interessierte mich nie ein anderes als das, welches ich ungeschrieben im Kopfe mit mir umhertrug; denn dabei durfte ich von etwas Vollkommenem träumen. Der Traum hörte unerbittlich auf, sobald die Idee einen Leibe gewonnen hatte.
Obwohl ich meine Bücher nie wieder las, obwohl ich immer das Bewußtsein hatte, noch lange nicht mein bestes getan zu haben, und obwohl alle Rezensenten Deutschlands – mit etwa einer oder[38] zwei Ausnahmen – Chorus machten, um zu versichern, daß sie unbeschreiblich schlecht seien: so hatte ich doch gar keine schlechte Meinung von ihnen. Im Gegenteil! die leitende Idee meines Lebens legte ich auch in ihnen nieder und das war folgende:
Die Bestimmung des Menschen ist: zu innerer Befriedigung zu gelangen. Daher hat er einerseits das Recht, seine Individualität möglichst bestimmt auszuprägen und zur Unabhängigkeit zu entwickeln; daher stammt aber auch andrerseits die Pflicht für ihn, dies innerhalb der Schranken zu tun, welche die gleiche Berechtigung des Nebenmenschen ihm setzt. Wer seine Schranken erkennt und sich innerhalb derselben entwickelt, ist im Gleichgewicht mit seiner Bestimmung, und folglich kann ihm die Befriedigung nicht fehlen, welche auch, ohne äußeres Glück, im eignen Busen für ihn aufgeht, weil sie aus der Harmonie zwischen Sollen und Wollen entspringt. Wer seine Berechtigung aufgibt oder die fremde nicht anerkennt, muß in seinen Bestrebungen scheitern, oftmals ganz untergehen. Ohne Fehl- und Mißgriffe geht es für wenige – ohne heiße Schmerzen für niemand dabei zu; aber sich hindurchzuringen ist der Zweck und die Würde des Lebens.
Diesen allgemeinen Grundzug könnte man gewiß in all meinen Büchern nachweisen; dermaßen hing ich an meiner Idee, von deren Unvollkommenheit[39] ich nicht die leiseste Ahnung hatte, da sie mir gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen war, und ich in ihr lebte und webte. Denn – ich frage: wer sollte dem, der nach diesem Gesetz lebte, die Grenze bestimmen zwischen der eigenen und der fremden Berechtigung. Wenn zwei Menschen sich kaltblütig und berechnend gegenüber stehen, und gelassen die Grenzen zwischen ihren Feldern ziehen, so können sie das ohne Störung und mit gutem Gewissen vollführen. Aber auf dem innern Lebensgebiet, das von den Stürmen und Ungewittern der Leidenschaft beherrscht wird, das unter dem Einfluß der Sünde, der verkehrten Neigungen, der ungeordneten Triebe steht – da ist es eine erstaunliche Beschränktheit, die innere Befriedigung von Selbstbestimmung abhängen zu lassen. Diese Befriedigung wird dann immer nur die Befriedigung der vorherrschenden Neigung oder Leidenschaft sein, sogar dann, wenn das Individuum sich aufopfern sollte. Denn ohne Gotteinigung, ohne gänzliche Hingebung des eigenen Willens an den Willen Gottes, kommt der Mensch nicht zu höherer, zu himmlischer Befriedigung. Schlägt die Wahl zwischen fremden und eigenem Glück dahin aus, daß er – unter hundert Fällen einmal – das fremde vorzieht, so findet der Stolz darin seine Genugtuung, und man betrachtet sich selbst mit großer Ehrfurcht vor solchem erhabenen Wesen; oder man verfällt in zärtliche[40] Schwärmerei für sich selbst und für das Martertum der Entsagung, das man auf sie genommen. Und beides ist gleich verkehrt! Jenes macht hart, schroff und bitter; dieses weichlich und eitel. Aber weil beides dem Ich schmeichelt, so findet das Ich seine Befriedigung darin, und wer das Ich zu seiner Gottheit erhoben hat, kann natürlich keine andere suchen, als dieser Gottheit zu gefallen und zu genügen.
Und dies ist der bessere Fall! der schlimmere und ganz gewöhnliche ist der, daß man das fremde Glück gegen das eigene in den Hintergrund stellt und dafür äußerst gelassen nicht die Entschuldigung, sondern die Erklärung ausspricht: dies sei ganz notwendig für die eigene Entwickelung, für die Entfaltung der Gaben, Anlagen und Fähigkeiten, die Gott uns gegeben und die man nicht dürfe verkümmern lassen. Nun vollends in der Leidenschaft, wo das Ich wie mit Siebenmeilenstiefeln über alle Nachbargrenzen hinwegschreitet – welche unerhörte Verwüstung richtet dann dies Streben nach innerer Befriedigung, abgelöst von demütiger Hingebung an den Willen Gottes, an! Man kommt zu jeder Sünde, zu jedem Verbrechen, ja, was schlimmer ist, nicht etwa zur Beschönigung oder Rechtfertigung derselben – sondern zu ihrer Verklärung. Da diese sogenannte innere Befriedigung darauf ausgeht, das Ich seinen Fähigkeiten gemäß zu entwickeln – und da die Leidenschaft[41] einzelne Fähigkeiten über alle Maßen anspannt, und zwar immer gerade die, welche eine Befriedigung verheißen: so macht man aus der Leidenschaft einen Genius, dem man folgen – eine Inspiration, der man gehorchen müsse; aus dem Tyrannen einen Erlöser. Ich tat es. Wohl kamen mir zuweilen die Bedenklichkeiten, welche der ganz gewöhnliche Menschenverstand aufwirft, in den Sinn: daß es nach diesem Grundsatz schwierig sei, Recht und Unrecht gehörig auseinander zu halten. Aber ich wußte mir zu helfen! man brauchte sich ja nur eine höchst edle, aufrichtige, starke Seele anzuschaffen, die das Schöne über alles liebe, das Gute über alles wolle, und über alles bereit sei, für beides zu leben. Gehen in einer solchen Seele die Flammen der Leidenschaft auf, welche die Grenzen der Kraft so sehr erweitern und die Schranken, welche den Willen so oft einengten, fallen mache: so könne ja unmöglich etwas anderes eintreten, als eine Erhebung und Verklärung des Lebens. Ich vergaß nur das Mittel anzugeben, wie man solche edle, aufrichtige, starke Seelen bilden könne.
Es ist mir unbegreiflich, daß sich auch nur ein Mensch durch ein so unvollkommenes Prinzip hat blenden lassen! denn was ist das für eine schiefe Idee von der Berechtigung des Individuums zu einer möglichst eigentümlichen Entwickelung anderen gegenüber, ohne daß das Recht[42] dieser andern durch ein objektives, unwandelbares Gesetz beschirmt wäre! Damit kommt der Mensch dahin zu leben, wie die heilige Schrift von Ismael sagt: »Seine Hand gegen Alle und Aller Hand gegen ihn;« das heißt, zu der höchsten Entfaltung des Egoismus, der in die tiefste Barbarei stürzt. – Und solche Färbung hat jetzt das Leben der Welt wirklich angenommen, und dazu habe auch ich mein Sandkorn geliefert! Aber werde ich denn die Einzige sein, mein Herr und mein Gott, die zu Dir auf ihren Knien ruft: »Mea culpa! mea maxima culpa!«
Daß ich selbst damals jenes Prinzip aufstellen konnte, ist mir aber gar nicht unbegreiflich, denn mit meinem Charakter aus einem Guß war es mir unmöglich, die Auffassung und die Gestaltung des Lebens nicht in Übereinstimmung zu bringen. Ich lebte wie ich dachte. Ich bedurfte mein eigenes Gesetz und ich machte es mir; ja, ich schrieb es anderen vor, und Konsequenz, gleichviel in welcher Richtung, übt immer einen überwältigenden Einfluß aus.
Personen, die mich damals gekannt und gern gehabt haben oder mich noch lieben, werden vielleicht sagen: »Dies ist aber zu schroff hingestellt, zu scharf gezeichnet! Es war nicht ganz so! Es war etwas Milderndes in diesem Leben, in diesen Büchern!«
O irrt Euch nicht! ich stelle nichts weder zu[43] schroff noch zu scharf hin, sondern ganz nackt! ich gehe nach meiner alten Art bis auf den Grund, und was ich da finde, das bring' ich empor, als treuer Bergmann, unbekümmert, ob es Diamanten oder Kohlen sind – ob es Gold oder geringes Metall ist. Ich bringe getreulich, was ich finde! Schlechtes Gestein aber für Diamanten auszugeben – das vermag ich nicht! – Ich weiß ja auch sehr gut, daß jeder Mensch nicht bloß schlechte Eigenschaften hat, und daß gewisse gute Eigenschaften, wenn sie sich in einer bestimmt ausgeprägten Persönlichkeit finden, ihren Reiz haben – wie das schöne Gewand, welches den unschönen Körper verhüllt. Ich denke ja auch nicht im Entferntesten daran, mich höher oder tiefer, ungünstiger oder vorteilhafter hinstellen zu wollen! Ich will den Gang meiner Seele aufzeichnen, die Wege, die sie wandelte, die Irrtümer, in die sie verfiel, die Mißgriffe, die sie tat, das Streben, das sie nie aufgab – bevor sie zu einer festen Basis durch Gottes Gnade und seine erbarmende Führung gelangte. Da ich diese und mit ihr einen sichern, d.h. einen objektiven Maßstab gewonnen habe: so ist es bei meiner großen Sehnsucht nach Abrundung und Einheit des Charakters gar nicht anders möglich, als daß ich diesen Maßstab zuerst an mich selbst lege, und mich selbst und meine Irrtümer nach ihm beurteile. Ich kann das mit Gelassenheit, weil diese Irrtümre mir gründlich[44] fremd geworden sind und sich von mir abgelöst haben.
Daß ich mich aber geringer hinstellen wollte, als ich von mir denke, um den Oberflächlichen hübsch demütig zu erscheinen – diese Kleinlichkeit traut Ihr mir nicht zu, hoffe ich! Seid also unbesorgt. Ich gedenke, Keinem Unrecht zu tun – auch nicht mir selbst. Und vergeßt nie, ich bitte Euch, daß ich in all jener Verworrenheit und Dämmerung existierte, weil ich in Willkür und von Bruchstücken lebte, welche das Element des Bestehens des Protestantismus sind.
Denn das ist ja das Trostlose an ihm: er hat keine erhabene Sittenlehre, weil er den Glauben verlassen – und keinen Glauben, weil er die Kirche verlassen hat.
Was die Kirche ist, habe ich vorhin gesagt und zwar ganz einfach so, wie der Katechismus es lehrt; und dessen Erklärung vom Glauben eines katholischen Christen heißt: Der Glaube ist eine von Gott verliehene Tugend, durch welche wir alles für wahr halten, was Gott geoffenbart hat und uns durch seine Kirche zu glauben vorstellt. – Mit diesem schlichten, kräftigen, herzstärkenden Glauben ist man auf einmal allem subjektiven Meinen und Wähnen entrückt. Luther war die Inkarnation einer subjektiven Meinung, und da jeder sogenannte Religionsstifter die seine mit dem Gepräge seiner Eigentümlichkeit stempelt –[45] möge er Muhamed oder Luther heißen – so ist der ganze Protestantismus nichts anderes als ein Agglomerat von tausend und abertausend subjektiven Meinungen. Die Anhänger einer und derselben Sekte mögen an ihrer Lehre einstimmig halten; z.B. die Herrnhuter und die Alt-Lutheraner tun es mit großer Entschiedenheit; aber diese zahllose Menge von Sekten spricht eben für meine Behauptung, denn eine jede ist aus einer subjektiven Auffassung, Benutzung und Entstellung der christlichen Lehre entstanden. Unter der gemeinsamen Bezeichnung Protestantismus fasse ich jene Geistesrichtung zusammen, die in Luther ihren Vorfechter fand, unter seinem Panier gegen die Kirche protestierte und die heilige Schrift allein zum Quell der Glaubenslehre machten. Ich weiß wohl, daß die Calviner sagen, sie hätten ganz andere Dogmen, als die Lutherischen; und die Evangelischen auch; desgleichen die Anglikaner, die Presbyterianer, die Wesleyaner, die Unitarier, die Mennoniten, die Herrnhuter, die Anabaptisten, die Irvingianer; und hundert andere. Der Kirche und ihrem Dogma gegenüber ist es gleichgültig, wie die verschiedenen Sekten sich nennen, worin sie von einander abweichen, ob ihre Mitglieder nach Hunderten oder nach Millionen gezählt werden. Die traurige und ewig beklagenswerte Gewißheit des Abfalls stellt sie alle auf einen Platz, und daß sie so sehr verschiedene Lehren – aber[46] alle auf die heilige Schrift gegründet – haben, beweist eben die beängstigende Verwirrung, in welche die Geister verfallen, wenn sie aus dem Verband der Kirche treten, die Tradition verwerfen und, statt in der Autorität der Kirche die Bürgschaft der göttlichen Ordnung anzuerkennen, welche der heilige Geist in ihr aufrecht hält – sich gegen sie empören, weil sie in die Tyrannei ihrer Leidenschaften sich verwickelt haben. O die Anhänger und Nachfolger dieser Sektenstifter, welche zum Teil Reformatoren genannt werden, sind ja über jeden Ausdruck zu beklagen, daß sie, weil ihre Väter sich betören ließen, seit dreihundert Jahren in ihrem Abfall fortleben. Gewohnheit, Erziehung, Familienüberlieferung, Lauheit, vollkommene Gleichgültigkeit oder feste Überzeugung verhindern sie, darüber zur Erkenntnis zu kommen. Aber ich! o ich möchte blutige Tränen weinen, wenn ich bedenke, daß sie mehr Gewicht auf das Wort des abgefallenen Mönches von Wittenberg, oder des brutalen Priesters von Zürich, oder des bluttriefenden Blaubart-Königs von England – als auf das des Herrn Jesus Christus legen. Der hat zu Petrus gesprochen: »Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Und dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben. – Weide meine Heerde.« – In der ganzen heiligen Schrift gibt es kaum einen[47] Ausspruch, der schwieriger zu mißdeuten wäre, als gerade dieser. Er legt so einfach, so praktisch möchte ich sagen, den Grundstein zu der neuen Ordnung der Welt, welche eines Mittelpunktes bedurfte, um eben eine Ordnung zu werden; – um dies heilige Gesetz der Ordnung, welches durch die ganze sinnliche und sittliche Schöpfung gebieterisch geht, auch im übersinnlichen Gebiet zu wahren, wo so schnell, ohne dasselbe, Verwilderung und Verflachung eintreten. Aber freilich! Wo Ordnung ist, muß auch Unterordnung stattfinden! Da ist das Planetensystem: seine Sterne kreisen um eine Sonne. Da zieht die Schar der Kraniche nach dem Süden: Einer fliegt an ihrer Spitze. Das ist die Familie: Einer hat für sie zu sorgen. Da ist ein Kriegsheer: Einer befiehlt den Tausenden. Da sind die Staaten: in einer Hand liegt ihre Führung. Was Dauer haben – was ein fernes Ziel erreichen – was große Siege erkämpfen – was den Menschen als Individuum beglücken – was ihm als Gesamtheit Würde und Tüchtigkeit geben soll – alles, alles! – das Bewußtlose wie das Selbstbewußte – ist an dies heilige Gesetz der Ordnung und der Unterordnung gebunden. Nehmt es hinweg aus der Welt – und die Lebenskräfte verschwenden sich in nutzloser Gährung oder ersterben in Erschöpfung; der Einzelne verfällt einer Arbeit der Danaiden, das Ganze verfällt dem Chaos. Und dies heilige Gesetz[48] sollte gerade da, wo es zur erhabensten Geltung kommen mußte – sollte auf die Kir che nicht anwendbar sein? Hat Christus ihr etwa nicht Dauer geben wollen? warum verhieß er ihr denn, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen würden? – oder hat er ihr kein hohes Ziel gegeben? aber sie sollte ja den Menschen zur ewigen Seligkeit führen! – Oder war sie nicht dazu bestimmt, große Siege zu erkämpfen? aber ihr Weg ging ja aus den Katakomben Roms zur Herrschaft über den Erdkreis! – oder wären ihr nicht die Mittel verliehen, den Menschen zu beglücken und die Menschheit zu bilden? aber nur in ihr und durch sie gibt es wahres Glück und wahre Bildung. Christus gab ihr eine ewige Bestimmung, und daher ruhte sie auf dem ewigen Gesetz der Ordnung, welches nur dem Sklavensinn in Empörung als ein unerträgliches Joch erscheint. Ja, Sklavensinn! Derjenige, dessen Wille in Liebe Eins ist mit dem großen, heiligen Willen Gottes – ist Kind des Hauses, ist frei durch freien, selbstgewählten, geliebten Ghorsam. Wer sich zu dieser Freiheit nicht zu erheben vermag – wer sich bedrückt fühlt, weil er nicht zügellos sein darf, der erniedrigt sich zum Sklaven und seine von rohen Leidenschaften geknechtete Seele vermag nicht zu lieben. Ein solcher Sklav des Eigenwillens war Luther; darum sagte er sich los von der heiligen Ordnung der christlichen Kirche. Somit[49] hat er sich selbst gerichtet; kein Kind des Hauses ist er geblieben, kein Isaak, auf dem die Verheißung ruht! ein Ismael ist er geworden, der Tausende sich nachgerissen hat in die große Wüste!
Wie ist es möglich, dies Ereignis mit seinen unsäglich traurigen Folgen anders zu betrachten, als eine furchtbare Strafe für die Sünden der Menschheit, die sich in allen ihren Gliedern als angefressen vom Gift der Gottentfremdung zeigte. Deren höchste Spitze war die s. g. Reformation. Im vierzehnten Jahrhundert lebte der große, fromme, energische Geist des früheren Mittelalters nicht mehr. Die innere Erschlaffung war da, ehe sie äußerlich zum Vorschein kam. Es war, als hätte ein Jüngling nach herrlichen Siegestaten beim Festmahl zu lange sich aufgehalten, um nicht von dessen Genüssen betäubt und matt zu werden. Es ging hoch her beim Fest; aber ihm selbst ging allmählich das intensive, schwungvolle Leben aus. Der begeisternde Ruf zum heiligen Grabe war verhallt; das ritterliche Element des Kampfes fand keinen erhabenen Spielraum mehr, und kehrte sich in Streit und Fehden selbstvernichtend wider sich selbst. Die Ritterorden, herrliche Blüten des Gefühls für Ehre und Opfer, wunderbar einzige Verschmelzung der größten Tatkraft und der höchsten Entsagung – strahlten nicht mehr im ungetrübten Glanz, der früher diese behelmten[50] Mönche umfloß. Der päpstliche Stuhl erlitt durch trostlose politische Einflüsse die tiefsten Demütigungen, sah Päpste und Gegenpäpste, hier in Rom, dort in Avignon, erfuhr beschimpfende Schirmherrschaft von Seiten Frankreichs, beschimpfenden Abfall der eigenen Staaten, beschimpfende Zerwürfnisse der Päpste und ihrer Anhänger und Parteien. Krieg, Flucht, Bannstrahlen, Verlegung des Sitzes des Oberhauptes der Christenheit nach Frankreich – brachten Zerrüttung und Unruhe in die äußeren und weltlichen Verhältnisse der Kirche, unter denen auch die inneren und geistlichen litten, indem der klägliche Anblick der Gegenpäpste und des verödeten Roms, der Stadt der großen Apostel, dem heiligen Stuhl seine majestätische Würde der Einheit raubte und die Christenheit in Sorge, Ungewißheit und Schmerz stürzte. Eine gelockerte Disziplin des Klerus war die natürliche Folge des jammervollen Zwiespaltes, den die Fürsten nach besten Kräften für naheliegende weltliche Vorteile ausbeuteten, ohne an die ferner liegenden Nachteile zu denken, welche aus der Herabsetzung und Schwächung des Ansehens der Kirche, für die ewigen Interessen, für die sittliche und religiöse Bildung der Völker erwachsen mußten. Denn die Kirche war das Fundament aller bestehenden Verhältnisse, welche sich nach ihrer Lehre und ihrem Schutz gebildet hatten; war das Prinzip der Ordnung[51] und Erhaltung in ihnen, indem sie alle diese Verhältnisse durch ihren erhabenen Gesichtspunkt, als von Gott ausgehend, sanktionierte und ihnen Würde, Weihe und Dauer gab; und war zugleich das Prinzip des Lebens und der Bewegung, indem sie Einen gegen Alle und wiederum alle gegen Einen schützte und ein festes Bolwerk gegen despotische Fürstengewalt abgab. Diese letztere Richtung mißfiel Denjenigen ganz besonders, welche nur darauf bedacht waren, auf Kosten der Völker ihre eigene Macht materiel zu vergrößern, und sie benutzten dazu die Zerrüttung des Papsttums im vierzehnten Jahrhundert. Die Anarchie, in welche die Hierarchie verfiel, hatte die traurigste Rückwirkung auf die Sitten; und da mit deren Verfall der des Glaubens stets verschwistert ist, so bewährte es sich auch hier: Ketzereien bildeten sich aus oder entstanden neu; Wiklef, Huß und pantheistisch-mystische Lehrer und Sekten bezeugten eine Erschlaffung im Glaubensleben der Kirche – eine traurige Erbschaft, welches das fünfzehnte Jahrhundert vom vierzehnten anzutreten hatte. Neuer Gährungsstoff kam hinzu durch den Geist der Renaissance, der griechischen Kultur, die vor dem Islam aus Byzanz nach Italien floh, dort mit offenen Armen empfangen ward und ein ganz heidnisches Element in die Sitten, Wissenschaften, Künste, Bildungsgänge, Geistesströmungen und Auffassungen des Lebens[52] brachte. Götter und Göttinnen, Fabel und Mythologie, Philosophie und abstrakte Spekulation wurde aus diesen feinen und spitzfindigen griechischen Köpfen in Italiens Boden verpflanzt, der warm und treibend genug war, um sie in üppiger Übertreibung aufschießen zu lassen und eine glänzende Heidenwelt im Schoß des Sitzes des Christentums, in Rom selbst zu erzeugen. Die Kunst, die Literatur und die Poesie legen mehr oder minder glänzende Zeugnisse für dieses heidnische Element ab. Die Kirche trat ihm nicht entgegen mit dem Ernst und der Entschlossenheit, welche sich einer so profanen Vermischung gegenüber geziemt hätte. Weltlich und irdisch gesinnte Kirchenfürsten hatten ihre Lust an diesem weichlichen, üppigen, spielerischen Geist, der das Dasein auf der Oberfläche in bunten Farben schillern ließ – wie den Leib der Schlange. Aber Strenge und Ernst und Zucht versanken in die Tiefe wie heilige Sterne neben diesen Meteoren und Irrlichtern, welche die Geister bezauberten und verführten.
Eine Reaktion gegen diese Meteore, wie gegen die Mißbräuche, die Skandale, die Zerrüttung der kirchlichen und geistlichen Verhältnisse, welche von ihrer Treibhaushitze und ihrem stechenden Licht ausgebrütet wurden – war unvermeidlich in der Kirche, und hat sich sowohl in dem Konzil von Trient als in dem außerordentlichen Aufschwung des kirchlichen Lebens in der letzten Hälfte des[53] sechzehnten Jahrhunderts glänzend bewährt. Daß aber die falsche Reaktion der sogenannten Reformatoren einen so bedeutenden Teil der ewig blinden Völker aus dem Schoß der Kirche herausschleudern konnte, ist eine ewig blutende Wunde in ihrem Herzen, die sich nur mit dem Rücktritt des letzten Häretikers schließen würde. Diese Empörung gegen die heilige Autorität der Kirche war allmählich durch die zwei vorhergehenden Jahrhunderte vorbereitet worden; die Fürsten lechzten nach dem Absolutismus und der in Weltlust abgestorbene Teil des Klerus faßte den Zusammenhang mit und die Unterwerfung unter Rom nur als ein lästiges Joch – nicht als eine große religiöse Macht und innere Notwendigkeit zur Erhaltung des wahren Glaubens auf. Der religiöse Abfall war nur eine Folge des moralischen – und die politische Zerrüttung folgte der religiösen. Deutschlands letzte drei Jahrhunderte sind die traurigsten, seitdem sich die germanischen Wälder gelichtet haben! Haß, Neid, Grimm, Eifersucht wurden die Triebfedern des allgemeinen Lebens, bewegten die abgefallnen Fürsten gegen den katholischen Kaiser, bewegten sie gegen einander und gegen ihre Völker, bewegten die verschiedenen Konfessionen – und fanden ihren höchsten Ausdruck im dreißigjährigen Kriege, der wilder, blutiger, fanatischer und grausamer war, als die Religionskriege, welche kurz[54] zuvor oder zur nämlichen Zeit Frankreich, die Niederlande und England zerfleischten; und der die unheilvolle Spaltung Deutschlands durch den überwiegenden Einfluß fremder Mächte nur vermehrte und Deutschlands politische Entwickelung paralysierte. Nur die gemeinsame Religion ist ein dauerhaftes Band zwischen den Menschen. Die übereinstimmend Glaubenden haben im Großen und Ganzen auch einen gleichen Willen. Trennung in den heiligsten Angelegenheiten und den höchsten Interessen bewirkt Mißtrauen in allen irdischen Verhältnissen. Die Katholiken sahen die Kleinodien ihres Glaubens geschmäht, verworfen und mit Füßen getreten von den Abgefallnen; und diese wähnten, eine Anerkennung beanspruchen zu dürfen, welche die Kirche der Häresie nicht gewähren darf. Folglich konnten katholische Untertanen nicht ohne Mißtrauen auf ihre protestantischen Fürsten blicken, und protestantische wuchsen in der tiefsten Verachtung gegen die Götzendienerei und den papistischen Unsinn ihrer katholischen Fürsten auf. Die Fürsten wußten sich zu helfen gegen das Mißtrauen, welches auch sie empfanden: die stehenden Heere kamen allgemein in Aufnahme, diese kräftigste Stütze des Absolutismus, welche das freie Mittelalter weder gekannt noch gebraucht hatte. Die Völker aber waren fortan hilflos, schutzlos, der Willkür preisgegeben, weil sich der ganze Schwerpunkt des politischen Lebens[55] in den auf Bajonette gestützten Kabinetten Europas sammelte.1 Die Kirche zeigte sich groß wie vielleicht nie zuvor; groß in ihren Päpsten, groß in ihren neuen Orden, welche das katholische Dogma nach fremden Weltteilen brachten und fremden Völkern das Heil zutrugen, welches in Europa von Millionen verschmäht wurde; groß in ihren Heiligen, welche der wüsten Bande der Reformatoren gegenüber ein lichtes Heer bildeten, das mit den himmlischen Waffen des reinen Glaubens für die Liebe und für das Heil der Seelen kämpfte: groß in ihren Geistesmännern, welche in Wort und Schrift, von der Kanzel, in Büchern und im Leben das tiefsinnige, majestätische Reich der Gedanken auf dem Fundament der Offenbarung erbauten; groß in jener Größe, welche dem Himmel um so näher bringt, je weniger irdischer Prunk in ihrem Gefolge ist. Denn neben dem Absolutismus der Fürsten war ihr weltlicher Einfluß nur gering und schwand gänzlich, als jener im achtzehnten Jahrhundert seinen[56] Kulminationspunkt erreichte. Doch scheint er von demselben durch harte Erfahrungen herabgestürzt zu sein; aber die Mißgriffe und Irrtümer von drei Jahrhunderten sind ein fressender Krebsschaden im geistigen und sittlichen Leben der ganzen Menschheit geworden, welcher nur durch göttliche Barmherzigkeit und himmlische Weisheit allmählich geheilt werden kann. Und nirgends schwerer als in Deutschland, weil es nicht, wie England und Frankreich, nationale und politische Einheit an die Stelle der religiösen zu bringen gewußt hat; und weil der unpraktische, phantasielose, grüblerische Geist, der sich seit drei Jahrhunderten in unsere Bildung gedrängt hat, am schwersten zu einer Gemeinsamkeit sich zusammen zu fassen weiß. Von der kritischen und negierenden Richtung, die der Protestantismus ihm gegeben, noch immer zehrend, hält er die ewige Negation für das Wesen der Wahrheit, weil sie die Wahrheit kritisiert – und keine Richtung steht ihrer Erkenntnis feindlicher gegenüber als dies Produkt der Reformation, welche, den Glauben und die Kirche in Frage stellend, Tor und Tür geöffnet hat, um jede Autorität, jedes Gesetz, jedes Ansehen, ja jede Existenz, wie sie durch Familie und Eigentum begründet ist, in Frage zu ziehen. Der Anführer dieser Richtung war Luther. Wie muß die Sittenlehre beschaffen sein, die aus einem Glauben entspringt, welchen der bis zum Haß gesteigerte Geist[57] des Widerspruchs geboren hat? Ja, kann überhaupt eine Sittenlehre auf dem Boden gedeihen, der keine höhere Blüte trieb, als den Ausspruch: »Der Glaube allein macht selig.« Aber die göttliche Liebe war nun einmal tot in seiner Seele. Der apostasierte Mönch mußte sich wohl eingestehen, daß die göttliche Liebe aus seiner Seele gewichen sei, daß er wie Esau sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht hingegeben habe. Wie jemand, der sich über den selbstverschuldeten Verlust eines Diamanten damit zu trösten sucht, daß er spricht: Er war nicht echt! – so tröstete sich Luther damit, daß er die Liebe und ihre Werke für papistische Erfindungen erklärte und sie schnöde verwarf. So erfand er denn den Spruch, daß der Glaube allein selig mache, nicht nur ohne Werke der Liebe, sondern auch sogar dann, wenn man in den größten Sünden verharre. Wer erinnert sich hier nicht mit Widerwillen seines berüchtigten Satzes: »Sei ein Sünder und sündige tüchtig« – der im Munde eines Religionsstifters mindestens sehr beängstigend klingt. – Diese Grundsätze aber, nicht bloß obenhin ausgesprochen, sondern zum Grundprinzip der neuen Lehre erhoben, wie tötlich mußten sie alles höhere sittliche Leben, das ja eben in der heiligen Liebe bestehet, treffen, wie mußten sie die Seelen jenen finsteren Gewalten der Selbstsucht und Begierlichkeit überantworten, die nur in Kraft jener Liebe[58] überwunden werden können. Und diese Liebe hat Luther proskribiert und seinen »Glauben allein« an die Stelle gesetzt. Dieser Glaube, der sein Leben nicht heiligte, der in keinem Werk der Liebe sich betätigte, der ihn in Haß gegen die Kirche, in Grimm gegen andersdenkende Reformatoren stürzte, der keinen Zusammenhang in das Menschenleben brachte, weil er ohne Einfluß auf dessen irdische Richtung blieb: war ihm ein Deus ex machina, der ihn aus dem Grabe in die ewige Seligkeit versetzte, weil der Heiland sein Blut zur Genugtuung für alle Sünden am Kreuz vergossen. – Das Gleichnis ist unvollkommen, vielleicht sogar manchen anstößig, aber es fällt mir doch immer ein: Ist das ein guter Soldat, der sich während der Schlacht zur Markedenterin hält, aber nach derselben auf ein Ehrenkreuz rechnet, behauptend, er habe immer gewußt, daß der glorreiche Feldherr siegen werde – und deshalb verdiene er eine Belohnung? – O armer elender Soldat! bleibst Du in der Schlacht des Lebens bei dem Liede und der Flasche der Markedenterin sitzen, so bekommst Du kein Ehrenkreuz, ob auch Dein Feldherr siege und sterbe! Bist Du begeistert für Deinen Feldherrn – warum denn eiferst Du ihn nicht nach? warum denn verspritzest Du nicht Dein Blut? warum denn hast Du keine ehrenvolle Wunde aufzuweisen? Niemals werde ich glauben, daß Du Verehrung und Vertrauen[59] zu Deinem glorreichen Feldherrn hast, wenn Du seinen Ruf: »Folget mir nach,« überhörst und, während Deine Kameraden tapfer kämpfen, mit der Markedenterin Dich unterhältst. Nein! in alle Ewigkeit glaub' ich das nicht! Und kann es überhaupt irgend jemand glauben? In der Verfinsterung der Selbstsucht, in der Verblendung der Leidenschaft, – ja, dann können wir so handeln, und weil wir so handeln, uns zu überreden suchen, wir täten recht. Aber was ist das für eine fürchterliche Lehre, welche so bereitwillig den niederen Trieben des Menschen entgegenkommt? Die ganze erhabene Sittenlehre des Heilands, die er durch Wort und Beispiel gab, von der jedes Blatt der heiligen Schrift zeugt, die an jeden Einzelnen den Ruf zur Nachfolge richtet, an der sich das Liebesleben der Kirche entzündet – wird durch den Ausspruch: »Der Glaube allein macht selig« über den Haufen geworfen. Eine Sittenlehre, welche seit anderthalb Jahrtausenden den Himmel mit Heiligen bevölkert, und der Erde die schönsten Beispiele von Liebe und Kraft und Größe gegeben hatte, sollte urplötzlich ihren heilsamen Einfluß auf die sittliche Bildung des Menschengeschlechtes verloren haben, weil ein Augustinermönch für gut fand, ein Weib zu nehmen? Und ein neues Sittengesetz sollte auf jenen Spruch begründet werden, der, willkürlich aus Tausenden herausgerissen, abgetrennt und einsam hingestellt[60] – mit der ganzen heiligen Schrift im Widerspruch ist, selbst dann, wenn das Wort »allein« keine lutherische Erfindung wäre.
Das versteht sich: durch den Glauben, den die zuvorkommende Gnade in uns wirkt, erfassen wir die Erlösung – dies ist katholisch gesprochen. Erfaßt uns die Erlösung – müssen die Lutherischen sagen, da Luther ihnen den freien Willen zur Mitwirkung bei göttlichen Dingen gestrichen hat. Ohne freien Willen gibt es kein hohes Streben, keinen beharrlichen Kampf für das Gute, keine Wahl zwischen Sünde und Tugend, keine Erhebung über niedrige Begierden, keine Überwindung der untergeordneten Natur – mit einem Wort: keine Heiligung! und Luther verwarf sie ganz folgerichtig. Die Liebe ist die Blüte des freien Willens – ist der reine, geläuterte, gottinnige Wille des erlösten Menschen, mit dem er standhaft und rastlos an seiner Heiligung arbeitet, an der Herstellung des Ebenbildes Gottes in ihm – weil er Dem ähnlich werden möchte, den er liebt – und weil er Den liebt, der die Vollkommenheit selbst ist, und Der ihn aufgefordert hat vollkommen zu werden – heilig zu werden. Der Glaube ist eine goldene Krone, welche aber nur dann ein Zeichen triumphierender Herrschaft ist, wenn der Diamant der Liebe sie verklärt. Der Glaube legt seinen Strahlenkranz um das Haupt des Menschen; aber ach! mancher andere strahlende[61] Kranz hat schon manches Haupt geschmückt! Die Liebe legt den ihren um das Herz, und das Herz ist die Wiege und der Thron des Willens, wodurch er zur Vereinigung mit Gott emporgehoben wird, sobald das Herz von dem Glanz und dem Feuer der Liebe ergriffen ist. Diese Liebe hat die großen Heiligen erzeugt, unsre Vorkämpfer, unsre Vorbilder – die Luther unbarmherzig den Seinen raubte, weil in seiner Religion weder Liebe noch Heiligung Platz fanden. Was ist das aber für eine fürchterliche Religion, welche dem Menschen Ideale nimmt, statt sie vor ihm aufzustellen? Ohnehin ist er so lau und kurzatmig – oder so selbstzufrieden, daß er gar leicht zu sich selbst spricht: »Das Ziel ist zu hoch für mich;« oder: »Ich bin schon am Ziel.« Wie wohltätig wird seine Trägheit angeregt, wenn mächtige Stimmen unablässig ihm zurufen: »Wir sind gewesen, was Du bist! sammle Dich in Deinem gekräftigten und geläuterten Willen, so wird die Gnade Dir nicht fehlen, und mit ihr kannst Du werden, was wir sind.« – Und wie heilsam ist es der Selbstzufriedenheit hören zu müssen; »Du wähnst am Ziel zu sein? o arme Törin! siehst Du denn nicht, daß Du da aufhören möchtest, wo wir angefangen haben?« – All diese Ermahnungen, diese Aufforderungen, diese Herzstärkungen, die so in Übereinstimmung mit dem Bedürfnis des schwachen – mit der Sehnsucht des strebenden[62] Menschen sind – die seine Natur so erbarmend berücksichtigen, so durch und durch sie erfassen, so liebend ihr vorwärts helfen – das heilige Ideal der Gottähnlichkeit, nach welchem der liebende Wille streben müsse, weil dies Bestreben der Zweck des Menschenlebens ist – hat Luther vernichtet, als er das Wort Christi verwarf: »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!« und ich sollte nicht blutige Tränen weinen, daß fast alle, mit denen ich durch die Bande des Bluts und der Freundschaft verbunden bin, irregeführt ohne es zu wissen, in dem Tal voll Schatten des Todes sitzen und den Weg zur Höhe nicht finden, weil er ihre Kraft gebrochen und ihnen gesagt hat: »Es gebricht Euch der freie Wille! Ihr vermöcht weder den Weg zu suchen, noch auf ihm zu wandeln; aber gerechtfertigt und selig werdet Ihr doch: hanget nur an Christi Verdienst allein.«
Was hat denn der Mensch in dieser Irdischkeit, wenn er kein erhabenes Streben hat – Staub! und wie kann er ein erhabenes Streben haben, wenn seine Religion ihm predigt, er sei dessen unfähig? Wer dem Menschen seinen freien Willen abspricht, der schleudert ihn in die Arme des bösen Willens, denn dahin kommt man ohne die Kraft anzustrengen, und moralische Erschlaffung ist die nächste Folge jener verderblichen Lehre.
Vielleicht antwortet mir einer von Euch: »Ich[63] glaube aber an den freien Willen des Menschen.« Ach, dann sollt' ich keine blutige Tränen um Dich weinen – meinst Du? Der freie Wille, wenn er nicht in der Richtung und nach dem Ziel und mit den Bedingungen geübt wird, welche die katholische Glaubenslehre ihm anweist – ist Willkür, und ich will freilich wohl glauben, daß Du in ihr lebst, daß viele, viele Tausende in ihr leben, grade so wie ich in ihr gelebt habe. Im Ganzen glaube ich, daß sehr wenig Protestanten – die orthodoxen Lutherischen ausgenommen – sich für Luthers Lehre lebhaft interessieren oder eine Kenntnis derselben haben. Es ist auch schwer genug, weil er nicht bloß Widersprüche, sondern allmählich teils Modifikation, teils noch schroffere Begrenzungen in sie hinein brachte, als es ursprünglich seine Absicht mochte gewesen sein. Übrigens muß es für den Protestanten auch gleichgültig sein, was Luther, Calvin, Zwingli und wie sie alle heißen! lehren; da er sich im Besitz seiner Bibel für ebenso erleuchtet halten darf, als die Reformatoren sich hielten. Ich denke, dem armen Luther muß schlecht zu Mut gewesen sein, als er sah, welche reißende Fortschritte dasjenige allgemeine Priestertum machte, mit welchem er die erstaunte Menschheit beschenkte. Die Kirche lehrt das allgemeine Priestertum insofern, als jeder Christ in jedem Augenblick seines Lebens und ganz besonders während des heiligen Meßopfers[64] sein Herz im Glauben und Liebe Gott zu opfern habe. Dazu gehört aber wesentlich der freie Wille, ohne den ein Opfer unmöglich ist. Dieses verschwindet mit jenem, und mit dem Opfer auch das wahre Priestertum. Luthers Vorstellung von demselben war immer die individuelle Erleuchtung durch den heiligen Geist. Daher begreift man nicht, wie er auf den Einfall kommen könne zu klagen, daß »statt des Evangelii und seiner Auslegung wiederum von blauen Enten gepredigt wird;« – da er doch auf Enten von allen Farben hätte gefaßt sein sollen. Diese nun predigen unzählige Protestanten – teils anderen von Kanzel und Katheder, teils sich selbst, ganz eifrig.
Katheder und Kanzel hatte ich nicht; wohl aber meine Bücher, in denen Luther gewiß ganze Scharen von blauen Enten meiner subjektiven Meinung und Deutung entdeckt haben würde. Da diese auf dem Glaubensgebiet mir gestattet war, so übertrug ich sie auch auf alle anderen Gebiete, und fand es unbegreiflich, weshalb ich vor einer fremden Meinung mehr Respekt haben solle, als vor meiner eigenen. Ich gönnte jedem die seine; aber die meine unterzuordnen fiel mir nie ein – es sei denn in der Praxis des Lebens, durch Liebe bestimmt. – Keine Wissenschaft, keine Gelehrsamkeit, keine Intelligenz imponierte mir. Wußten diese klugen und gelehrten Leute von der ewigen[65] Wahrheit mehr als ich? Nein. Nun warum sollte ich sie denn so sehr bewundern um der vergänglichen Systeme willen, die sie etwa aufgestellt hatten? So viel gelernt und studiert wie sie, hatte ich freilich nicht; aber dafür viel mehr gesehen und vielleicht ebensoviel gedacht und mehr gesucht! Religiöse Überzeugungen habe ich nie von Protestanten aussprechen hören, welche mein Herz auch nur berührt, geschweige erwärmt hätten. Ob Orthodoxe, ob Rationalisten, ob Pietisten – ich hatte kein Verständnis für ihre Sprache; und so lebhaft ich zuweilen wünschte, einer Glaubensgemeinschaft anzugehören, so gänzlichst unmöglich war es mir, mich irgend einer anzuschließen. Ich blieb vereinzelt und fühlte das zu Zeiten mit einem schneidenden Schmerz.
Überhaupt stand ich mit meinem ganzen geistigen Streben vereinzelt da; ich hatte keine Gesinnungsgenossen. Freunde hatte ich, Leser – o ja! Aber schöpferisch tätige Genossen auf dem geistigen Gebiet hatte ich nicht. Die literarische Gemeinschaft, welche die Journalistik, wie sie damals in Deutschland getrieben wurde, gewährt, mißfiel mir über alle Maßen, weil diese prinzipienlos war und nichts im Auge hatte, als für Tagesinteressen zu arbeiten und ein paar Taler zu gewinnen. Sowohl in den belletristischen als in den kritischen Zeitschriften fehlte jener Hauch des Lebens, der sie als die Organe großer, dauernder,[66] ewig wirksamer Ideen hingestellt hätte – wie z.B. die »Historisch-politischen Blätter« sind, welche ich damals nicht kannte; oder Quarterly und Edinburgh-Review in England. Eine tüchtige und edle literarische Gemeinschaft kann sich nur um große Ideen bilden, weil nur diese das geistige Streben nähren, adeln und beflügeln, und weil durch die Hingebung an sie Rivalität und kleinliche Eifersüchteleien getötet werden, welche jedes frische, unbefangene Zusammenwirken unmöglich machen. Natürlich ergingen vielfache Aufforderungen an mich für diese, für jene Zeitschrift zu arbeiten. Dankend lehnte ich sie alle ab, alle, ohne Ausnahme, so daß ich nie eine Zeile für irgend ein Journal geschrieben habe. Das nahmen denn die Herren Redakteurs oder Herausgeber meistens sehr übel, als ob darin eine persönliche Beleidigung liege; und es machte mir oft viel Spaß, eine grimmige Rezension eines meiner Bücher in demselben Journal zu finden, daß mich kurz vorher als Mitarbeiterin gewünscht hatte. Wäre ein einziges mit einer großen leitenden Idee vor mich hingetreten, so würde es mich vermutlich gewonnen haben; denn auch auf diesem Gebiet empfand ich zu Zeiten schmerzlich meine Einsamkeit. Aber es war und blieb gerade so wie mit der kirchlichen Gemeinschaft: konnte ich nicht mit meinem ganzen Wesen, mit heiligster Überzeugung, mit tiefster Hingebung mich anschließen:[67] so wollt' ich lieber allein bleiben; und diese Bedingungen standen natürlich gänzlichst außerhalb des Horizontes der damaligen deutschen Journalistik, deren erstaunliche Oberflächlichkeit einen traurigen Beleg für die Hohlheit der allgemeinen Bildung des großen Publikums in Deutschland lieferte – besonders wenn man sie mit der englischen und französischen verglich.
Übrigens konnte meine Vereinzelung mich damals nur auf Augenblicke niedergeschlagen machen. Ich fand einen großen Genuß darin, auf eigenen Füßen zu stehen, auf eigene Hand meinen Weg zu gehen, und nicht durch die Journalistik, sondern trotz derselben, meine Bücher gelesen zu machen. Alles war mir willkommen, woraus ich ersah, daß ich könne. Der Kampf war mir immer ein Genuß – zuweilen ein herber; aber ich nahm ihn stets tapfer an. Bei meiner falschen Vorstellung von dem fast unbegrenzten Selbstbestimmungsrechte des Individuums hatte ich denn doch wenigstens die ganz richtige, daß ein Mensch, der ihr gemäß lebe, mehr oder minder isoliert sein müsse. Wer mit der großen Herde auf die Weide geht, sich vom Schäfer hüten, vom Hunde jagen, vom Leithammel führen läßt, gibt seine Selbstständigkeit für eine Gemeinschaft auf, in der keine Befriedigung möglich ist, weil nur äußerliche Bande der Gewohnheit, der Menschenfurcht, des Hergebrachten, der[68] Eitelkeit, sie zusammenhalten; – diese Bande haben über dich zu wenig Gewalt, um dich einzufangen: so mußt du denn seitab von der großen Herde leben und nie vergessen, daß du selbst dich nicht in sie einreihen willst – sprach ich oft zu mir selbst.
Dies betraf aber alles mehr meine Denkweise und mein geistiges Leben, als das gesellschaftliche. Das war ungefähr ebenso wie das von aller Welt; – ja, es muß so gewesen sein, denn ich konnte sehr gut mit den Menschen leben und fertig werden. Sie interessierten mich sehr – besonders so lange als ich sie nicht sehr genau kannte. Kannte ich sie und war kein ernsteres, freundschaftliches Interesse wach geworden, so wurden sie mir beträchtlich gleichgültiger. Auf die Innerlichkeit ging ich immer aus; die Seelen wollt' ich wissen! was sie gehört und gesehen, war mir vollkommen einerlei – was sie dabei gedacht oder empfunden – sehr wichtig; dermaßen wichtig, daß ich ganz dankerfüllt war, wenn jemand mit mir von Innen heraus sprach. Aber leider sind die Menschen so wenig daran gewöhnt, daß sie es selten tun! Dann war mir – ach, wie oft! – zu Mut, als müsse ich sie in die Hand nehmen und schütteln, damit die Phrasen von ihnen abfielen und wir zur Innerlichkeit gelangten. Wie mit einer unsichtbaren Wünschelruthe ging ich durch die Welt, um durch sie Wasserquellen oder[69] Gold zu finden; und ich darf sagen, daß sich daran gar liebe Erinnerungen knüpfen.
Dies immense Interesse für den innern Menschen beseelte mich immer, wenn ich schrieb, und es macht mich tief traurig zu denken, daß ich trotz dessen nicht wohltätig habe wirken können, weil mir der feste Ausgangs- und Endpunkt fehlte: der positive Glaube, das positive Sittengesetz. Davon stand aber nichts in den grimmigen Kritiken, die gegen mich zu Felde zogen! die fanden mich nur zu aristokratisch oder warfen mir vor, daß in meinen Romanen die Charaktere der Männer nicht erhaben genug wären – was ich meinerseits lächerlich fand. Vielleicht sind sie in den letzten Jahren anders geworden! ich las sie nur in den ersten, als ich noch harmlos wähnte, man könne durch die Kritik etwas lernen. Und gewiß kann man es! nur muß sie von einer klaren und feinen Intelligenz ausgehen, und eine solche hat sich nie meiner angenommen. Übrigens ist es fraglich, ob sie damals Einfluß auf mich gehabt hätte – oder eigentlich nicht fraglich, denn so wie ich mich kenne, muß ich Nein sagen. Keine Intelligenz der Welt hätte mich von meinem Marmorsockel herunter werfen können, auf dem ich stand wie eine Statue so fest. Das war allein der Gnade Gottes vorbehalten. – Nun, jetzt sind meine Bücher in dem großen antediluvanischen Abgrund untergegangen, welcher sich 1848 aufgetan[70] und ganz andere Leute verschlungen hat, als »Faustine« und »Sibylle!« und Romane und Reisen zu schreiben ist nicht länger meine Vocation. Nicht länger bin ich zu Hause auf deren Gebiet, und oft muß ich an die Arethusa denken, die in Griechenland verschwand und unter dem Meere fortzog, um in Sizilien wieder aufzutauchen, in dem schönen reichen Lande, das die Götter liebten, und das sie vorzugsweise mit Blumen und mit Sonnenlicht schmückten. In einem Ozean bitterer Trübsal bin ich versunken, dessen Wellen mir so schwer über Kopf und Herz fortrauschten, daß ich meinte, ich müßte untergehen. Und siehe! an einem fernen, seligen Gestade mit unvergänglicher Schönheit und mit ewigem Licht geschmückt tauche ich wieder auf! – aber nicht auf einer Götterinsel, sondern im Reich Gottes – in der alleinseligmachenden Kirche.
Mein Herr und mein Gott! Alles dient mir dazu, Deine Gnade zu erkennen und Dich zu preisen. Wäre ich nie in Babylon gewesen, wüßte ich vielleicht nicht in seinem ganzen Umfang das Glück zu schätzen, in Jerusalem angelangt zu sein. Wenn Traurigkeiten in mir aufdämmern wollen – wenn Melancholien um die tausend unaufgelösten Dissonanzen des Lebens mich umspinnen möchten – wenn ich zurückblicke in die – ach! vielleicht noch immer zauberische Schattenwelt der Vergangenheit, welche eine solche Macht hat,[71] daß kein Orpheus die Euridice aus dem Orkus zum Licht führen konnte; – dann sprechen himmlische Geister um mich herum: Du bist erlöst! Du bist gerettet! Christus ist mächtiger als Orpheus! Du gehst sicher an seiner Hand aus der Schattenwelt in die Welt des ewigen Lichtes! – Und wie ein Baum, durch den der weiche Abendwind säuselt und alle Regentropfen von seinen Blättern streift: so schüttelt die Seele ihre Tränen und Traurigkeiten gelind ab und wird fest und still. Die Sonne einer seligen Zukunft braucht das Schattengewölk der Vergangenheit und den leisen Tränenregen der Gegenwart, um den Regenbogen, das Zeichen des Bundes und des Friedens mit Gott, über die Erde ausspannen zu können. Er ist mein Triumphtor, durch welches ich in die alleinseligmachende Kirche eingegangen bin. Kommt es bei solchem Glück, bei solcher Gnade auf ein paar Tränen an?
O sagt mir nicht, ich bitte Euch, was ich doch schon gehört habe, nämlich: daß dies Glück auf meiner Auffassung der Kirche beruhe, und daß dazu gerade mein Herz, meine Phantasie gehöre. Sagt das nicht und wähnt es ja nicht! Bedenkt: die Kirche ist die sichtbar gewordene ewige Wahrheit, und so wie die nur eine ist: so gibt es auch nur eine Auffassung derselben: man kniet nieder und betet an. Das ist meine ganz schlichte Art von Auffassung und die kann jeder haben. Ein[72] besonderes Herz braucht man gar nicht dazu! nur etwas Liebeskraft – und die habt Ihr alle, wenn Ihr sie in Euch sammelt, statt sie zu versplittern oder zu verschwenden. Jedes Herz hat sein eigenes Maß und macht seine eigenen Pendelschwingungen – ja! jenes, tiefer oder flacher; diese, weiter oder enger – ja! aber jedes Maß wird gefüllt und jeder Schwingung Raum gegönnt in der Kirche, sonst wäre sie nicht die katholische. Und meine Phantasie? – Solltet Ihr unter Phantasie eine unbestimmte Exaltation für Ideen, Gegenstände oder Ereignisse verstehen: so muß ich bekennen, daß sie mir gänzlich fremd ist. Sie pflegt sich immer auf das Neue, das Fremdartige zu werfen. Nun, die Zeit hat uns seit einer Reihe von Jahren gar manches Neue und Fremdartige gebracht. Da war Konstitutionalismus und Liberalismus, Rationalismus und Pietismus, Kommunismus und Sozialismus, Radikalismus und Deutsch- Katholizismus; da gab es Evolutionen und Revolutionen; – aber ich frage: wer hat je auch nur eine Silbe von mir gehört, eine Zeile von mir gelesen, welche einen anderen Ausdruck enthalten hätten als den, daß ich über die Erscheinungen der Zeit zu Gericht saß. Dies kann man höchst anmaßend finden, aber nimmermehr phantastisch exaltiert. Ich hab' einen so gewiß derben gesunden Menschenverstand – obwohl ich Romane geschrieben habe! – und der ist äußerst[73] schwer zu fanatisieren. Meint Ihr aber, ich hätte wirkliche Phantasie, nämlich die Gabe der Einbildungskraft? Es wäre mir sehr angenehm, wenn ich sie hätte! Denn: ist die Intelligenz bis auf den Grund der Dinge gegangen, so muß die Einbildungskraft ihren Fund in Empfang nehmen, und das Wesen, welches jene nur entdeckt hat, immer frisch in die Erscheinung hinein bilden, damit diese lebendig, durchgeistet, beseelt werde. Dies ist die wahre Phantasie! sie hat einen Zauberstab und berührt mit demselben die Formen und Erscheinungen, so daß sie die Idee hervorspringen macht, die oft eingeschlummert oder tief vergraben und vergessen in ihnen wohnt. Ist aber gar keine vorhanden, so befaßt die Phantasie sich nicht mit der unnützen Arbeit, eine leere, hohle Form als beseelt darstellen zu wollen; – das ist die Sache der Schwärmerei. Hätte ich also Phantasie, so wär' ich allerdings sehr glücklich, weil ich dann die Gabe besäße, die tiefsinnige wunderbare Schönheit der Kirche jederzeit in all ihren Formen als lebendige Ausstrahlung zu gewahren. Erfinden aber kann man eine solche Schönheit nicht, erträumen auch nicht. Das würde immer Lücken geben, und sie ist die vollkommenste Einheit. Dies eben macht sie überwältigend, wenn man so recht müde und matt vom Stückwerk, das chaotisch außerhalb ihr herumliegt, an ihre unantastbare Majestät herantritt.[74]
Ja, unantastbar! jeder Abfall bereitet ihr den bittersten Schmerz, veranlaßt sie zur heißesten Klage; aber wanken, weichen, fallen sind Worte, welche auf sie keine Anwendung finden! Die folgen den Abgefallenen nach, und weil sie das weiß – darum klagt sie. Ein Jünger verriet den Herrn und ein Jünger verleugnete den Herrn, und ein einziger von den Zwölfen stand unter dem Kreuz. Sie, die gewürdigt waren Zeugen und Teilnehmer seines heiligen Lebens zu sein, in größter Nähe seine Worte zu vernehmen, seine Wunder zu sehen, seine Liebe, seine Belehrungen, seinen Segen, seine maßlosen Gnaden zu genießen – blieben Ihm nicht alle treu. O seine Seele wird eine tiefe Klage um des Judas Verrat, um des Petrus Verleugnung gehabt haben, weil er darin ihren Mangel an göttlicher Liebe erkannte; – aber was weiter? Als er von Pilatus gefragt wurde: »Bist Du eine König? antwortete er: »Du sagst es, ich bin ein König.« Und so spricht die Kirche – mögen Hunderte abfallen zu ihrer Rechten und Tausende zu ihrer Linken – mögen aus ihrem Schoß ihre Todfeinde hervorgehen – mögen Kinder, die von ihr gepflegt und gesegnet sind, sich gegen sie empören – mag sie mit Bitterkeiten getränkt, mit Dornen gekrönt, mit Herzeleid überschüttet werden durch die Abgefallnen – unerschütterlich spricht sie: Ich bin die alleinseligmachende. Das ist neben den übrigen Konfessionen[75] gerade so majestätisch, wie neben dem modernen Volks-Souveränetäts-Königtum ein König von Gottes Gnaden aus alter Zeit. Welche Ansprüche die übrigen Konfessionen und Sekten auch machen mögen – keine hat je zu behaupten gewagt, daß ihr und nur ihr dies erhabene Beiwort gebühre; folglich glaubt keine an sich selbst! Denn hätte sie die Überzeugung, daß die Fülle der Wahrheit in ihr wohnt, durch deren Erkenntnis der Mensch zur Seligkeit gelangt: so müßte sie sich ganz einfach für die alleinseligmachende halten und angesichts der ganzen Welt dies Prädikat in Anspruch nehmen. Doch keine wagt das! Die anglikanische Kirche nennt sich katholisch – als ob sie eines der alten Reichsinsignien brauche, um sich Autorität in dem neuen Reich das sie gründete, zu verschaffen; doch nicht – alleinseligmachend. In diesem einen Wort liegt das volle Bewußtsein eines über alles erhabenen Ursprungs und einer eben solchen Bestimmung. Ach, wer seine Konfession nicht für alleinseligmachend hält, sollte doch wenigstens suchen, die Kirche, die sich so nennt, kennen zu lernen! Aber das ist ja das unsäglich Betrübte, daß die Protestanten lieber die indische, chinesische, persische, muhamedanische Religionslehre studieren – als die katholische. Habe ich selbst es doch nicht anders gemacht! Wie herrlich fand ich die Inkarnationen des Brahma und Zoroasters Lichtreich und die[76] Triaden, in denen Egyptens Götter auf Erden herrschten. Und gewiß, sie sind höchst interessant und merkwürdig zu studieren, weil sie uns zeigen, wie der Menschengeist, der abgefallne, der unerlöste, sich anstrengt, um – oft mit großem Tiefsinn und Scharfsinn – das zu erzeugen, was nicht in seiner Macht steht. Halbvergessene, halbverlarvte Traditionen, die sich an den Ursprung des Menschengeschlechts, an seinen ersten seligen Zustand knüpfen, sind wie Goldfaden in das grobe Gewebe der menschlichen Erfindungen und Bestimmungen eingeschlagen, die jene Religionen bilden. Das Erhabene schweift ins Monströse aus, das Tiefsinnige in Brutalität. Neben Brosamen der Wahrheit liegen Berge von Irrtum, von Lüge; – neben reiner Anschauung eine niedrige Auffassung. Ein falscher Spiritualismus – falsch, weil kein auf göttlicher Offenbarung beruhendes Sittengesetz ihn trägt und regelt – erzeugt eine unharmonische Entwickelung des Menschen, welche sein geistiges Leben nebulös – das sinnliche roh macht. Das Urbild wird ein Zerrbild; – wie das schönste menschliche Angesicht ein Zerrbild wird, wenn es sich in einem zerbrochenen Spiegel abspiegelt. Der Menschengeist ist ohne die Offenbarung ein zerbrochener Spiegel, unfähig das Göttliche anders als gebrochen in sich aufzunehmen. Nur die geoffenbarte Religion, die ihm wieder zu seiner verlorenen Kraft verhilft[77] und in seiner Würde herstellt, gibt ihm reine Erkenntnis des Göttlichen, welcher immer die Liebe zum Göttlichen folgt.
Und so saß ich denn mit dem zerbrochenen Spiegel meines armseligen Geistes in den Ruinen von Balbeck und von Theben, und mühte mich vergebens ab in den Religionen, welche jene Tempel hervorgerufen hatten, denselben Zusammenhang mit dem Christentum, denselben Charakter eines Vorläufers zu finden, welchen die jüdische Religion hat – haben muß, weil sie geoffenbart ist. Weil ich damals wähnte, jedem Individuum würde seine besondere Offenbarung zu Teil, sobald es sich recht innig um die Wahrheit abmühe: so mußte ich natürlich auch annehmen, daß die verschiedenen Völker das nämliche Privilegium hätten und daß jede Religion für ihre Zeit die einzig wahre sei – aber auch nur ihre Zeit dauere. Also auch das Christentum nur seine Zeit? – dagegen sträubte ich mich.
Es war in einer Mondscheinnacht bei den Ruinen von Kom-Ombos in Oberegypten, an Nubiens Grenze. Der Nil macht ein scharfes Knie um ein Vorgebirg, auf welchem die Überreste des Tempels liegen, und wäscht ununterbrochen Gestein und Sand weg, sodaß Kom-Ombos dem Einsturz in nicht gar zu ferner Epoche entgegen sieht. Wir sprachen davon, daß der Nil in seinem ganzen mysteriösen Lauf durch Egypten, mit[78] seinen Hebungen und Senkungen, mit seinem Segen und seiner Zerstörungskraft, so recht ein Bild der Zeit sei, welche still und unwiderstehlich ihre Macht übe, zum Schaffen wie zum Zerstören – und daß es einem bange werden dürfe um alles, was zerstörbar sei auf einer so erhabenen Stätte, die gleichsam pulverisiert wird von Wasser und vom Wüstensand; – und was alles wohl zerstörbar zu nennen sei? alles Irdische, die ganze Schöpfung gewiß! Aber auch die Religionen? sind sie nicht mit ihren Tempeltrümmern begraben? untergegangen mit den Völkern, denen sie Kultur und Zivilisation gegeben haben? und wird es dem Christentum nicht anders gehen? wird es sein wie Kom-Ombos in der Wüste – die Basis unterspült von dem unwiderstehlichen majestätischen Strom der Zeit, und Säulen und Hallen verschüttet vom wehenden Sande, der sich überall einfindet, wo das Leben gewichen ist! – Nein, das wollt' ich nicht! durchaus nicht! Ich flüchtete mich zum heiligen Apostel Petrus, und sagte mit ihm: »Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.« Ein solches Bedürfnis empfand meine Seele, diese Welt der Vergänglichkeit mit einer unvergänglichen zu unterbauen und zu überwölben, daß ich nicht bemerkte, wie unsinnig es sei, mit den Worten des Petrus zu sprechen, ohne seinen Glauben zu haben, den Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes,[79] den Erlöser der Welt, zu welchem wir nur durch die geoffenbarte Religion kommen können, welche die Kirche uns lehrt, die auf Petrus gebaut ist, und die Fülle der Wahrheit hat und darum die alleinseligmachende ist. Aber ich war dermaßen in das Gegenteil von aller und jeder positiven Lehre versunken, daß ich mich nicht aus den Widersprüchen anders als durch subjektive Meinungen und Ansichten retten zu können wähnte, während sie doch recht eigentlich aus denselben hervorgingen.
In diesem Fall befinden sich unzählige Protestanten! Es ist eine krankhafte Sucht in ihnen, sich eine Art von religiösem System zu bilden, das nach ihrem subjektiven Bedürfnis sich gestaltet. Um für dasselbe Stützen und Belege zu finden, greifen sie nach den verschiedensten Mitteln, nehmen ihre Zuflucht zur Philosophie, zur Mythologie, zur Anthropologie, türmen ein Chaos um sich auf – und hüten sich – instinktmäßig, möcht' ich sagen – den katholischen Katechismus oder die Bestimmungen des heiligen Konzils von Trient in die Hand zu nehmen. Sie wollen nichts Positives; sie schweben in der beständigen Furcht, welche seit dreihundert Jahren die Lebensessenz des Protestantismus ausmacht – ihren erhabenen Geist verdunkelt, unterdrückt und verkümmert durch katholische Rechtgläubigkeit zu sehen, welche ihnen als ein Gewirr von Absurdität vorschwebt.[80] Die Hauptsache ist eben: sie verwerfen die Autorität, weil sie ihnen unbequem sein dürfte.
Ich meinesteils machte es wirklich etwas wie Sancho Pansa. Er verkaufte sein Königreich für eine Herde Gänse – und mir war auch meine Herde von durcheinander laufenden und wieder einander schreienden Meinungen, Vorstellungen, Ansichten, Anschauungen lieber, als ein sicheres Königreich. Denn, es ist sehr schmerzlich zu sagen, aber ich muß es doch sagen: ich hatte eine Ahnung von der Schönheit und Herrlichkeit der Kirche.
Ich war ein junges fröhliches Mädchen, als ich zum erstenmal die Schwelle einer katholischen Kirche betrat; es war die Hedwigskirche in Berlin. Man sagte mir damals, sie sei nach dem Modell des Pantheons zu Rom gebaut. Ich dachte, dann müsse das Pantheon, das ich mir schön vorgestellt hatte, recht unschön sein; – und das ist alles, was ich mich erinnere. Wie oft, wie viel war ich seitdem in Berlin! nie dachte ich an die Hedwigskirche – bis zuletzt! Aber, als ich da an sie dachte, war es, um sie nie zu vergessen.
Nun, bei sechzehn Jahren hat man das Privilegium, etwas gedankenlos sein zu dürfen. Aber ein paar Jahre später besuchte ich in Dresden die katholische Kirche – wie sie dort genannt wird – und finde in meiner Erinnerung dieselbe Teilnahmlosigkeit für alles, was in ihr vorging, ausgenommen für die Musik, die das Hochamt begleitet.[81] Die entzückte mich! Was beim Hochaltar geschah, verstand ich nicht, also interessierte es mich auch nicht; ich sah kaum hin. Und was für ein Geschöpf denn eigentlich ein Katholik sei, wußte ich auch nicht. Ich kannte keinen. Ich hatte auch nie von Katholiken anders, als in den Geschichtsbüchern gehört – und das waren denn eben nur Lektionen, mit denen ich im Leben nichts anzufangen wußte. Die Musik – das war damals meine große Erinnerung an die katholische Kirche in Dresden.
Zwei Jahre später endlich – da war ich nicht fröhlich mehr und folglich auch nicht jung – da kam ich in ein katholisches Land, nach Würzburg, und dann an den Rhein. Da trat die katholische Religion aus dem Gotteshause heraus und auf die Straße, in die Natur. Sie war nicht mehr beschränkt auf eine königliche Hofkirche und auf die Nachahmung des Pantheons, sondern ihr gehörten Land und Leute und Leben; und da ich auch nicht mehr ganz so gedankenlos wie früher war, weil ich manchmal ein trauriges Herz hatte, das nicht recht wußte, wohin mit sich selbst: so gefiel es mir, daß die Religion gleichsam von der Welt Besitz nahm und bei jedem Schritt und Tritt dem Menschen vor Augen trat und ihn an Gott erinnerte. Ein Kruzifix am Wege – eine Kapelle unter schönen alten Bäumen – ein Wallfahrtsort auf der Höhe – herrliche Dome in den Städten –[82] Klöster oder deren Ruinen in anmutiger Gegend – und das häufige Glockengeläute – das alles tat mir wohl, legte sich lind an mein Herz, ganz unbestimmt, ganz träumerisch, aber doch wohltätig, weil ich zum erstenmal in meinem Leben gewahrte, daß die Religion etwas sei, was überhaupt dem Herzen nahen könne. Das hatte ich bis dahin noch nicht erfahren! Ich besaß ein neues Testament – wie alle Protestanten – las täglich ganz andächtig darin, fand es ganz göttlich – aber es war ein Buch und wollte nicht ausreichen für das Leben, da ich weder Erfahrung, noch Anleitung, noch Inspiration, noch Frömmigkeit hatte, um beides in Einklang zu bringen und eines durch das andere zu verstehen.
Ich brachte damals einige Wochen in einem kleinen Ort zu, in welchem eine protestantische und eine katholische Kapelle sich befanden. Ich ging in diese – um zu beten. In den protestantischen Kirchen betet man ja eigentlich nicht! dazu ist keine Zeit, keine Gelegenheit. Die Türen öffnen sich, man geht hinein, man singt ein bestimmtes Lied, man hört eine Predigt, man singt abermals – und die Türen schließen sich, um am siebenten Tage wieder geöffnet zu werden. Das kann keiner innern Sammlung, keiner Innigkeit des Gebetes günstig sein! man muß immerfort aufpassen auf das, was man singt oder sprechen hört, und das tötet die Andacht, denn die begehrt[83] dazwischen etwas Stille, etwas Ruhe, etwas Betrachtung, um die Seele mit Gott reden zu lassen; – das ist beten. Die meine mochte sich durchaus nicht damit abspeisen lassen, am siebenten Tage angepredigt zu werden, weder damals noch später; und ich frage, ob sie nicht darin einen sehr richtigen Instinkt hatte? Das religiöse Leben muß das ganze weltliche Leben durchatmen, wenn es einen wahrhaft bildenden Einfluß auf den Menschen üben soll. Es muß all' seine Tage umschließen und tragen, aber nicht auf den siebenten und eine Predigt sich reduzieren. Ich weiß wohl, daß die Protestanten, wenn sie dies lesen, fragen werden: Geschieht jenes bei den Katholiken? Aber ich weiß auch, daß ich antworten darf: Geschieht es nicht, so ist das die Schuld des Individuums – nicht der Kirche; und bei Euch ist es umgekehrt. Der Katholik kann seinen ganzen Tag in die tiefste und heilsamste Verbindung mit der Kirche bringen, wenn er ihre heiligen Andachtsübungen wie Rosen in die Dornen seines Lebens flechten will. Das heilige Meßopfer, die Anbetung des Allerheiligsten Sakramentes, der englische Gruß, der Rosenkranz, die Abendandachten, die bestimmten Gebete zu verschiedenen Zeiten des Tages und des Jahres – schlingen seine Seele in die erhabene und lebendige Gemeinschaft hinein, welche »im Geist und in der Wahrheit« Gott dient und Gott verehrt[84] zu jeder Stunde, rings um den ganzen Erdboden. Hat er dafür keinen Sinn: so ist das seine Sache! Die Kirche aber läßt wahrlich keine Seele darben.
Ich fand Predigten grenzenlos langweilig. Erschüttert, ergriffen in meinem Innersten wollte ich werden – statt dessen hörte ich Betrachtungen, die in drei Teile eingeteilt waren; dies war der Haupteindruck, den ich aus den Predigten heimbrachte. Und doch war ich nicht unempfänglich, nicht undankbar, gewiß nicht! ich habe in meinem Leben zwei protestantische Predigten gehört, die mich ergriffen haben, und so manches Jahr auch dazwischen liegt – ich weiß bis zu dieser Stunde noch das Evangelium, das sie behandelten. Die eine: »Kommet her zu mir, die Ihr mühselig und beladen seid;« – die andere: »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.« O meine Seele hat ein gutes Gedächtnis und eine große Dankbarkeit für empfangene Wohltaten im religiösen Leben! – Damals kam ich sehr bald dahin, zu finden und zu sagen, daß der Prediger durch seine lange Betrachtung das schöne kräftige Evangelium nur verwässere, und daß ich es bei weitem vorzöge, selbst meine Betrachtung darüber anzustellen; und bei der lutherischen Lehre vom allgemeinen Priestertum hatte ich darin nicht Unrecht – denn der Prediger deutete das Evangelium gerade so wie ich[85] vielleicht mit mehr Wissenschaft – nach seinem subjektiven Glauben.
Und dies ist der Punkt, der immer die Kraft einer protestantischen Predigt brechen muß: sie spricht eine subjektive Meinung aus und hat nicht die Befugnis zu begehren, daß man sie aufnehme wie das echte Wort Gottes. Weder Rationalisten, noch Supernaturalisten dürfen diesen Anspruch machen; denn ein jeder ihrer Zuhörer darf mit seiner heiligen Schrift in der Hand auftreten und sagen: Ich glaube dies anders. Und wird er durch ihre Wissenschaft geschlagen, so darf er immer noch sagen: Der heilige Geist hat mit der Wissenschaft nichts zu tun, und kann sehr gut den Unwissenden erleuchten.
Vielleicht wirft jemand mir ein, daß ein so undiszipliniertes und hochmütiges Geschöpf nicht seinen Platz in einer Konfession finden könne. Ich nehme die Adjektive für mich an. Aber wenn ich hochmütig und undiszipliniert war, und der Protestantismus mir zu diesen Neigungen Spielraum und alle mögliche Freiheit gewährte, so hätte ich mich ja sehr glücklich durch ihn fühlen müssen, und das ist nie – nein! nicht in einem einzigen Augenblick meines Lebens geschehen. Daraus geht hervor, daß ich innerlich das Bedürfnis einer religiösen Disziplin empfand; und nun frage ich: Was muß das für eine dürftig organisierte Konfession sein, welcher kein Mittel[86] zu Gebot steht, um eine Seele an sich zu ziehen, die trotz des Spielraums, der ihren verkehrten Neigungen gegönnt ist, von der Religion etwas anderes begehrt als den.
Wohl tausendmal sagte ich: Ich bin auf protestantischen Grund und Boden, in protestantischer Zeit, mit einem protestantischen Kopf geboren; allein das Herz ist katholisch. – Und niemand widersprach. Nur einmal, als ich hinzufügte: Aber der Kopf taugt nichts und das Herz ist gut! – da widersprach jemand mir sehr lebhaft, immer wiederholend, ich sei zu klug, um die katholischen Dogmen glauben zu können. Da fragte ich ihn: »Halten Sie mich für klüger als Bossuet und Fénélon? die glaubten diese Dogmen.«
Nein! mit den protestantischen Predigten war es nichts. Man brachte mir einst von Schleiermacher eine Sammlung. Ich las einige – und gab sie zurück. Mit diesem Advokaten Gottes konnte ich mich nicht befreunden und ich sagte: »Der ist nicht für mich! wenn man nicht zu mir spricht, wie Christus zu den Fischern von Galiläa, so macht man gar keinen Eindruck auf mich.« Ohne es zu ahnen hatte ich da den Nagel auf den Kopf getroffen! Die reine Lehre, das ewige Wort, begehrte ich, wie es seit achtzehn Jahrhunderten die Diener der Kirche predigen.
Freilich haben die den immensen Vorteil vor den protestantischen Predigern, – abgesehen von[87] jenem, daß sie im Felsen der Kirche wurzeln, – daß sie überhaupt den Menschen und besonders ihre Gemeinde besser kennen. Der eine sieht den Seinen in's tiefste Herz, kennt ihre innerlichste Richtung, weiß was sie begehren und bedürfen; – der andere sieht den Seinen alle acht Tage auf die Schädel. Natürlich kann jener viel eindringlicher, wärmer, väterlicher sprechen und leichter die Lehre aus der großen Betrachtung in die praktische Anwendung auf's Leben übergehen lassen – als dieser; welcher daher auch vorzugsweise bei der Betrachtung stehen bleiben und in der frostigen Atmosphäre auch seine Zuhörer abkühlen wird.
Manches Jahr verlebte ich darauf in gänzlich und gründlich protestantischen Umgebungen und Verhältnissen, wo jeder seine Religion echt protestantisch für sich hatte, und sich mehr oder minder wohl oder weh dabei befand. Meine Seele befand sich ungemein schlecht dabei! ach, sie lebte wie Psyche in der Hölle. Zu Zeiten wurde sie auch der heiligen Schrift ganz überdrüssig. An einigen andern Büchern aber hing sie mit unvergänglicher Liebe. Dies waren Fénélons Werke, die Nachfolge Christi und die Bekenntnisse des heiligen Augustinus; – besonders das letzte und das erste. Dem Thomas a Kempis vermochte ich nicht immer in die von der ganzen irdischen Welt abgelöste, anachoretische Zelle des Ordensmannes zu[88] folgen; aber Fénélon, der aus dem Glauben eine Liebe macht – den verstand ich; – und den Augustinus mit seiner Sehnsucht, seinen Kämpfen, den verstand ich auch. In einer altfranzösischen Übersetzung war er mir zuerst in die Hand gekommen, und nie hab' ich ihn deutsch lesen mögen! Der erste Eindruck war dermaßen der Ausdruck meines Herzens gewesen, daß er in einer andern Sprache fremd mir erschien. Worte wie diese, im ersten Buch: »Le coeur de l'homme ne trouve aucun repos, jusqu'au moment ou il parvient à se reposer en vous;« – und im dritten: »– on veut trouver de la vie dans ce qu'on aime;« – und im vierten: »Une ame qui aime, veut se reposer dans ce qu'elle aime;« – magnetisierten mir gleichsam die Seele. Ganz still wurde sie, blickte in sich selbst hinein, fand dort die nämliche Sehnsucht, um zu verschmelzen die tiefste Ruhe mit der höchsten Liebe; – aber wie nun weiter? auf welchem Wege? mit welchen Mitteln? – ja, das wußte ich nicht, und das konnte ich auch nicht aus den Bekenntnissen herausfinden, weil ich damals glaubte, nur für die Heiligen täte Gott das Wunder einer großen Bekehrung. Gemartert hat mich zuweilen dieser Augustinus, weil ich in ihm alles fand, was ich auch wollte und nicht wollte, grade wie er! – aber warum denn kam ich nicht dahin, wohin er gelangt war?[89]
Mein Herr und mein Gott! als ob das möglich gewesen wäre bei der ununterbrochenen Kette von Zerstreuung, in der ich lebte. Ich meine nicht Zerstreuung im Sinn des gesellschaftlichen Lebens, denn oft lebte ich gänzlichst zurückgezogen, und selbst im lebhaftesten geselligen Verkehr würde ich niemals meine innere Sammlung verloren haben, weil seine Eindrücke nicht tief genug gingen, um die Innerlichkeit zu berühren und zu stören. Aber – die drei Genien, von denen ich gesagt habe, daß sie mein Leben beherrschten – die ließen nicht zu, daß ich einen andern Weg einschlüge als den, auf welchem sie mir folgten, oder ich ihnen. Was willst du denn eigentlich? fragte ich mich manchmal ganz ungeduldig. Immer das, was du nicht hast? Sei doch genügsam und lerne dich zu resignieren, wie alle Menschen es müssen, die oft viel weniger besitzen, als du. Nimm dich zusammen, um im Gleichgewicht zu bleiben! die Kraft hast du; – habe auch den Willen!
Und zuweilen war es eine Art von Heroismus, daß ich mich hinsetzte und – – einen Roman schrieb. War der fertig, so machte ich eine Reise. Kehrt ich heim, so beschrieb ich sie. Was ich für Kraft vergeudet habe – das ist ein Jammer! denn vergeudet ist alles, was nicht zum Heil der Seele gereicht. Hätte ich für meine unsterbliche Seele das getan, was ich für mein armseliges Ich getan habe – ja, wo wäre ich nun![90]
Trat einmal eine Epoche ein, wo ein Buch fertig war und die Umstände keine Reise zuließen: so fiel ich ganz heißhungrig auf Lektüre – namentlich auf Geschichtswerke, Geschichte der Völker, der Staaten, der Individuen, der Künste – weil ich in der Geschichte die organische Entwickelung des Lebens, sei es in der Gesamtheit, sei es im Einzelnen, fand und verfolgte. Entwickelung von Systemen, philosophische Bücher, haben mich nie interessiert. Was ich wollte und suchte, war der lebendige Herzschlag, und der war nicht in der abstrakten Spekulation. Mein schwacher Kopf ist nicht für sie organisiert. Von Fichte las ich einmal ein Buch über das selige Leben – das einzige, welches ich je von einem deutschen Philosophen in Händen gehabt. Mir däucht, daß es recht schön war; allein ich hab' es längst vergessen, denn da war nicht die Seele Augustins darin. Die deutsche Philosophie, die seit dem großen Abfall des sechzehnten Jahrhunderts ihre Blüten entfaltet hat, kenne ich nur aus ihren Früchten; aus den Resultaten, welche sie für das Leben gehabt hat, und welche ganz so sind, wie sie der vom Glauben abgelöste, einseitig entwickelte, unvollkommene Menschengeist, der sich überreizte, um seine Unvollkommenheit nicht einzugestehen und sich aufblähte, um sie zu verbergen – haben mußte. Jener Abfall hat den Menschen von dem eigentlichen Wesen der christlichen Religion, vom liebenden Gehorsam,[91] losgerissen. Die rechthaberischen Reformatoren stellten ihren subjektiven Glauben als letztes Ziel und höchstes Gesetz auf; und dessen einzige, wenn auch negative Lebenskraft besteht darin, daß er lehrt: das Gegenteil von allem zu glauben, was die Kirche lehrt – sei der wahre Glaube. Ich sage: dessen einzige Lebenskraft und die Protestanten werden darauf entgegnen: die Reformatoren hätten einen sehr festen Glauben an Christus den Erlöser, den Sohn Gottes gehabt, und diesem Glauben habe Er Selbst das ewige Leben verheißen. Wohl hat Er das, als Er sprach: »Glaubet an mich« – und: »Wer an mich glaubt.« Aber nie und nirgends hat Er gesagt: »Glaubt diejenigen meiner Worte, meiner Verheißungen, meiner Lehren, welche euch zweckmäßig dünken werden und ihr werdet das ewige Leben haben.« Er konnte das gar nicht sagen, weil eine unvergängliche göttliche Verheißung nicht an eine vergängliche, wandelbare, menschliche Bedingung geknüpft werden kann. Sie muß auch in der Menschenseele eine unwandelbare Basis finden, und das ist der Glaube an Christus, wie er seit fast zwei Jahrtausenden in der Kirche lebt. Der Glaube an einzelne Worte Christi mit Verwerfung und Hintansetzung anderer, und dennoch in Verbindung gebracht mit der Verheißung des ewigen Lebens – ist eine schauerliche Irrlehre, welche den Menschenverstand zum Richter über die[92] göttliche Offenbarung macht. Wußten die Reformatoren das nicht: so waren sie arme beschränkte Köpfe, welche sich einen anderen Tummelplatz für ihre Streitsucht hätten wählen sollen. Wußten sie es aber – wie man es vernünftiger Weise annehmen muß – so – richte sie Gott! Die Kirche lehrt manches, was dem natürlichen, von Hochmut und Sinnlichkeit beherrschten Menschen unbequem zu befolgen sein würde; deshalb zog er vor es zu verwerfen und folgte seinem Reformator, der nicht nach göttlichem Zuschnitt und Maßstab, sondern nach einem sehr menschlichen, die Lehre zugänglich machte, den Hochmut pflegte, die Sinnlichkeit begünstigte. Auf diesem Boden ist die ganze geistige und sittliche Bildung des protestantischen Deutschlands seit dreihundert Jahren erwachsen. Dürfen wir uns wundern, daß er die Resultate geliefert hat, welche jetzt – ich sage nicht etwa die Gläubigen, sondern nur die Vernünftigen, die Rechtschaffenen mit Abscheu, Sorge und Schmerz erfüllen, weil sie die Gesellschaft in die tiefste Barbarei stürzen werden. Hat die Lehre von der Rechtmäßigkeit der Opposition gegen die Kirche und ihre von Gott gegebenen Dogmen so großen Beifall gefunden – mit welchen Mitteln will man da die Opposition gegen jede Macht, jede Ordnung, jedes Gesetz verbieten? Wer das Fundament seines Hauses ausgräbt und es äußerlich durch Balken stützt, kann es eine Weile notdürftig[93] aufrecht halten, wird aber einen Stein nach dem andern fallen, den Mörtel herabrieseln, die Spalten weiter und weiter klaffen sehen. Sind nun die Balken im Lauf der Zeiten vermorscht, so muß das Haus sich in einen Schutthaufen verwandeln, und um so schneller als es von Katapulten berannt wird. Und an dieser ist die Opposition reich, besonders die radikale – denn die ist aufrichtig in ihrer Art. Die sagt: fort mit allem! – Das ist blödsinnig – ja! allein doch bei weitem nicht so wie die sog. liberale, diese echte Blüte der Reformation, welche für sich Autorität in Anspruch nimmt, aber die gesetzmäßige nach besten Kräften bekämpft und ruiniert. Die Radikalen verhalten sich zu den Liberalen wie damals der König der Wiedertäufer Jan Bockold zu Luther. Er fand Luthers Streben nach Reformation sehr unvollkommen. Er wollte eine ganz neue Ordnung der Dinge, eine neue Welt schaffen, und dabei spielte natürlich das Schaffot eine bedeutende Rolle. Ob die Radikalen wie damals Wiedertäufer heißen oder wie jetzt Kommunisten, Sozialisten oder was weiß ich wie! – der Liberalismus sieht sie mit Grimm – und sie sehen ihn mit Verachtung an; aber ihr Kampf ist noch nicht ausgekämpft. Die Balken, welche die Reformation in ihrer Entstehung stützten, waren die absolutistischen Neigungen der Fürsten, die Versunkenheit des Adels, die Spießbürgerlichkeit des Bürgerstandes.[94] Das Band war zerrissen zwischen einem lutherischen oder reformierten Fürsten und dem Oberhaupt der katholischen Kirche – und gelockert zwischen ihm und dem katholischen römischen Kaiser. Die Gliederung, die Gemeinschaft, das organische Leben hörte auf, starb allmählich ab, die Fürsten versteinerten im Absolutismus; – aber Steine verwittern! – Der Adel? o der Adel muß sehr versunken gewesen sein, um den Glauben seiner Väter aufgegeben zu haben! Ein Ritter, der nicht zuerst und zuletzt sein Schwert zur Verteidigung der Kirche zieht – ist kein echter Ritter mehr, denn das christliche Rittertum wurzelt im Glauben. Und wenn sie alle abgefallen wären, der Adel hätte nicht abfallen dürfen. Ist der nicht treu, hält der nicht an der Tradition, und nun vollends an der Tradition des Glaubens – ach, dann hat er das Gefühl für Ehre verloren und – geht selbst verloren; wie wir es erleben. Der Bürgerstand endlich, befangen von den Vorzügen seiner Art der Tätigkeit, mißgönnte der Geistlichkeit das, was er nannte ihr bequemes Leben. Auf den Erwerb angewiesen, fand er eine Ungerechtigkeit darin, daß die Geistlichkeit Besitztum hatte, ohne Handel und Wandel getrieben zu haben. Seine Seele ging auf in Hab und Gut und dessen Genuß; – nun, er ist verkommen in der Begier nach Besitz. Alle endlich fühlten sich geschmeichelt, sich urplötzlich von so großer ungeahnter[95] Weisheit erfüllt zu finden, vermöge welcher ein Jeder von ihnen, der Fürst, der Edelmann, der Kaufmann, der Handwerker, zu Gericht sitzen durfte über die heilige Kirche.
Bin ich ungerecht? einseitig? – ich möcht es nicht sein; und wenn ich eine Geschichte der Reformation schriebe, und nicht auch einige gute Motive des Abfalls anführte, so wär' ich es. Aber ich schreibe nicht die Geschichte der Reformation, sondern zu den unzähligen, die von Protestanten und für Protestanten geschrieben sind, erlaube ich mir in meiner Weise und meiner Auffassung gemäß, einige Bemerkungen zu machen, die jene Seite treffen, welche von den Protestanten nicht berührt wird. Sie sind dermaßen daran gewöhnt, ihre Reformation als ein preiswürdiges und erhabenes Ereignis geschildert – den Aufschwung, den die Menschheit durch sie genommen, bewundert – ihre Heroen mit einer so erstaunlichen Herrlichkeit angetan zu sehen, daß es ihnen von selbst nie einfällt und nicht einfallen kann zu fragen, ob da wohl eine Kehrseite existieren möge? Ich sage: nicht einfallen kann; weil ich voraussetze, daß sie aufrichtig in ihrem protestantischen Glauben sind und das für wahr halten, was sie gelernt und gelesen haben. Und gerade an diese Aufrichtigen wende ich mich mit meinen Randglossen zu dem Text ihrer Bewunderung, um sie aufmerksam zu machen und zu der Frage zu veranlassen:[96] Entspricht die Reformation denn auch wirklich einer großartigen Richtung des menschlichen Geistes? – Nur dazu! Eine einzige aufrichtige Frage einer aufrichtigen Seele wird zu weilen mit der höchsten Gnade belohnt! Und ich wünsche ja weiter nichts, als daß alle, welche diese Zeilen lesen, mit der göttlichen Wahrheit begnadet werden möchten.
Übrigens fällt es mir nicht ein, geschichtliche Wahrheiten leugnen zu wollen. Nicht die Kirche – aber ihre Würdenträger waren mannigfach verweltlicht. Das heidnische Element, welches, wie oben gesagt, nach dem Fall von Byganz in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts von den flüchtenden Griechen in Kunst und Wissenschaft nach Italien verpflanzt und dort mit jener Liebe aufgenommen war, welche den sinnlichen Menschen antreibt, das Neue und Schimmernde freudig in die Sphäre seines Lebens zu ziehen, weil es neue und glänzende Genüsse verspricht – dies Element trug im sechzehnten seine bittern Früchte. Manch gläubiges Gemüt, manche fromme Seele, mancher brave, eifrige Ritters- oder Bürgersmann wurde tief verletzt durch die Weltlust und Üppigkeit mancher Diener der Kirche, und noch mehr durch die Kunde der heidnischen Greuel, welche über die Alpen aus Rom gebracht, und von den Reformatoren zu ihren Zwecken benutzt und ausgebeutet wurden. Sie verzagten an jener Heilkraft,[97] welche der Kirche vermöge ihres Ursprungs und ihrer Bestimmung eigen ist, und in unerleuchteter Frömmigkeit fielen sie von ihr ab. Daß dieser Abfall bei manchen aus wahrhafter Frömmigkeit entsprang, beweist die Tatsache, daß sie in beträchtlicher Anzahl zum alten Glauben zurückkehrten, nachdem sie inne geworden waren, der neue sei nicht der gereinigte, den man ihnen versprochen hatte.
Nun! der Mensch ist nicht das verwirbelnde Atom ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, das für nichts als für den möglichsten Genuß der Gegenwart zu leben hat – wie die modernen Menschenbeglücker es verkünden, um die Leichtgläubigkeit für ihre Zwecke zu betören. Es geht eine tiefe Solidarität durch die ganze Geschichte der Menschheit. Jeder empfängt ein geistiges Erbteil aus der Vergangenheit und von seinen Vätern, und überträgt es in die Zukunft und auf seine Nachkommen – ist es zum Segen, so erwächst Segen daraus; ist es zum Fluch – Fluch. Diese Erbschaft muß jeder annehmen, ebensowohl wie er den Namen, wie er die leiblichen Züge seiner Väter annehmen muß. Er tritt dadurch in die schöne lebendige Gemeinschaft des ganzen Geschlechts hinein, die ihn vor stumpfer und selbstsüchtiger Beschränkung auf seine Zeit und sein Ich warnen, und ihn vorsichtig, treu und weise machen soll in Anwendung und Gebrauch sei nes[98] Erbes, damit nicht seine Enkel dereinst in trocknen Cisternen kein Wasser, in leeren Schatzkästen kein Gold, statt eines stützenden Stabes ein zersplitterndes Rohr, mit einem Wort – die Strafe finden, welche er verwirkt hat. Unsre Väter saßen zu Gericht über die heilige Kirche; – wer sitzt über uns zu Gericht? – Jan Bockold und seine Genossen. Die traurige Erbschaft müssen wir antreten! büßen müssen wir, was unsre Väter verschuldet haben! freiwillig oder unfreiwillig – aber Buße tun müssen wir, und der Hochmut und die Genußsucht, diese Quellen des Übels, müssen im Sack und in der Asche einhergehen. Wohl dem, welchem Gott die Gnade gibt, es freiwillig zu tun! dann tut er es aus Liebe – und Liebe versöhnt die Gerechtigkeit Gottes und überwindet den Haß, den Widerstand und die Verblendung des Zeitalters. Aus Liebe ließ der Erlöser sich ans Kreuz schlagen. Er hat gesagt: »Folget mir nach!« – nun, so wollen wir unser Ich in seinem Hochmut und seiner Genußsucht ans Kreuz schlagen, gleichviel ob es supersein, ob es roh und brutal ist! – und ihm nachfolgen. Luther hat freilich gesagt: »Wenn man dir vorhält, wie Christus getan und nicht getan – so laß sie sagen! Ein Mensch hat's gesagt; der gilt so viel als du selbst.« Jan Bockold fand auch, daß er ebenso viel gelte als Luther.
Die heilige Kirche hat den allbefruchtenden Strom ihres Segens von den Abtrünnigen zurückgezogen[99] – und die menschlichen Stützen, welche im Anfang so willfährig dem Protestantismus zu Hilfe eilten, sind nach drei kurzen Jahrhunderten bereits vom Wurm, der in ihnen wohnt, zernagt. Gliederung, Einheit, Ordnung hat er aufgegeben, um sich ein Bestehen zu verschaffen; aber siehe da! es zeigt sich sehr bald, daß man ohne sie nur negativ, nicht positiv haushalten und an keinen Bestand denken könne. Egypten fällt mir immer dabei ein, wo alsbald die Wüste eintritt, wenn nicht ein Kanal das Wasser des Nils über den Boden rieselt. Die Wüste bei uns? bei unsrer Kultur, unsrer Bildung, unsern Eisenbahnen, unsern staunenswerten geistigen und industriellen Erzeugnissen? – Die Tempel und Pyramiden Egyptens sind ebenso staunenswert und hinderen nicht, daß die Wüste wächst und wächst, und daß der Mensch in ihr darbt. Wir haben schon sehr lange in einer Wüste mühselig unser Leben gefristet; und es ist überhaupt sehr merkwürdig und könnte uns wohl aufmerksam auf unsere Zukunft machen, daß – nicht länger figürlich gesprochen! – all die Stätten zu Wüsten geworden sind, von denen das Christentum verschwunden ist. Kleinasien, Syrien, Egypten, die ganze Nordküste von Afrika, das ganze südliche und östliche Gestade des mittelländischen Meeres, so reich ehedem an blühenden Landschaften, an reichen großen Städten, an Kultur und Verkehr,[100] an Gelehrsamkeit und Wissenschaft – Wüsten sind es von Sand oder Sumpf, feindlich dem Menschen und seinen Ansiedelungen, seitdem das Christentum vor dem Islam hat weichen müssen. Hat jemand den Mut, der abstrakten Spekulation und dem kommunistischem System, welche beide das Christentum aus der Welt zu schaffen suchen, mehr Lebensatem zuzutrauen, als dem Islam? – ich denke nicht!
Aber man sagt vielleicht: im katholischen Deutschland – ja in der ganzen katholischen Welt sehe es nicht eben anders aus, als im protestantischen; und die Katholiken wären überhaupt um kein Haar besser. Diese Behauptung läßt sich nicht so obenhin beantworten; denn dasjenige, was auf der Oberfläche des Lebens schwimmt und treibt, ist nicht maßgebend – am wenigsten, wenn man dabei etwa gewisse Kreise der Gesellschaft oder politische Zustände im Auge haben und dort eine gleichmäßige Verkommenheit des vornehmen Lebens in Glanz, Luxus und Genußsucht – hier in unreifen Ansichten über Wohl und Weh der Völker und Staaten finden sollte. Maßgebend sind immer nur die Prinzipien, nicht die Individuen. Bei dem Stand unsrer Bildung, die ein seltsames Gemisch der Erfahrungen, Kenntnisse und Wissenschaften vergangener Jahrtausende mit den exzentrischen und überreizten Bedürfnissen einer krankhaft ausgebildeten Gegenwart ist: genießen[101] die Individuen das bedenkliche Vorrecht – auf welches sie sich aber sehr viel zu gut tun – in einer fast elektrischen Berührung mit den geistigen Strömungen der Zeit zu stehen. Ein Gedanke, der in den Pyrenäen auftaucht, fliegt blitzgeschwind nach den Karpathen hinüber. Eine Erfindung, die man am mittelländischen Meer macht, ist in der kürzesten Zeit an der Nord- und Ostsee bekannt. Was in Paris geschieht, ahmt binnen drei Tagen Europa nach, und was in Ostindien, Kalifornien und Brasilien sich zuträgt, findet binnen wenig Wochen bei uns An- oder Nachklang. Bei einem so überwältigenden Einfluß massenhafter Bildungsmittel leidet die Bildung der Individuen einen traurigen Mangel, sobald sie nicht mit festen Prinzipien und mit einem Maßstab, der denselben nachgebildet ist, dieser Überflutung entgegen treten. Fehlt er ihnen, so verlieren sie ihre Selbstständigkeit und werden Produkte des Zeitgeistes, dessen Tummelplatz die Kreise der Politik und der eleganten Gesellschaft recht eigentlich abgeben, und auf welchen die Individuen unter einem allgemeinen Firnis von unvollkommener Bildung und von schillernder Mode zu einer unselbstständigen Masse zusammen schmelzen, welche nur ein polypenartiges Leben kennt – kein selbsttätiges, kein höheres, kein heiliges. Aber die Prinzipien dieses höheren Lebens sind in der Kirche, weil sie, göttlicher Anordnung[102] gemäß, die Erzieherin der Menschheit sein soll, gewesen ist, noch jetzt ist und immer sein wird. Nicht umsonst nennt sie sich die heilige Kirche. Sie ist es durch ihre heiligen Glaubenswahrheiten, durch ihre heiligen Sakramente, durch die einzelnen Heiligen, welche sie zu jeder Zeit gehabt hat, durch die heiligende Erziehung, welche sie Jedem zu Teil werden läßt, der sich ihrer Führung anvertraut. Wer ihr nicht folgt, wird eben unheilig und verfällt der großen babylonischen Verwirrung; – und gerade er mehr als andere, die nicht diesen erhabenen Ausgangspunkt haben; denn er muß ihre heiligen Lehren, die himmlische Mitgift seiner Kindheit und Jugend, gewaltsamer zerstören, als der, welcher ohne eine solche in's Leben getreten ist; er muß sich heftiger gegen ihre Mahnungen betäuben, als der, dessen Ohr sie nie vernommen hat. Da es nun aber in der Kirche auch Unzählige gibt, die sich im liebenden Gehorsam ihrer Führung unterwerfen: so finden sich eine Menge geheiligter Seelen in ihr, wie sie in den andern Konfessionen sich nicht finden können, weil diesen die Essenz der Heiligkeit, das überatürliche Leben abgeht. Man müßte umfassende Studien der Sittenzustände in den verschiedenen Kirchen und in allen Schichten der Gesellschaft machen, um jene Behauptung mit der Tiefe, welche ihr gebührt, beantworten zu können. Augenfällig berücksichtigt wird immer nur bei[103] solchen hingeworfenen Fragen die Halbheit! es gibt jetzt so un endlich viel Laue und Gleichgültige, die sich indifferent zu allen Konfessionen verhalten. Dann wieder manche Protestanten, die ohne ihr Wissen und manche, die mit Überzeugung halbe Katholiken sind und umgekehrt halbprotestantisch gesinnte Katholiken: so daß es niemals notwendiger war als gerade jetzt, die Prinzipien zu scheiden, wenn es sich darum handelt, zu erkennen, wo der Keim des Lebens oder des Todes zu finden ist. Da das Prinzip des Lebens die heiligmachende Gnade – und diese nur in der katholischen Kirche zu Hause ist: so kann darüber kein Zweifel mehr obwalten, und gewiß würden aufmerksame und eifrige Beobachtungen es auch im äußern Leben genügend nachweisen. Daß nicht blos katholische Individuen, sondern Staaten, leider zu viel, vom Geist des Protestantismus an- und aufgenommen haben, kam im vorigen Jahrhundert traurig zum Vorschein, und gerade dieser Geist war es, welcher die erziehende Wirksamkeit der Kirche auf die Menschheit lähmte und dadurch die herrlichsten Kräfte jener zur Stagnation – und dieser zur Revolution brachte. So wie der Kirche nicht mehr die Hände in der Erziehung der Menschheit gebunden sein werden, wird sie wieder, wie in alten Tagen, die Sittigung der Barbaren übernehmen und ausführen. Aber freilich, mit dem Absolutismus der Regie,[104] rungen kann sie nicht Hand in Hand gehen, und der gefiel leider den katholischen Fürsten so gut, wie den protestantischen. Und so gefiel die Geringschätzung und Vernachlässigung des Glaubens auch dem katholischen Adel, die Bestrebungen des Neides und der Mißgunst auch seinem Bürgerstand, die frivole Überschätzung einer schillernden und leeren Bildung auch seinen sogenannt aufgeklärten Köpfen; – und dafür sind die Katholiken gerade so sicher wie die Protestanten von Jan Bockold bedroht. Allein neben den Lehren ihrer Kirche haben sie in ihrem Priesterstand einen Schild der Heiligkeit, welcher jenen fehlt, denn in ihm sind bis zu dieser Stunde die Traditionen des christlichen Märtyrertums nicht ausgestorben, und von dem Märtyrertum geht eine regenerirende Kraft für die Sache, die Idee, den Glauben aus, weswegen man es leidet. Märtyrer aber haben die Protestanten nicht. Liest man in der französischen Revolutionsgeschichte von 1789 von den unerhörten Verfolgungen, welche der glaubenstreue Priesterstand zu erdulden hatte, weil er nicht der Revolution huldigte, weil er nicht seinen Eid brach, weil er seinem Beruf treu blieb und für die Seelen sorgte; – liest man, wie er dafür niedergemetzelt, in Bagnos gesperrt, auf wüste Inseln deportiert wurde, Folterqualen erduldete, gegen welche die Guillotine eine Erlösung war, und nicht etwa Einer, oder Zehn, oder Zwanzig,[105] nein! zu Hunderten! zu Tausenden! – so ist man ganz unbesorgt um die Zukunft. Auch in der versunkensten Zeit hat die Kirche ihre Märtyrer, und die setzen die Sache Gottes durch.
Doch jetzt zu dieser Stunde – wo sind sie? seit 1789 sind schon zwei Generationen verflossen! wo sind sie jetzt, diese Märtyrer? – Ich will es Euch sagen.
Ich brachte den Winter des Jahres der Schmach 1848 in dem von Revolutionsstürmen erschütterten Palermo und Neapel zu, wo die Revolutionsmänner ihr Treiben gerade so gut wie überall organisiert hatten; – d.h. sie schrieen und tobten dermaßen gegen alle und alles, was ihnen im Wege stand und ihren Absichten gefährlich werden konnte – verleumdeten, logen und erfanden solchen Unsinn, daß die Menge ganz bewildert wurde und ihnen glaubte, führten all ihre Streiche immer und immer wieder auf den einen, den mißliebigen Punkt – daß man sich leider dort, auch wie überall, einschüchtern ließ.
Am 11. März stand ich auf meinem Balkon auf St. Lucia und sah in den stürmenden Golf hinaus, dessen Wellen in hoher Brandung an den Quai schlugen. Ich wartete auf ein Schiff, das den Hafen verlassen und abgehen sollte. Der König von Neapel hatte, eingeschüchtert durch die Umsturzpartei, die ein paar hundert wütende Schreier bezahlte, Tages zuvor den Vätern der[106] Gesellschaft Jesu befohlen – ohne Grund, ohne Vorwurf, ohne Untersuchung, ohne Urteil binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen. Deren Schiff erwartete ich. Es kam endlich das winzige Dampfboot und zog langsam und schwankend durch das unruhige Meer längs der Küste fort. Auf dem Verdeck standen die Väter, die ernsten schwarzen Gestalten ruhig beisammen und blickten so gelassen in ihre ungewisse Zukunft, wie auf die tobende Rotte – gingen ebenso gleichmütig aus ihrem Ordenshause und aus ihrer Wirksamkeit, wie in das stürmische Meer und in die Verbannung. Merkwürdig majestätisch sah es aus, wie sie, 115 an der Zahl, gleich Sklaven auf dem engen Raum zusammen gepreßt, so friedlich gingen, als machten sie eine Spazierfahrt nach Capri oder Ischia. Aus sämtlichen revolutionierten Ländern Europas wurden sie damals wohlweislich von derselben Partei verbannt. Ein Jesuit! – un Capellone! wie sie wegen ihrer großen Hüte in Italien genannt werden – der Name war genug, um sie wie wilde Tiere zu jagen, wie schädliches Gewürm zu verfolgen; – und immer gingen sie mit derselben majestätischen Gelassenheit, wie eben Menschen, die da wissen, daß sie Fremdlinge auf Erden, aber im Dienste Gottes sind. Die haben Märtyrerblut in den Adern, und daß es damals nicht geflossen ist, lag gewiß nicht an der Menschenfreundlichkeit ihrer Gegner. Übrigens[107] machten die Lazaroni am Abend jenes Tages in Wut und Verzweiflung eine Emeute, denn 1200 ihrer Kinder erzogen die Väter in ihrem Kollegium, und die waren nun verwaist, gleich den übrigen Schulen, denen sie fast alle vorstanden. Die Emeute der Lazaroni ging anders zu Ende, als die der Umsturzpartei: man schoß auf sie, einige fielen und die Sache war aus.
Der Besitzer der Villa, die wir einige Wochen später in Sorrent bewohnten, erzählte uns, es sei damals ein Emissär der Revolution auch zu ihnen gekommen mit der Freudenbotschaft, dieses »schwarze Ungeziefer« sei nun aus dem ganzen Königreich verbannt, und die Sorrentiner möchten ja dafür sorgen, daß es Sorrent nicht länger belästige, sondern sich sofort entferne, damit es nicht Zeit habe, seine Schätze mitzunehmen. Die Sorrentiner sind ein arbeitsames braves Völkchen, die nicht im geringsten den Vätern abgeneigt waren, welche auch dort, wie überall, Schulen hatten; – aber einzelne Taugenichtse gab es natürlich auch dort, und da die Lehren der Revolution so recht die Lehren für Taugenichtse sind: so fand jener Emissär bei ihnen kräftige Unterstützung. Sie tobten so lange und schwuren so gewiß Rache zu nehmen an ganz Sorrent, bis sich die Wohlgesinnten entschlossen, selbst zu den Vätern zu gehen und sie um ihre sofortige Abreise zu bitten, weil die Stadt mit Mord und[108] Brand bedroht würde. »Wir taten es mit Tränen in den Augen,« sagte der Erzähler. Die Väter beorderten alsbald eine Barke und verließen ihr Haus und Sorrent wie sie gingen und standen. Nun stürzte die Masse der Neugierigen und Habsüchtigen in das Haus, um Schätze zu finden. Was fand man? die allergewöhnlichste schlichteste Einrichtung des Hauses und die Makaroni, welche zu ihrem Mittagsbrot bestimmt waren. Der Erzähler meinte, daß der Emissär selbst ganz verwundert und fast gerührt gewesen sei; ich glaube das aber nicht, denn solche Emissäre sind zu gute Komödianten, um nicht auch Überraschung heucheln zu können.
Jetzt, da sich für den Augenblick der Sturm der Revolution gelegt hat, sind die Väter der Gesellschaft Jesu überall, wo es einigermaßen möglich ist, zurückgekehrt, um zu versuchen, ob sie zwischen all das Unkraut etwas guten Samen ausstreuen können; – natürlich unter der stillschweigenden Bedingung, heut oder morgen, sobald der Sturm wieder ausbricht, auch wieder verfolgt und verjagt zu werden. Diese ausdauernde Liebe für das Heil der Seelen, die Arbeit, Anstrengung und jede Art von Aufopferung für nichts achtet – und von der Welt nichts dafür empfängt als Verleumdung und Haß – ist eine gute Vorschule für das Märtyrertum.[109]
Ich schrieb damals, am 13. März, an eine Freundin nach Dresden:
»Ach sie sind glücklich, diese Männer! sie leben für eine unsterbliche, fruchttreibende Idee, für die sittigende Kraft der katholischen Kirche, und gibt es in Europa keinen Platz mehr für sie, so suchen sie sich einen andern Weltteil für ihre Wirksamkeit aus. Ich habe immer große Ehrfurcht vor den Jesuiten gehabt. Jetzt, da der Radikalismus sie mit so grimmiger Wut verfolgt, fange ich an sie zu lieben, weil ihr unerschütterlicher Phalanx ihm totfeindlich sein muß, um dermaßen von ihm gehaßt zu werden.«
Damals war ich nun imstande, ihre großartige soziale Bedeutung zu verstehen; die religiöse konnt' ich nicht erfassen. Eine Kirche, die seit dreihundert Jahren einen Orden besitzt, welcher seine Söhne zum Märtyrertum heranbildet, hat in ihnen eine glaubensstarke, unüberwindliche Kreuzesschar, welche immer von neuem Segen und Heil wirken muß. Ob sie Schule für kleine Kinder halten, ob sie Jünglinge erziehen, ob sie den Männern predigen, ob sie wilde Völker in fremden Weltteilen oder verwilderte in Europa zu zähmen suchen, ob sie unter jenen Barbaren ihr Blut – unter diesen ihren Schweiß vergießen: immer ist ihre Lehre ein Maienregen, der in dem ausgedörrten Boden neue Triebkraft weckt, um den Samen des göttlichen Wortes frisch aufsprossen[110] zu lassen. Nachdem sie im sechzehnten Jahrhundert einen Teil Europas von dem großen Abfall zurückgeführt hatten, lohnte ihnen das achtzehnte diese heroische Anstrengungen mit einem kolossalen Undank. Der Orden wurde aufgehoben und hatte nicht mehr zu existieren. Und so wurde während vierzig Jahren die Gesellschaft Jesu nicht anerkannt, aber deshalb löste sie sich nicht auf. Als Papst Pius VII. im Jahr 1814 das Aufhebungsbreve widerrief, das Clemens XIV. 1773 erlassen hatte, bildete sich die Gesellschaft nicht von neuem, sondern sie war da, sie lebte; – das neunzehnte Jahrhundert bedurfte ihrer gerade so notwendig wie das sechzehnte: darum lebte sie. – Wieder ist ein großer Abfall da – wieder sind die Jesuiten auf dem Kampfplatz! Wieder werden gotteslästerliche Lehren der Zerrissenheit und Verwirrung unter das betörte, verfinsterte Menschengeschlecht ausgesäet – und wieder sind sie da, um die Lehre von der katholischen Einheit zu predigen. Was ist inzwischen mit Luthers Lehre vorgegangen? – umgebildet, umgestaltet, hier ausgeschieden, da mit der reformierten vermischt, dort bezweifelt, dort gar nicht mehr geglaubt, ohne Fundament, ohne Dach, von innerem Widerspruch mit ihrem eigenen Prinzip geängstigt, aus dem subjektiven Glauben des Individuums geboren, vom subjektiven Unglauben, der nicht bloß einzelne, sondern Massen ergriffen hat, untergraben[111] – ohne inneren Halt, weil ohne positive Autorität – ohne äußere Stütze, weil die stets wechselnden politischen Verhältnisse ihr nicht mehr so günstig als bei ihrer Geburt sind – – gibt es in der ganzen Geschichte der Entwickelung der Menschheit ein monströseres Bild der Verwirrung? Mir fällt immer jene indische Gottheit ein, die beängstigend mit ihren hundert Armen umsonst nach einem Etwas zu greifen scheint; – denn es ist genug für die Gottheit, daß sie eine Hand ausstrecke. O wäre nicht durch die Unzulänglichkeit ihrer Lehre eine so schauerliche Gleichgültigkeit unter die protestantische Masse gekommen – hätte sie sich nicht im Laufe dreier Jahrhunderte daran gewöhnt, sich mit ihrem religiösen Bedürfnis auf ihre eigenen paar Gedanken zu beschränken: so würde jene wilde Verworrenheit sie zittern machen. Aber nun denkt ein jeder: Das geht mich nichts an! Der Orthodoxe – wenn es deren gibt! – fügt hinzu: denn ich habe die heilige Schrift. Der Rationalist: denn ich habe die Vernunft. Der Pietist: denn ich habe meine Konventikel. Der Pantheist: denn ich habe die Natur. Die Klasse, für die ich keinen Namen weiß, und zu der ich ehedem gehörte: denn ich habe Gott. – Wann, o wann wirst Du, o Herr, Dein fiat lux über diesem Chaos sprechen? Der abstrakten Spekulation und dem kommunistischen System gehorcht es nicht.[112]
Als ich nach Italien ging, war es die Kunst des Mittelalters weit mehr als die antike, die mich anzog, obwohl ich eine große Vorliebe für die Skulptur habe, weil in der stillen Ruhe der Statue ein gewisser unerschütterlicher und melancholischer Friede ist, der mir wohl tut; im Gemälde hingegen sehr selten – schon deshalb nicht, weil selten eine vollkommene Harmonie zwischen Farbe und Zeichnung statt findet. Die mittelalterliche Kunst in ihren Domen, in ihren Bildern, von denen man kaum eine Ahnung in Deutschland hat, entzückte mich. Es gab Augenblicke, in denen ich die alten florentinischen Meister, einen Fiesole, einen Lorenzo di Credi, einen Sandro Botticelli, schöner fand als Rafael, wegen der unbegreiflichen Andacht, Gottinnigkeit und Seelenschönheit, welche sie ausstrahlen – wegen dieser Versunkenheit in Glauben und Frömmigkeit, die ihnen wie ein Heiligenschein zu Häupten schwebt. Ich erkannte wohl, daß ein mächtiges religiöses Element sie geboren habe; allein ich hielt es für abgestorben – oder doch nahe daran.
Der Kultus der katholischen Kirche machte mir gar keinen angenehmen Eindruck. Teils verstand ich ihn nicht, teils läßt alle Weltherrlichkeit mich gleichgültig, teils ist die heilige Osterzeit in Rom, wegen des unerträglichen Zusammenflusses von Fremden, die sie wie eine Komödie behandeln, wirklich profaniert. Bis zum Kern zu gelangen,[113] verstand ich nicht! ich blieb an der Schale hangen und fand ihren Pomp leer, andachtslos. Es lag vielleicht daran, daß ich zu viel Andacht finden und zu wenig mitbringen wollte; und gewiß mit an dem grausamen Tumult, der an den heiligen Stätten herrschte. Er machte mich ganz schwermütig, so daß ich am Ostersonntag z.B. gar nicht nach St. Peter ging, wo der heilige Vater vom Balkon herab den Segen über die Stadt und die Welt erteilte, sondern zu der Einsamkeit von St. Maria Maggiore floh. Ich fand immer, daß das Heilige nicht heilig genug behandelt wurde. Das hatte ich auch in Neapel bei der Liquifaktion des Blutes vom heiligen Januarius gefunden. Ganz gläubig ging ich hin und ganz ungläubig kam ich zurück. Ich weiß nicht mehr, wie ich über dies alles in »Jenseits der Berge« geurteilt habe; ich fürchte, mit oberflächlicher Anmaßung. Die Protestanten wachsen dermaßen in der Vorstellung auf und in sie hinein, die katholische Kirche beherberge eine ganze Welt von irrtümlichen und kindischen Glaubenslehren, welche durch höhere Erkenntnis und geistigere Auffassung seit 300 Jahren beseitigt wären, daß sie sich gar nicht einer gewissen Geringschätzung enthalten können. Sie wissen durchaus nicht, was sie eigentlich geringschätzen, denn sie kennen das Dogma nicht; nur so im allgemeinen sprechen sie mit Geringschätzung vom »Katholizismus« –[114] wie sie ihn nennen – ins Blaue hinein. Sie sind »jenseits der Wahrheit« und das macht ihnen die Erkenntnis derselben namenlos schwer. Juden und Heiden und Muselmänner haben sie noch nicht gehabt; die Sonne ist ihnen noch nicht aufgegangen; aber sie liegt vor ihnen, während sie den Protestanten im Rücken liegt. Vorwärts zu gehen ist leichter als umzukehren, weil zu letzterem eine Art von Demut gehört. Und demütig war ich ganz und gar nicht. Ich hatte so wenig Respekt vor Luther als Religionsstifter, daß ich – ich meine es war in »Jenseits der Berge« – sagte: »Wer die Unfehlbarkeit einer päpstlichen Bulle verwirft, darf nicht auf der Unfehlbarkeit der Augsburgischen Konfession bestehen.« Aber dennoch hatte ich die Sonne im Rücken und keine Kirche kam mir erhabener, freisinniger vor, als nur eine Kirche. Vor Luthers Charakter hatte ich Anwandlungen von Respekt, weil mir diese Unerschrockenheit gegen Papst und Kirche vor Kaiser und Reich aufzutreten wohlgefiel; – so geht es gewiß manchen, welche an Mut und Kampf ihre Lust haben, und darüber die Ursache und das Ziel aus den Augen verlieren. Ein Feldherr, welcher den Fahneneid bricht und mit einem Teil des Heeres von seinem König abfällt – ist entehrt. Ach, freilich sieht der gütige Gott es viel tausendmal, daß man es mit den Gelübden, die ihm gemacht werden, leichter nimmt, besonders[115] wenn sie, wie in diesem Fall, einen zeitlichen Erfolg haben.
Als ich in Spanien war, nach dem Schluß des Bürgerkrieges, auf welchen Esparteros Regentschaft folgte, fand ich dort keine äußere Spur seiner alten Glaubenstreue. Die Klöster waren verödet oder zu profanen Zwecken eingerichtet; die Kirchen waren nur von Frauen besucht; in der Kathedrale von Sevilla spielte die Orgel Opernarien. War das nur eine vorübergehende Gleichgültigkeit, die Folge der politischen Aufregung? ich weiß es nicht! aber das weiß ich, daß ich nur eine katholische Bekanntschaft in Spanien gemacht habe: Murillo! – und daß ich dies nicht etwa jetzt, sondern schon damals begriff. Er ist der Maler des katholischen Dogmas; – der Heiligen, der Extasen, der Visionen, welche die Gestirne dieses unergründlichen, tiefen Himmels sind. Er steht nach meiner Meinung ganz einzig in der christlichen Kunst da. Die florentinischen, die umbrischen Maler malten Heilige, als wären sie vom Himmel herab geschwebt. Murillo malt Menschen, welche als Heilige zum Himmel hinaufsteigen, und deshalb nenn' ich ihn den Maler des katholischen Dogmas, denn seine Gestalten sind keine idealische oder klassische Gebilde, die nichts zu tun haben mit Leid und Lust der Welt; es sind Menschen, welche durch die Kraft der Sakramente Heilige geworden sind. So ein heiliger Bischof[116] Thomas von Villanueva, so eine Vision von St. Felix de Cantalizio, sei eine Stigmatisierung von St. Franziskus, haben wirklich nicht ihres Gleichen in der Kunst. O diese leidenvollen verklärten Menschen, so hoch über mir durch die Verklärung, so neben mir durch das Leid – sie treten jetzt alle ganz lebendig aus der Erinnerung an mich heran und fragen: Wie hast du das verstehen können? du wußtest ja nichts von den Sakramenten und ihrer heiligenden Kraft! – Nein, ich wußte nichts davon; auch nichts von der Gottes-Mutter, zu welcher die Kirche fleht: Mater divinae gratiae, ora pro nobis; auch nichts von der unbefleckten Empfängnis Maria; ich wußte gar nichts! Aber Murillo wußte es, glaubte es, und wird ein großer, erhabener Glaube von einem großen erhabenen Genie durch eindringliche Schönheit gedeutet: so muß das doch Eindruck machen, wenn man die Schönheit als eine Offenbarung des Göttlichen auffaßt; – und das tat ich.
Jedoch zum Quell zurückzugehen, aus dem dieses merkwürdige Genie sich nährte, kam mir nicht in den Sinn. Es ist mir jetzt, als hätte ich gewähnt, das katholische Dogma sei nicht mehr so unangetastet wie zur Murillos Zeit in Spanien; ich faßte es nicht auf als das Unwandelbare, Wechsellose, das bis zum Ende der Zeiten dauern müsse trotz des Abfalls einer Welt; – konnte das nicht, da ich vom Protestantismus gebildet war,[117] der seiner Dogmen Existenz nach Jahren zählt, und glaubte ganz kindisch, dieser Protestantismus hätte eine Bresche in jener unerschütterlichen Festung gemacht, so daß doch wohl nicht alles mehr so aufgefaßt und gelehrt werde, wie zu Murillos Zeit. Das fand ich recht traurig, weil ich mit zweifelloser Entschiedenheit annahm, wenn es noch in alter Kraft sei, so müßte es sich seine Murillos bilden. Ach, nicht das Dogma fehlt den Seelen; aber die starken, die gläubigen Seelen fehlen dem Dogma. Es hat ein entnervender Sirocco seit mehreren Menschenaltern die Welt durchweht. Zwei Götzen empfingen ihre Huldigungen: der Mammon mit seinem zahlreichen Gefolge von Sinnlichkeit, Genußsucht, Hartherzigkeit, Habgier – und der Geist, dem eine oberflächliche Bildung, ein großer Mangel an Tiefe, eine Liebhaberei für Kritik und Zersetzung, ein unerhörter Hochmut, eine leichtsinnige Frivolität bei Behandlung sittlicher und religiöser Fragen nachschwärmen. Mit dem achtzehnten Jahrhundert begann dieser Götzendienst in England; von dort ging er nach Frankreich über und Deutschland ermangelte nicht, ihn pflichtschuldigst von Frankreich in Empfang zu nehmen. Englands gesunder Nationalcharakter, sein großes politisches Leben, seine harten Schicksale in der letzten Hälfte jenes Jahrhunderts, dann Pitts großartiges Genie, welches mit der vollen Überlegenheit eines[118] mächtigen und hochherzigen Charakters durch seine erhabene Idee sein Vaterland zum Bollwerk der Freiheit gegen die Revolution und gegen Napoleon machte: dies rettete England von dem Abgrund, in welchen Frankreich getaumelt ist und in welchem nun auch Deutschland liegt. Ein fürchterlich materialistischer Sumpf bedeckt den ganzen Kontinent von Europa; das ist der Boden nicht, auf welchem eine gesunde Menschheit sich entwickeln könnte, denn zu ihrer Gesundheit gehört wesentlich, daß die Seelen sich wohl befinden, und die können es nicht, wenn ihre höheren Kräfte brach liegen und wenn sie mit dem niedern den Mammon anbeten, und den Geist über alles schätzen. Ihre höchsten Kräfte sind der Glaube und die Tätigkeit in Werken der Liebe. Sie hat sie nicht geübt; – den Erfolg sehen wir. Die materialistische Richtung kann kein anderes Ende haben als die vollendete Negation und den Haß, der auch eine Verneinung ist – der Liebe. Damit aber wird nichts geschaffen, nichts geboren; sie kann nur zerstören und vernichten, und weil sie das Bewußtsein ihrer Impotenz mit sich herumschleppt, geht sie so wild zu Werk, daß man leicht gewahrt, wie sie ihre Wildheit für Macht ausgeben möchte. Aber noch nie hat die Unmacht die Welt überwunden! wenn sie wähnte, jetzt gehöre sie ihr, die geknechtete, gelähmte, ermattete Welt – siehe da! es kam Rettung, indem ein neues[119] Schöpfungswort über die Welt gerufen wurde; und immer rief es die Liebe! Sie wird auch dies Zeitalter besiegen und sich mit dem Kreuz auf den Materialismus stellen – wie jene Heilige mit ihm den bösen Feind überwand, daß er sich wie ein Wurm unter ihrem Fuß krümmte. Kann man daran zweifeln, wenn man den unermeßlichen Jammerschrei beachtet, den, wie ein Riesenecho, eine Brust der andern zuwirft? Es ist ein Klageton, wie ihn vielleicht jene Schiffer auf dem mittelländischen Meer in den Tagen der Geburt des Erlösers vernahmen. »Der große Pan ist tot!« wimmerten klagende Stimmen. Weil sich jetzt die schneidende Klage nicht mit einem Wort ausspricht – weil sie hier eine tiefe Trauer, dort einen wilden Gram, da eine heiße Sehnsucht, und da einen frechen Trotz, Hohn und Verzweiflung verrät: darum ist sie noch erschütternder! ist eine Quintessenz von allem Weh der Menschheit. Die alte Römerwelt sah ihre Götter versinken – ja! allein sie wußte bereits, daß es Schattenbilder waren. Unsere Welt wird aber gewahr, daß sie den ewigen Gott verlassen hat, daß sie zu büßen hat für den Abfall von der Offenbarung. Dieser Abfall hat, wie der Sündenfall Adams, dermaßen ihren Willen geschwächt, ihre Erkenntnis verschleiert, daß sie noch nicht zu dem Entschluß kommen kann, sich wie der verlorene Sohn auf den Weg zu machen zur Rückkehr, obwohl sie heimlich[120] fühlt, daß sie es müsse und werde. Diesen Kampf zwischen Nötigung und Widerstand muß sie jetzt durchmachen, und geistige Orgien und wüste Bachanalien toben in ihn hinein. O, eine immense Erlösung wird auf diese immensen Schmerzen folgen, denn das Kreuz steht noch immer auf Golgatha und strahlt um so heller, als die Irdischkeit in ihrer eigenen Finsternis verdunkelt ist. Aus diesem Kampf werden auch wieder starke Seelen hervorgehen, fähig, das Gewicht der Offenbarung zu erfassen und zu tragen. Ob sie dann in deren Dienst Bilder malen, wie Murillo – oder durch eine gewaltige Ascese die Menschen auffrischen und stählen, wie die heilige Therese – oder ein kampffertiges Glaubensheer aufstellen, wie der heilige Ignaz von Loyola – dieselbe Liebe zum Kreuz lebt in ihnen und diese Liebe nur kann das Zeitalter besiegen. Drei Spanier habe habe ich da genannt, unwillkürlich wie ich sie unter der Feder fand – und doch nicht ohne Bedeutung; denn ein Volk, das, wie das spanische, für lieben und wollen ein und dasselbe Wort hat – querer muß große Herzen und starke Seelen erzeugen können. Dahin müssen wir es bringen, daß – wenn nicht in unsrer Sprache so doch in unsrer Seele – Liebe und Wille zusammenfallen. Um es dahin zu bringen, müssen sie sich zu ihrer höchsten Höhe, zu Gott, erheben; in ihm sind sie eins; in allem, was[121] er nicht ist, splittern sie auseinander und bewerkstelligen dadurch den innern Zwiespalt, der uns so unselig macht.
Endlich reiste ich nach dem Orient, immer von dem Wunsch beseelt, die Welt kennen zu lernen, wie Gott sie geschaffen und wie der Mensch sie zurecht gemacht hat. O daß ich als fromme Pilgerin dahin gegangen wäre! um wie viel größer wäre mein Genuß gewesen! Doch war er sehr groß. Die majestätische Ruhe des Orients nahm mich in ihre Arme und versetzte mich aus dem wirren Treiben des Abendlandes in eine große erhabene Stille, durch welche die Stimmen der Propheten mir erklangen. Die heilige Schrift war fast meine einzige Lektüre, und ich finde es sehr bezeichnend für meinen Seelenzustand, daß ich eine so große Vorliebe für die Bücher des alten Testamentes, besonders für die Propheten hatte, welche von den Weltkindern selten gelesen werden. Isaias, Jeremias und die Psalmen werde ich nicht müde zu lesen, recht als ob ich auf die Erfüllung ihrer Verheißungen warte. Ich hatte ja noch nicht das Heil der Offenbarung in mir aufgenommen, und so konnte ich keinen andern Platz haben, als zu den Füßen der Propheten, welche sie verkündeten. Jehovas Wort zu seinem Volk durch Isaias: »– ich habe dich bei deinem Namen gerufen, mein bist du –« (43, 1.) das mir von jeher, ich weiß nicht was für eine himmlische Zuversicht in die[122] Seele strahlte, nahm damals förmlich Besitz von ihr. Und wenn ich im Jeremias (31, 3.) las: »Mit ewiger Liebe lieb ich Dich; darum erbarm' ich mich Dein und zieh Dich zu mir:« so meinte ich unter den Weiden an Babylons Flüssen zu sitzen und zu harren auf die Heimkehr nach Sion. »Mit ewiger Liebe lieb' ich dich!« – o diesen Zuruf kann ja die Menschenseele nie, nie vergessen! errichte sie ihren Göttern noch so schöne Altäre, noch so herrliche Tempel, huldige sie ihnen mit noch so großer Inbrunst – umbaue sie sich mit allem, was in der weiten Schöpfung lieblich und erhaben zu betrachten, zu sehen, zu denken, zu bewundern ist – versenke sie sich in die Majestät und den Reiz der Natur, in den Zauber und die Fülle der Kunst, in die geheimnisvolle Tiefe des menschlichen Herzens – es bleibt und bleibt ein Etwas in ihr lebendig, für was sie keinen Namen, keine Bezeichnung hat – und das ist der Durst nach Erlösung. O dieser verschleierte Stern, den die Abtrünnige im Busen mit sich herumträgt, blitzt zuweilen so hell auf, daß jedes andere Licht neben ihm verschwindet. Dann war mir zu Sinn, als hielte ich den heiligen Kelch in den Händen und als wär' er gefüllt mit einem schalen Trank, den ich mich bemühte Nektar zu nennen, der ihn entweihte und der meinen Durst nicht löschte. Und ich wandte mich von ihm ab mit einem Widerwillen, daß ich eine Welt hätte aus der Hand[123] werfen mögen. Und dann sank der Schleier wieder über den Stern und ich war die Alte, froh begeistert für das, was ich meinen Beruf nannte und ganz bereit, die mit ihm verknüpften Melancholien zu ertragen, die ja in Augenblicken der Abspannung und der Untätigkeit in einer so rastlosen Seele erwachen mußten; – in dieser Weise erklärte ich mich mir selbst. »Mit ewiger Liebe lieb ich dich!« dies steht geschrieben auf dem tiefsten Grunde aller Herzen, dies bringen sie mit als eine Erinnerung, eine Mahnung, eine Ahnung ihrer himmlischen Abkunft und ihrer himmlischen Bestimmung. Ach, wir schreiben andre Worte darüber, welche jene heiligen Zeichen fast ganz verwischen und unkenntlich machen. All unsre Leidenschaften, all unsre Torheiten, all unsre traurigen oder holdseligen Lieben wälzen den Ausdruck ihres Jubels und ihrer Schmerzen, ihres Triumphs und ihrer Entmutigung, ihrer himmelstürmerischen Sehnsucht und ihrer vernichtenden Enttäuschungen darüber hin – ohne sie zu zerstören. Mitten in den großen Schmerzen, in den hohen Freuden, in den tiefen Gedanken, in den bangen Trostlosigkeiten tauchen sie auf wie Blicke, wie Stimmen himmlischer Geister, und es geht ein Klingen durch unsre Seele, wovon wir gar nicht recht wissen, was es bedeutet, von wannen es kommt, und worauf wir dennoch mit einer Art von extatischer Freude horchen und innerlich[124] sagen: Ja! ja! – das ist's! das mein' ich, das will ich! alles andre, was ich erreicht habe, ist nicht das Rechte! dies, dies allein hab ich gemeint mit all meinen oft so mühsamen Anstrengungen! dies ist's! – Aber anstatt mit den vollen Segeln des Willens, der Erkenntnis über das wogende Meer zu Hilfe zu kommen, versinken wir ganz schläfrig und matt in unsre Gewohnheiten, unser Behagen, unsre Zerstreuungen, und denken höchstens: mit der Zeit werde es ja wohl klarer und lichter in der Seele werden. Und so vergeht die Zeit in kläglicher Erschlaffung – bis denn doch der Augenblick eintritt, wo das Herz von der Hand Gottes in ein solches Läuterungsfeuer geworfen wird, daß dessen unwiderstehliche Flammen alles herunterbrennen, alles verzehren, und zwischen der Asche und den Schlacken nichts übrig lassen, als den Diamant, den kein Feuer zerstören kann: »Mit ewiger Liebe lieb ich dich; darum erbarme ich mich dein und zieh dich zu mir.
Ja, so ist es für uns alle! o glaubt es mir – für uns alle! Da gibt es keine Ausnahme und keinen Mittelweg: der Durst nach Erlösung läßt keinem Ruhe. Er ist unser aller Ende – o Jammer, daß er nicht unser aller Anfang ist! Er ist der Schmerz, der jetzt durch die Welt zittert, ächzt, schreit. Weil ich ihn mit solcher Vehemenz empfunden habe, darum hör' ich ihn allüberall heraus, hindurch; hier dumpf, dort gellend. Ihr hört ihn[125] auch, um Euch, in Euch – nicht wahr? Könnt Ihr wähnen, dies sei nur ein Schrei nach Brot, oder nach ich weiß nicht was für vergängliche Institutionen, Krücken des äußern Lebens? Nimmermehr! der würde nicht die ganze Welt bis zum Grunde aufwühlen! Er mag die Maske vornehmen, sich selbst damit täuschen, oder andere; allein diese namenlose Unbefriedigtheit, die ihn erzeugt, entspringt nicht aus Mangel an Brot oder der Unvollkommenheit der Gesetze; sondern sie entspringt aus dem Unglauben, welcher der Tod der Seelen ist – und die Seelen wehren sich gegen den Tod und sehnen sich nach der Erlösung, die ihnen das ewige Leben gibt. O Du Seele, welche diese Zeilen liest, ich kenne Dich ja nicht, weiß nicht, wer Du im irdischen Dasein bist und mit welchem Namen man Dich nennt; – aber ich weiß, daß Du Dich nach der Erlösung sehnest – wenn Du nicht etwa schon in ihr ruhest! – und darum flehe ich Dich an: Warte nicht so lange, wie ich gewartet habe, um vor dem geliebten Kreuz niederzuknien! sei stärker als ich, besser als ich, entschlossener als ich – und bleibe nicht so lange in der Gefangenschaft zu Babylon. Vor deinen Augen liegt Jerusalem. O komm' herüber! Traurig sitzest Du dort an den Wassern und blickst ihnen nach, wie sie verrauschen gleich Deinem Leben, das leer und stumm ist, denn Deine Harfe hängt an den Trauerweiden – leer und[126] stumm, auch wenn aller Ruhm der Erde es erfüllte. Steh auf, o Seele, und komm! Jerusalem ist Deine Heimat und nimmt Dich auf mit unsterblicher Liebe; denn es hält eine einzige gerettete Seele höher, als alle irdischen Schätze und Throne und Kronen. Ist es nicht Seligkeit da zu Hause zu sein, wo Du, o Seele, einen solchen Wert hast und wo Du einen gleichen Wert auf andre Seelen legst. O sieh! diese Liebe der Seelen ist das Kennzeichen der alleinseligmachenden Kirche; sie liebt sie gerade wie Christus sie geliebt hat – um eine jede selig zu machen. Wo findest Du das in Babylon? – –
Schön war's im Orient, ach wunderschön! vornämlich da, wo Meer und Gebirg zusammen ein großartiges Gemälde bildeten, z.B. auf dem Libanon und längs der Küste Syriens von Beirut bis zum Berge Carmel. Waren es die Gedanken, die Bilder und Vorstellungen, die ich mitbrachte, die Gestalten, mit denen ich die Landschaften belebte, die biblischen Erzählungen, die Patriarchen und Propheten, die sich an diesen Boden knüpfen – genug, ich fand im ganzen Charakter des Orients etwas unerhört Erhabenes, wogegen alle Kultur Europas winzig und kleinlich erschien. Ich war zu sehr eine Tochter des Abendlandes, um nicht dessen rastloses unermüdliches Streben in mir aufgenommen zu haben; und da sich alles fest und ganz in mir ausprägt, so war ich doch[127] auch sehr empfänglich für den Gegensatz, der mir im Orient als Unwandelbarkeit entgegentrat. So lebte ich zugleich ein Leben der Bewegung und der Ruhe, das mich ganz glücklich machte. Diese großen Kontraste waren es gerade, die ich brauchte, um tief in das Leben einzudringen. Eine Seite, eine Richtung erschöpften es nicht, gingen immer nur gradaus oder rundum. Aber die beiden Seiten, aber die entgegenstehenden Richtungen – und die zusammengeführt auf dem einen Punkt, wo sie sich berühren ohne sich zu paralysieren – das war mir eine Wonne! Frei wollt' ich sein, doch nicht zusammenhanglos; ruhen wollt' ich, aber auch tun; sieghaft kämpfen, aber dann recht gern mich unterwerfen. Diese Unersättlichkeit war der Segen und Unsegen meines Lebens: Unsegen – so lange ich immer über alles Erlangte hinaus und doch nicht nach dem Einen griff, folglich mich nutzlos abmühte wie die Danaiden; Segen – weil ich denn doch durch diese Unersättlichkeit dahin gekommen bin, wo sie ein unerschöpfliches Sein findet, welches ihr Stand und Farbe hält. In der Kirche und nur in ihr ist der unermeßliche Spielraum für alle Richtungen, der Kampfplatz für alle Fähigkeiten des Menschen. Da kann er sich ausleben in Liebe und Glauben – im Glauben und Werken – in Übung des Willens und in Hingebung an die Gnade – im Gebrauch der Freiheit und in freier[128] Unterwerfung. Da muß er sich selbst verantworten und seine Taten – aber indem er sich stützt auf die göttliche Barmherzigkeit. Diese Arena und nur diese ist gerade groß genug für ihn, weil seine sämtlichen Kräfte hier geübt und angewendet und in Atem gehalten und angeregt werden. Ganz natürlich! – sie ist von Gott für ihn geordnet und eingerichtet, und nur der Schöpfer versteht ganz alle Bedürfnisse seines Geschöpfes. In allen Konfessionen außerhalb der Kirche ist diese Arena gerade so eng, wie die einseitige Richtung ihres Gründers es mit sich brachte; folglich verkommen darin Tausende aus Mangel an Luft und Bewegung. Dies erklärt die Menge von Sekten und die große Masse derjenigen, welche sich abseits der Konfession halten – wie ich es tat. Sehr häufig ist es das Gute in ihnen, das weder Nahrung noch Pflege findet, und sie zu diesem Ausscheiden veranlaßt. Aber aus der Kirche ist noch niemand um seiner Tugend, seiner Vortrefflichkeit oder sonstiger guter Gaben willen ausgetreten. Bei mir war es Gutes und Schlimmes gemischt, was mich der lutherischen Konfession abhold machte: die Konsequenz meines Verstandes und die Wahrheitsliebe meines Charakters wurden beide durch dies Gewebe von Widersprüchen abgestoßen; – Stolz, Selbstüberschätzung und ein ganz ungeordneter Durst nach Unabhängigkeit bewirkten, daß ich mich mit dem Guten, welches[129] jenes Gewebe vielleicht enthalten mag, nicht befassen mochte – und jetzt muß ich auf den Knien Gott dafür danken! Denn was wär' es gewesen, wenn sich meine Seele darin zurecht gefunden hätte – aber verkrüppelt! Die seelische Unersättlichkeit macht doch, daß man die Dornen nicht achtet, um sich zur Rosa mystica durchzuarbeiten. Und dann macht sie auch für alle leibliche Bedürfnisse äußerst genügsam. Ein Stück Brot, ein wenig Ziegenkäse, ein Trunk Wasser aus der Cisterne, acht bis zehn Stunden zu Pferd, Schlaf unter dem Zelt inmitten unsers kleinen Lagers, um das die Hunde bellten, auch die Schakale heulten – das alles war mir leicht, ja gereichte mir zum größten Vergnügen, wenn es auf jener Reise vorkam.
Damals empfand ich zuerst einen Schmerz darüber, nicht der katholischen Kirche anzugehören. Bis dahin hatte ich wohl schon öfter gefunden, es müsse gar schön sein, in ihr geboren zu sein, – doch weiter nichts. Nun aber, da ich überall in dem Pilgerhause der Klöster mit größter Gastfreiheit aufgenommen wurde und das Leben dieser demütigen Männer sah, die aus Spanien und Italien herüber gekommen waren, und die orientalischen Sprachen gelernt hatten, um kleinen Kindern Unterricht zu geben und Pilger zu verpflegen; – nun da ich die katholische Kirche in[130] ihrer Glorie, d.h. in Liebe und Armut sah – da fing ich an, sie zu lieben. Und da man mit dem Gegenstand vereint sein möchte, den man liebt, und ein Übertritt ganz außerhalb meines Ideenkreises lag, so fing ich an mich zu grämen.
Namentlich im Kloster auf dem Carmel! Es schwebt eine wunderbare Heiligkeit um jene Stätte, ein ganz idealischer Friede, wie ich nie etwas Ähnliches auf irgend einem Punkt der Erde gefunden habe. Die Küste von Sorrent, die Ebenen von Granada und Palermo sind irdisch schöner, reicher, gesegneter, – allein diesen Charakter von unzerstörbarem himmlischen Frieden haben sie nicht wie jenes Kloster, das vom Vorgebirge des Carmels getragen, aus den Wellen aufzutauchen, zwischen Meer und Himmel zu schweben, und nichts mit der Erde zu tun zu haben scheint. Ende Oktober 1843 war ich dort und schrieb von dort einige Briefe, die in meiner orientalischen Reise stehen, und die später manche Protestanten veranlaßten, zu sagen, ich sei katholisch geworden, und einige Katholiken, ich würde es werden. Bei meinem großen Talent alles zu vergessen, was ich geschrieben habe, weiß ich gar nichts mehr davon! nur den Schluß erinnere ich mich: »Israel, zu deinen Zelten!« – Nach sechs vollen Jahren, Ende Oktober 1849, schrieb ich abermals: »Israel,[131] zu deinen Zelten!« und da wußte ich ganz genau, was ich wollte.
Auf dem Carmel wußte ich es noch nicht! da flutete mir eine große Sehnsucht durch die Brust, aber ich glaubte, daß dies gewaltige, wellenschlagende Element in mir kein andres Ufer suchen und finden könne als die Ewigkeit. Ich kannte die Kirche nicht, weder in ihrer Grundlage, die der Erlöser ist – noch in ihren Dogmen, die er gelehrt hat – noch in ihrer Idee, die Zeit und Ewigkeit in ihr verschmilzt. Ich kannte sie nur in ihrer äußern Erscheinung; – die tat mir wohl, weil sie dem Ideal von himmlischer Liebe entsprach, welches ich ewig wie ein verhülltes Heiligenbild in mir trug; – und so fing ich an, sie zu lieben, aber – ich muß gestehen, mit einer Art von blinder Liebe oder – wenn man will – von ächter Liebe: ich wußte nicht recht warum! Und es hat lange gedauert, bis ich es wußte! aber weil es lange gedauert hat, so hatte die Liebe auch Zeit, ganz in der Stille stark zu werden, viel stärker als ich selbst es ahnte.
Nun, damals dämmerte sie als Morgenröte in mir auf, die aber immer wieder in den Wolken des Tages unterging; z.B. in Jerusalem, wo mir der Hader, in welchem Griechen, Armenier und Lateiner – (so heißen dort die Katholiken) – lebten, den peinlichsten Eindruck machten, so daß ich hundertmal dachte: Es ist doch unmöglich, mit[132] Aufrichtigkeit wünschen zu können, Einer von diesen Kirchen anzugehören! – Ich betrachtete eben immer noch menschliches Tun und Treiben und menschliche Unvollkommenheit als den wahren Ausdruck der Lehre selbst, weil ich zu tief in die subjektive Auffassung versunken war und gleichsam glaubte, im Individuum gehe sie auf und sei vollständig in einem Jeden enthalten. Daher lag mir auch der Übertritt fern! denn nur mit dem Schöneren, nur mit dem Besseren konnte ich mich unmöglich begnügen! das Vollkommene wollte ich – und es gehört Erkenntnis dazu, um es gewahr zu werden.
Zuweilen frag' ich mich jetzt, ob meine Seele vielleicht den Instinkt oder die Ahnung hatte, daß ihr Eintritt in die Kirche bloß eine höhere Erkenntnis und Erfassung des Lebens, sondern eine Umwandlung und Verpflanzung desselben auf einen ganz andern Boden, eine große und gründliche Bekehrung zur Folge haben würde; – und ob ich mich etwa gegen diese gesträubt und daher meinen Willen nicht gehörig zusammen genommen habe. Allein ich muß es verneinen – fast möcht ich sagen, leider! – Ich war so mit mir zufrieden, mit meiner Richtung, mit meinem Pfad und Ziel; so sicher, daß ich dafür bestimmt und daß die Hand Gottes über mir sei – daß die Vorstellung einer Versöhnung mit Gott, einer großen herzdurchbebenden Reue, einer Vergebung der[133] Schuld, einer Erneuerung des Lebens nicht den geringsten Raum in mir fand. Daß im allgemeinen ein Abfall des Menschen von Gott stattfinde, und daß diesem in jedem einzelnen Hochmut und Willkür zugrunde liege: das nahm ich an; auch für mich. Aber dafür mußte der Mensch ja so viel leiden, daß er am Ende doch wohl lernen würde, »seinen Willen in den Willen Gottes hinein zu leben« – wie ich es nannte. Dies Ziel war ja nun sehr gut! nur traute ich dem Willen des unerlösten, des nicht durch die Gnade wiedergeborenen Menschen etwas Unmögliches zu! Er kann sich nicht aus eigener Kraft, mißbraucht, geschwächt, verderbt und gebrochen, wie er durch seinen Abfall ist – zur Vereinigung mit dem Willen Gottes erheben. Das traute ich mir aber mit unglaublicher Tapferkeit zu; nicht etwa nur vor sieben Jahren, nein! noch vor einem Jahr. Denn als mein Entschluß des Übertrittes schon ganz fest war, dachte ich nicht im Entferntesten an eine Erneuerung des Lebens von Grund aus; dazu gefiel ich mir selbst noch immer viel zu gut. Sondern der Drang nach Wahrheit und Wahrheit, nach unvergänglicher, ewiger, nicht selbstgeschaffener, nicht von meinen Launen, Leidenschaften und Schmerzen abhängender – der mich trieb. Von dem Augenblick an, wo ich der Kirche angehörte, aber buchstäblich von diesem Augenblick an – war es anders! Natürlich! ich hatte ja die[134] Wahrheit begehrt; nun stand ich in ihrem Mittelpunkt; nun sah ich in ihrem Licht – und zwar zuerst mich selbst! und da konnte ich denn freilich nicht länger mit mir zufrieden sein. Das ist der Anfang einer Bekehrung, und darauf war ich vorher nicht im Entferntesten vorbereitet. Etwas anderes, als was ich bisher gehabt hatte, wollte ich. Daß dazu gehöre, auch anders zu werden – nein, daran hatte ich mit unbegreiflicher Oberflächlichkeit ganz und gar nicht gedacht. Wie hätte ich es also auf dem Carmel denken sollen!
Ich grämte mich dort, kein geborenes Kind des Hauses zu sein; – das ist gewiß. Ich hatte eine seltsame Scheu, dem heiligen Meßopfer beizuwohnen und hätte es doch so gern getan. Was willst du Fremdling an diesem Altar? sprach ich immer zu mir selbst. Überdas wußte ich nicht, was bei jener heiligen Handlung vorgehe – und fragen? – wieder dieselbe Scheu! mir ganz unerklärlich, da ich immer sehr unbefangen nach allem fragte, was ich nicht wußte und es nie für eine Schmach hielt, meine Unwissenheit auszusprechen. In jenem Akt lag aber so etwas Mystisches! – und hatte ich Furcht, es nicht zu verstehen oder Furcht vor einer Erklärung, die mir nicht gefallen möchte? – genug, ich fragte nicht nach seiner Bedeutung und wohnte ihm nicht ein einziges Mal im Orient bei. In Jerusalem hätte ich so gern eine heilige Messe in der Kirche zum heiligen[135] Grabe lesen lassen, wie andere das taten; allein immer lähmte mich der Gedanke: du bist ja doch kein Kind des Hauses.
Es war damals ein anglikanischer Bischof von protestantischen Regierungen nach Jerusalem gesendet, um die religiösen Bedürfnisse und Interessen der Protestanten in Syrien zu pflegen – was er denn auch hoffentlich getan haben wird. Als ich in Jerusalem war, pflegte er die Gesundheit seiner neun Kinder, die vom Fieber befallen waren, und machte mit ihnen einen Aufenthalt am Meere – der brave Mann! Übrigens hätte es in Jerusalem von anglikanischen Bischöfen wimmeln können – ich hätte nicht hingesehen. Ich kannte von Bischöfen den heiligen Augustinus, den heiligen Karl Borromäus, Bossuet, Fénélon – diese großen Seelen, großen Geister, großen Herzen, diese ächten und rechten Nachfolger der Apostel, diese erhabenen Gestalten, welche das Leben in die Sphäre hinein hoben, wo der idealische Mensch seine Befriedigung findet. Die kannte ich aus ihren Schriften, Taten und Werken; die liebte, bewunderte und ehrte ich, denn die standen weit über meinem und dem alltäglichen Leben der Menschen; in denen fand ich diese himmlische Vollkommenheit, für welche der Maßstab nicht zu groß war, den ich mit meinem Durst und Drang nach etwas Vollendetem immer bei der Hand hatte. So war für mich ein Bischof das[136] Ideal von einem Menschen geworden. Aber was ums Himmelswillen hatten anglikanische Bischöfe mit dem Ideal gemein! sehr rechtschaffene und ehrenwerte Männer, die ein sehr respektables Leben führen, allein mit nichten über dem Leben stehen – mit nichten die Welt überwunden hatten, mein geliebtester St. Augustinus.
Ebenso war es auch mit den protestantischen Missionären, mit diesen Gentlemen im schwarzen Frack, mit Weib und Kind. Wie konnten die wohl den Heiden predigen, alles zu verlassen, um dem Kreuz nachzufolgen! Was hatten denn sie verlassen? denn sie geopfert? und wie will man denn für irgend etwas begeistert sein, dem man kein Opfer gebracht hat? Das soll doch wohl nicht Opfer genannt werden, wenn man einige Mühseligkeit erträgt? – was auf jeder Reise geschieht; oder wenn man einige Stunden des Tages hingibt? – um es sich dann recht irdisch behaglich zu machen. Nein, da waren meine armen Franziskanerpater in der Kutte und mit dem Bettelsack, in ihren armen durch ganz Syrien, von Damaskus bis Ramla verstreuten Klöstern ganz andere Leute! die hatten etwas geopfert, nämlich das Höchste, was der Mensch opfern kann: sich selbst! und wer das tun und sein Ich verlassen kann – der darf es mit gutem Gewissen anderen zumuten. Geschieht es ohne gutes Gewissen, so hat es keinen Erfolg. Diese Betrachtungen mache ich nicht etwa jetzt erst;[137] o nein! in meinen orientalischen Briefen ist mancherlei gerade über diesen schneidenden Gegensatz gesagt und mit jener vollkommenen Unbefangenheit, die man immer hat, wenn man ganz parteilos ist. Nicht bloß meine Erkenntnis war noch umdunkelt, so daß ich nicht das eigentliche Wesen und Leben der Kirche erfaßt hatte, sondern auch Gefühl und Wille schweiften nur so am Umkreis umher und ich dachte doch alle Augenblicke wieder: Du bist ein Kind Gottes! wozu brauchst du eine Kirche? – Die guten Pater Franziskaner waren keine augustinische Erscheinungen; aber es freut mich jetzt ganz unsäglich, daß ich damals den Seelentakt, möcht' ich es nennen – schon gehabt habe, sie auf eine ganz andere Stufe zu stellen als die protestantischen Missionäre. Wie war das aber möglich? – Es ging mir mit ihnen wie mit Murillo: ich hatte einen Kultus für die Schönheit – dafür warf sie mir einen Strahl der göttlichen Wahrheit in die Seele; und ich hatte einen Kultus für die idealische Richtung des Menschen – daher war ich im Innersten getroffen, als sie mir hier in so schlichter, in so demütiger, unscheinbarer Gestalt entgegen trat. Für ein Geschöpf wie ich, das sich so unbefangen zum Mittelpunkt des Universums machte, war es etwas unerhört Interessantes und Übermenschliches, Wesen meiner Art zu finden, die in so bescheidener Selbstaufopferung und Selbstverleugnung der Religion sich hingaben.[138] Ich fand das wundervoll; ja, ganz himmlisch fand ich es – nur zog ich für mich selbst leider! leider! auf keine Weise einen Schluß daraus. Ich beschränkte mich darauf, zu finden, daß die Reformatoren ebenso unweise als brutal gehandelt hatten, die Klöster aufzuheben.
Wohl war es brutal und unweise – so sprech' ich jetzt; aber es war noch etwas ganz anderes: es war das höchste Verbrechen an der Menschheit, welches sie begingen: sie nahmen ihr das Ideal der Vollkommenheit und damit lähmten sie ihr höchstes Streben – dasjenige, um welches es sich allein der Mühe lohnt, zu leben. Es war ja natürlich, daß der abgefallene Mönch von Wittenberg, der dies Ideal mit Füßen trat, wünschen mußte, es vom ganzen Erdenrunde vertilgt zu sehen, um nicht die Zeugen seiner unsterblichen Schmach vor Augen zu behalten. Aber daß seine Anhänger dies nicht einsahen, daß seine Lehre dermaßen demoralisierend auf sie wirkte, um ihm zu helfen, das Ideal als ein Schattenbild zu beseitigen; daß die Seelen von Hause aus dermaßen in der gewöhnlichsten Natürlichkeit gehalten wurden, um mit einer Art von Haß das Streben nach dem Ideal zu verwerfen; ist denn das nicht trostlos traurig für diejenigen, welche später nur durch ihre Geburt, nicht durch eigene Wahl dieser Lehre folgten, die nun schon seit dreihundert Jahren[139] die Atmosphäre des sittlichen Lebens vergiftet hat.
O bei dem abgefallenen Mönch fügte sich ganz folgerichtig ein Kettenglied seiner verderblichen Lehre an das andere. Hochmut führte ihn zum Abfall, Eigenwille bestärkte ihn darin. Er brach heilige, himmlische Gelübde, die er allein Gott dem Herrn zu Ehren abgelegt; aber er sprach: das tut nichts! ich glaube, daß der Erlöser für mich sein kostbares Blut vergossen hat und daß ich durch diesen »Glauben allein« selig werde. Er riß Tausende in seinen Abfall hinein; das ganze Heer der Neuerungssüchtigen, der Kurzsichtigen, der schwachen engen Köpfe; der Hämischen, denen es eine Wonne ist, der Größe Nadelstiche zu versetzen und in der Sonne Nebelflecke zu finden; der Schwachgläubigen, die, weil sie in der streitenden Kirche Schwächen und Fehler gewahrten, die triumphierende darüber vergaßen; der Ungehorsamen, die gern jeden Zügel abschütteln; der Rohen, welche das Recht und die Notwendigkeit einer starken Herrschaft der Religion nicht begriffen; der Sinnlichen, welche weder mit dem lieben Gott noch mit ihren Gelüsten zu brechen nötig hatten; der Heuchler, denen der »Glaube allein« gar willkommen zum Aushängeschild war; – kurz, die ganze Nachtseite der menschlichen Natur wurde magnetisch von Luthers Lehre angezogen: denn er brachte sie zu Ehren, während die Kirche[140] zum unermüdlichen Kampf gegen sie aufforderte. Er fand ein Weib, das seiner würdig war: die entlaufene Nonne schickt sich aufs beste für den abtrünnigen Mönch! das Maß der gebrochenen Gelübde wurde dadurch erfüllt und von den niedern Vorzügen der Menschlichkeit der breiteste Besitz genommen. Daß die Ehe dadurch ihren sakramentalischen Charakter verlieren mußte – versteht sich von selbst! Kein Sakrament wird demjenigen gespendet, der in einer Todsünde lebt. Luther wußte sich zu helfen: er verwarf die Sakramente! so war er darüber beruhigt, die Priesterweihe entheiligt zu haben! und was ferner aus der Ehe werden solle, wenn sie, ihrer sakramentalischen Weihe beraubt, nichts war als eine Verbindung, die man mit Hinansetzung eines früheren Gelöbnisses schließen und mit einem Meineid beginnen dürfe – was kümmerte ihn das? was kümmerte das die Menschheit? »der Glaube allein macht selig!« – Das wurde ihm selbst zuweilen schwer zu glauben. Ach, der Unselige hatte ja die Erinnerung zu betäuben und im Trotz festzusetzen, verwarf er die heiligmachende Gnade, welche die Sakramente bringen, verwarf er die Heiligen, in denen jene Gnade lebendig gewirkt hat, verwarf er die Möglichkeit, daß der Mensch je aus dem Pfuhl seiner Sünden durch die Gnade, welche der Wille erfaßt, sich herausarbeiten könne; – verwarf er eben alles, wodurch[141] die Kirche für unsere unsterbliche Seele sorgt. Der Heiland hat gesagt: »Ihr sollt vollkommen werden, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist;« um die Seelen in diesem Streben zu unterstützen, hat er die Sakramente eingesetzt, hat er die evangelischen Räte gegeben, um einzelne, höher Begnadigte, auch noch höher zu sich empor zu ziehen und in drei Gelübden ihr vollkommenes Opfer anzunehmen; denn in dem ersten opfern sie die Welt – im zweiten Leib und Leben – im dritten die Seele ihm auf. Die vollkommenste Selbstverleugnung aus Liebe zu Gott – das ist der Weg zur Vollkommenheit, und der muß immer wieder und wieder den Seelen gezeigt und mit dem Lichte der Gnade erleuchtet und durch die Hand der erbarmenden Liebe geebnet werden. Denn wir sind so beschaffen, daß wenn wir nicht ein Ziel vor Augen sehen, welches uns schwer, fast unmöglich zu erringen scheint, so werden wir matt und selbstzufrieden. Nur die Anwendung unserer besten Kräfte schützt uns vor Ermattung, und nur das Bewußtsein, von der göttlichen Gnade dazu befähigt zu werden, bewahrt uns vor der alles vergiftenden Selbstzufriedenheit.
Die Kirche spricht zu der Seele: Du sollst heilig werden! – und Luther spricht: Sei ein Sünder und sündige tüchtig! »der Glaube allein macht selig.« –
Ihr meint, Luther habe auch bessere Dinge[142] gesagt. Kann sein! er war klug genug, sobald er nicht wider die Wahrheit sprach! Aber mit einzelnen besseren Aussprüchen klebte er nur die Lücken in dem dürftigen Gebäude seiner Lehre aus; und fiel er später selbst in einigen Widerspruch mit derselben, so kam das daher, weil sie auf der Ebbe und Flut seiner Subjektivität beruhte, bald nach dieser Seite schwankte, bald nach jener, Stützen brauchte und ihn veranlaßte, dieselben zu nehmen, wo er sie fand, und wenn er auch einen selbsterbauten Pfeiler deshalb wieder einreißen mußte. Aber mögt Ihr denn in einem so schwankenden Gebäude, das kein Fundament hat und nie unter Dach und Fach gekommen ist, wohnen bleiben? – Wenn ein Windstoß vonder Welt herüber kommt – wenn ein Donner dröhnend über Eurem Haupte fortrollt – fühlt Ihr es da nicht unter Euern Füßen schwanken? Habt Ihr nie daran gedacht, daß in unserer wahrlich nicht zart- oder hochsinnigen Zeit ein Mensch wie Luther nur vom Pöbel – vom hoch und niedrig geborenen Pöbel, nimmermehr von rechtschaffenen edlen Menschen, Zulauf haben würde? – Als vor einigen Jahren das Rongefieber im protestantischen Deutschland grassierte, das sich teilweise aus altem Haß gegen die katholische Kirche sehr für ein Paar schlechte Priester interessierte, hatte dieser Ronge einen Kameraden, den man – ich dächte, Cerski genannt hätte. Als dies Individuum[143] für gut fand, seine Köchin zu ehelichen, hatten selbst die Personen genug von ihm, welche mit jenem Fieber behaftet waren und es war fortan nicht mehr von ihm die Rede. Darauf kommt es gar nicht an, ob Luther einzelne gute Sachen gesagt und getan hat; denn das kommt im Leben eines jeden Menschen, Verbrecher und Sünder inbegriffen, vor. Bei dem Stifter einer Religion kommt es an auf seine Lehre und auf den Zusammenhang seines Lebens mit derselben. Beides war bei Luther aufs engste verbunden, gründlich abhold der idealen Richtung des Menschen, und folglich im gründlichsten Widerspruch mit der Lehre Christi, welche als Hauptziel die Heiligung im Auge hat.
Ist es anders? – ich denke nicht! Spreche ich Unwahrheiten? – o gewiß nicht! – Oder was meint Ihr sonst? – Meint Ihr etwa, ich wolle die Schuld meiner eigenen Fehler und Torheit auf die lutherische Lehre schieben? – Das wäre echt protestantisch von Euch gedacht, da Ihr die Vollkommenheit verwerft, wie die Kirche sie lehrt, weil sie in schwachen Menschen nur unvollkommene Organe gefunden hat und weil Ihr immer nur in ihren schlechtesten Kindern die Wirkung der Religion als Erzieherin der Menschheit sehen wollt. Aber so spricht der Katholik nicht! er sagt nicht: Die göttliche Lehre taugt nichts, weil ein oder einhundert oder eintausend Individuen[144] nichts taugen; – sondern er sagt: sie wenden ihren freien Willen schlecht an. – Obgleich nun gar kein Vergleich zu ziehen ist zwischen einer göttlichen Offenbarung und zwischen der lutherischen Lehre, so fällt es mir dennoch gar nicht ein zu sagen, sie sei Schuld an dem, was ich getan und nicht getan; was ich war und nicht war. Mein Wille, unerlöst und matt wie er war, hätte dennoch mit seiner menschlichen Kraft besser angewendet werden müssen und können; das sehe ich ja bei so vielen Protestanten, die tausendmal besser sind als ich. Und jetzt habe ich ja über das meine Versöhnung gefunden, so daß es meiner Seele für ihr ewiges Heil ebenso gleichgültig ist, ob die lutherische Lehre existiere – als wichtig, daß die katholische für alle Ewigkeit existieren werde. Also denke ich gewiß nicht daran, dem armen Luther, der so schwer an seinen eigenen Taten zu tragen hat, die meinen aufbürden zu wollen. Ich habe es nur mit seiner Lehre zu tun, die ich von zu Hause aus teils giftig, teils brutal, immer irdisch unvollkommen finde; dermaßen, daß wenn man mir im Protestantismus erwachsene Engel zeigte, ich sagen würde: Das sind sie durch die Gnade Gottes, aber nicht durch ihre Konfession. Ich behaupte durchaus nicht, sie sei deshalb nicht erhaben, weil ich nichts weniger als erhaben war – denn das bin ich als Kind der Kirche auch nicht! – allein ich werde[145] nie aufgeben, zu behaupten, daß sie nicht erhaben sein kann, weil ihr Stifter ein schwaches blindes Menschenkind war, das durch seinen Abfall der heiligmachenden Gnade beraubt wurde, sie folglich nicht in seine Lehre hineinbringen konnte und folglich die Richtung zum Ideal, zur christlichen Vollkommenheit, abschneiden mußte, weil sie ohne Heilung unmöglich ist. Deshalb setze ich auch noch hinzu: und daß sie gänzlich unfähig ist, erhabene Menschen zu bilden: – ich meine nicht geistesstarke oder charaktervolle Menschen, denn das ist möglich ohne christliche Lehre überhaupt; sondern im göttlichen Sinn – erhaben wie die Heiligen.
Welch ein Unterschied bei der Erziehung der Jugend ist es, ob man ihr als Ideal Epaminondas oder sonstige antike Helden vorführt oder ihr den Blick in den Himmel und auf die unabsehbaren lichten Reihen der Heiligen öffnet; – ob man ihr jene als schöne Bilder zeigt, die in der Wirklichkeit längst abgestorben und ohne warmen Lebensverband mit ihr, aber doch recht schön zu betrachten und zu bewundern sind; oder diese, in der Fülle und Glorie des ewigen Lebens, keine Bilder, sondern Vorbilder, leiblich abgestorben zwar, doch in innigster Gemeinschaft mit den auf Erden Lebenden, weil aus dem Verbande der Kirche keine Seele – die sich nicht selbst ausscheiden will – ausscheidet; hinaufgestiegen aus[146] dem Streit zum Triumph, immer durch große Schmerzen, Prüfungen und Qualen – zuweilen durch große standhaft besiegte Versuchungen – manchmal nach mühselig überwundenen Sünden – noch seltener in ungetrübter Unschuld; – aber hinauf gestiegen aus demselben Leben, aus ähnlichen Verhältnissen, wie jedes Erdenkind, das eine vor sich, die andern um sich her erblickt. – Welch einen mächtigen Einfluß muß es haben, wenn das junge liebende Auge und das warme empfängliche Herz eines Kindes auf diese Vorbilder hingelenkt wird, so daß mit seinem Blick zugleich auch sein Streben sich dem Himmel zuwendet, für den es berufen ist. Was soll es für seine himmlische Bestimmung mit Epaminondas anfangen? oder mit Cato? oder mit Hektor – dem Heros meiner Kindheit? – Und welche Mutter unter der Sonne würde nicht gern ihr Kind seiner himmlischen Bestimmung entgegenreifen sehen? – Nun, ihr armen Mütter, denen die brutalen unweisen Reformatoren jenen überirdischen Tempel zugeschlossen haben, dessen Vorhof die Erde sein soll: das ist die himmlische Bestimmung Eurer Kinder, in jenen lichten Reihen einen Platz zu finden! und nicht etwa nur so eine allgemeine, blos angedeutete Bestimmung, wie sie im Glauben an Unsterblichkeit enthalten ist; sondern sie ist Jedem zur Pflicht gemacht, und[147] die Kräftigungen, um diese Pflicht erfüllen zu können, werden Jedem geboten.
Aber davon wißt Ihr freilich nichts, Ihr armen Mütter! Ihr wähnt, die katholische Kirche habe einen Himmel voll Heiligen, damit dieselben statt des lieben Gottes angebetet würden; – nicht wahr? Wollt Ihr wissen, warum sie ihn hat? Weil das Wort des Heilands: »Ihr sollt vollkommen sein« – in seiner Kirche verstanden worden ist. Dieses Wort und die Kraft der Sakramente haben dies Geschlecht von Heiligen in allen Jahrhunderten erzeugt und werden fort und fort es erzeugen. Und hätte die Kirche nichts für die Menschheit getan, als dies unsterbliche Geschlecht ihr gegeben, so würde ihr schon dafür ganz allein unsterblicher Dank gebühren, weil sie in ihm jedem Menschen das höchste Ziel, seine Vollkommenheit, als möglich und erreichbar vor Augen hält. Eine Religion, welche ein sittliches Ideal weder begreift, noch erzeugt, ist keine – denn sie versteht nicht das höchste und tiefste, in jeder Menschenbrust rege Streben zusammen zu fassen und in einem Brennpunkt auszustrahlen. Eine Religion, die keine Heiligen bilden kann, noch will – taugt nicht dazu, Menschen zu bilden; denn die Verwirklichung des Idealen, das ist Bildung des Menschen – und sonst nichts! Mit Luthers Prinzipien (es ist mir wirklich nicht möglich, das heilige Wort Religion mit ihm in Verbindung zu[148] nennen!) bildet man Erdengeschöpfe. Der Glaube allein macht selig; – gleichviel ob ein Leben der tiefsten Verworfenheit oder der heiligsten Liebe – Taten des Fluchs oder des Segens diesen Glauben nicht etwa erfassen – das würde einen freien Willen voraussetzen und den verwirft Luther, weil er dann für sein Tun hätte verantwortlich sein müssen, was ihm lästig schien – sondern diesen Glauben mit sich herum tragen und beruhigt sprechen: »Wo der Glaube ist, schadet keine Sünde«; und gelassen in ihr verbleiben, als in dem Recht des Erdengeschöpfes, welches dem Erlöser nicht in seinen Werken nachzufolgen hat; – ist darin auch nur das geringste, was unserer wirklichen Bildung förderlich sein konnte? nur ein mattes dämmerndes Fünkchen, um unsern Weg aufwärts zu beleuchten? nur eine schwache Stütze, um unsern Willen zu kräftigen? Gewiß nicht. Nach diesen Prinzipien ist gar kein Grund vorhanden, weshalb der Wille im Guten geübt werden sollte und wozu Selbstüberwindung und Bekämpfung des Bösen in uns dienlich sein könnten. Da nun aber jeder Mensch die Tätigkeit des Willens in sich spürt und keiner leugnen kann, daß Selbstüberwindung dennoch eine sehr gute Sache sei – besonders wenn man sie dem nächsten zumutet, nicht sich selbst – so machte man die Erfindung, man müsse aus moralischer Kraft gut sein, und damit war die Religion als Erzieherin[149] und Bildnerin des Menschen beseitigt. Sie wird eine gewisse Form für gewisse Gebräuche des bürgerlichen Lebens. Man brauchte sie zum Taufen der Kinder, zum Trauen der Erwachsenen, zum Predigen am Sonntag, zur Erteilung des Abendmals zu Ostern; – und die Erziehung machte man mit der moralischen Kraft, die den Menschen auf sich selbst – folglich nicht unter Gott, sondern ihm gegenüber stellt. Und so nimmt alles, was aus Rebellion geboren ist, den rebellischen Stempel ganz unwillkürlich, ganz unbewußt an; um so schärfer, je schärfer der Charakter ausgeprägt ist. Jeder schafft sich nun selbst sein Ideal, d.h. er nimmt diejenigen seiner Eigenschaften, welche er für seine besten hält, und welche sehr oft seine schlechtesten sind, entwickelt sie einseitig bis an ihre äußerste Grenze, prallt tausendmal damit an und ab, findet das äußerst befremdlich, äußerst ungerecht, gewöhnt sich nach und nach daran, und isoliert sich allmählich in sich selbst und in den Trostgründen seines Egoismus – statt sich hin- und aufzugeben an die göttliche Liebe.
Ihr entgegnet mir vielleicht: Du bist so gewesen, darum glaubst Du, daß alle so sein müssen; aber wir sind anders! – Ich bin so gewesen, das versteht sich! und ich wünsche Euch aufrichtig Glück, daß Ihr anders seid. Aber einzelne Beispiele beweisen nichts; an das Prinzip muß man sich halten. Könnt Ihr beweisen, daß die Folgerungen[150] falsch sind, die ich aus demselben gezogen habe? und wenn sie richtig sind – ist dann das Prinzip nicht falsch?
Ins Herz muß die Religion zurückkehren, denn Gott will das Herz haben, und nur sie vermag es, ihm dasselbe darzubringen, nur sie macht opferfähig und opferfreudig – und davon hat die ganze Gesellschaft der Reformatoren nicht die leiseste Ahnung gehabt. Wie sie herabblickt in hochmütiger Selbstüberschätzung, diese Gesellschaft, auf den armen Mönch, auf den armen Priester, der sein Leben der Entsagung gern und demütig fortlebt! Wie sie sich breit machen, diese Herren mit ihren Weibern, mit ihren Kindern, mit ihrem Essen und Trinken, mit ihrer Besitznahme von den Menschenrechten, welche die Kirche ihnen boshafter und törichter Weise entzogen! Wie sie sich brüsten mit der Erfindung ihres neuen Glaubens, den sie einen gereinigten – ihres neuen Gottesdienstes, den sie im Geist und in der Wahrheit angeordnet nennen! Und ihr Glaube ist ein leerer Begriff, ein gemaltes Feuer, das nicht wärmt und nicht leuchtet; und ihr Gottesdienst ist ein öder Spiritualismus, der die Seele austrocknet und eine flache Nüchternheit, welche sie gleichgültig macht! – Wie das Leben dieser Männer so voll von allem ist, was der Mühe des Lebens nicht wert – und so bettelarm an dem Einen ist, was dem Leben Wert und Würde und[151] Schönheit gibt – an Opfer! Freilich: Christus hat sich ja geopfert; da wär' es nur eine Schmälerung seines unendlichen Verdienstes um unsre Rechtfertigung, wenn wir ihn in seinen Werken nachzufolgen suchten! sein Opfer hat dermaßen für uns genug getan, daß wir uns beileibe nicht mit Opfern kasteien, sondern uns nur das seine zu Gemüt führen müssen, um der Seligkeit gewiß zu sein. Gibt es eine bequemere Lehre? darf man sich wundern, daß die armen Menschen, welche die Bequemlichkeit so lieben, in hellen Haufen ihr zugerannt sind.
O Du armer Priester, Du armer Mönch! Ihr denkt schlecht und recht, daß der Heiland gemeint hat, was er gesagt hat: Folget mir nach. Arm wie Er, der nicht hatte, wohin sein Haupt zu legen – entsagend wie Er, der von der Lust der Welt sich abgewandt – gehorsam wie Er, der bis zum Kreuzestod gehorsam war – habt Ihr in Liebe zu ihm sein Opfer begriffen und es Euch wahrhaft zu eigen gemacht, indem es Euch selbst in ein freiwilliges Opfer verwandelte. Darum ist in einem einzigen Tage Eures Lebens mehr Tiefe, mehr Liebe, mehr Glaube, mehr Schönheit und Würde als in dem ganzen Leben aller Reformatoren zusammen genommen.
Findest Du das nicht, genußsüchtiges Weltkind? Du denkst nicht daran, Du magst nichts davon hören; – ja, das glaub' ich gern! aber wenn[152] Du einmal daran denkst, wird Dir das Herz nicht groß und warm bei der Vorstellung einer gänzlichen Hingebung Deines Wesens an die Liebe zu Gott? Nein? bist Du so erwachsen in gegnerischen Vorstellungen oder so verwachsen mit der Behaglichkeit und den Freuden der Welt, daß Du Dich nicht einmal in Gedanken davon losmachen kannst? Nun, so denke nicht für Dich daran, sondern etwa für Dein geliebtes Kind. Würde es Dich nicht freuen, wenn Dein Kind das Opfer der göttlichen Liebe begriffen, im Herzen aufgenommen und folglich sein Herz zum Opfer an sie umgewandelt hätte? – Was ein Vater antworten würde, weiß ich nicht; – aber das weiß ich: jede Mutter unter der Sonne würde jauchzend rufen: »Ja!« – Stehen sie aber außerhalb der Kirche, die Mütter, so sind sie sehr zu beklagen; dann kann der zärtlichste Wunsch ihres Herzens für ihr Kind nicht in Erfüllung gehen. Die Abgefallnen wußten nichts vom Opfer, denn mit dem Ideal der Vollkommenheit mochten sie sich nicht befassen, und ihren Nachfolgern haben sie den Weg versperrt. Protestantische Menschen müssen alle in einer Weise ihr Leben hinbringen: sie müssen heiraten; sonst sind sie überflüssig und nehmen anderen den Platz fort. Abgesehen davon, daß eine gänzliche Unkenntnis des menschlichen Wesens aus dieser einförmigen Einrichtung spricht, liegt auch noch eine erstaunliche Trivialität ihr zum Grunde; denn[153] ihr zufolge wird nur der Leib eines Menschen geschätzt, nicht seine Seele. Die Kirche, mit ihrer Liebe der Seelen, hat gewußt ihnen einen Platz einzuräumen. Aber um das zu verstehen, müssen die Protestanten erst alle Gewohnheitsnetze ihres Kopfes mit dem Herzen zerrissen haben – und das geht nicht schnell und nicht leicht.
Im Frühling 1844 kam ich aus dem Orient zurück. Das tumultuarische Abendland machte mir einen unangenehmen, beklemmenden Eindruck. Soeben hatte ich zwei volle Monat auf den stillen Fluten des Nils, umringt von der stillen Wüste, zwischen stillen Ruinen gelebt – und nun auf einmal dieser Lärm, dies Treiben, dieser Luxus, diese Hantierung in allen Richtungen des Lebens! – das betäubte mich. Ich war nur zehn Monate entfernt gewesen, allein so gründlich, so mit allen Gedanken und Gesinnungen entfernt, daß ich wie aus einer anderen Welt heimkehrte und die Zustände der heimischen wie mit frischgewaschenen Augen verwundert betrachtete. Wird denn niemand den schauerlichen Meeresstrudel gewahr, an dessen Rand wir gedrängt werden? mußte ich immer denken. Ich schrieb in mein Notizenbuch am 14. Julius:
»Volksaufstände überall, in Schlesien, in Prag, in Ingolstadt! Überall revolutionäre Bewegung derer, die nichts haben, gegen die, welche[154] etwas haben. Noch ist die Bewegung tappend, unsicher, zaghaft – ein Kind, das gehen lernt und seine Kräfte versucht; aber es übt sich und hat den Weg gefunden. Wir gehen unerhörten Zeiten entgegen. Mir grauet vor den nächsten fünfzig Jahren. Wie es jetzt ist, kann nichts bleiben – nicht Kirche, noch Staat, noch Gesellschaft. Die Auflösung hat innerlich begonnen; nach außen kann sie vor der Hand unterdrückt werden; – – aber auf wie lange?«
Ich studierte kommunistische und sozialistische Systeme, um ausfindig zu machen, ob in ihnen der Kern enthalten sei, um welchen eine neue Gestaltung der Welt sich organisieren könne. Allein ich fand nicht, daß sie organische Kräfte, sondern nur mechanische ins Leben riefen; fand keine Einheit, sondern nur Einförmigkeit; keine schöpferische Tatkraft, sondern nur zersetzende Fähigkeit; keine verbindende, sondern nur atomisierende Elemente; mit einem Wort: keine Befähigung zum Leben – geschweige zum ewigen Leben.
Es gab damals Personen, welche standhaft die wirkliche Existenz des Kommunismus und seiner Propaganda leugneten, und welche behaupteten, er sei nur in Büchern vorhanden. Darüber wurde sehr viel gestritten und ich sagte einmal:
»Es ist impotentes Gesindel, aber durch giftigen Neid wird es uns viel Schaden tun! es[155] wird zerstören und nichts aufbauen. Neid und Impotenz gehen Hand in Hand.«
Dann studierte ich Schriften von Luther, die mir bis dahin ganz unbekannt geblieben waren. Vielleicht ließ sich in ihnen das Schöpfungswort für das moderne Chaos entdecken, welches ich bei den Kommunisten nicht fand. Aber dabei erging es mir ganz schlecht. Ich bekam Anwandlungen von Rationalismus, weil ich von diesem dürren Spiritualismus, der mit dem dicksten Materialismus Hand in Hand ging, fürchterlich abgestoßen wurde, und dazwischen dann doch zuweilen einen Brocken fand, der mich in meiner Vorliebe für die angeerbte »Religion des Individuums« bestärkte. So nannte ich den Protestantismus, ohne gewahr zu werden, daß eine solche Religion alles andere eher ist als Religion, als das gemeinsame Band, welches alle Seelen umschlingt, um sie für das Himmelreich zu bilden. Ich schrieb:
»Ich bin im protestantischen Land, in protestantischer Zeit geboren, und bin meiner Geistesrichtung nach protestantisch. Aber vor der jetzt modischen evangelischen Kirche ekelt es mich! – Nein! Kirche – wenn Kirche sein soll! – gibt es für mich nur eine, die Katholische; und Sankt Augustinus deutet mir ihre Lehren – wenn Deutung sein soll! – eindringlicher, tiefer inniger als Luther.«
Die willkürliche Auffassung und Deutung[156] waren es eben, weshalb ich meine Geistesrichtung protestantisch zu nennen beliebte, und in allen Schriften Luthers gefiel mir nichts so sehr, als das, was er über das Priestertum zum besten gibt:
»Ein jeglicher getaufter Christ, der ist auch schon ein Priester; nicht durch den Papst und Menschen dazu geweihet oder gemacht, sondern durch Christum selbst in der Taufe zum Priester gezeuget und geboren. Das ist Not zu wissen, auch um des päpstlichen Greuels willen, welcher den Namen Priester allein auf seinen beschornen Haufen gerissen hat.«
Da ich nun so gut getauft war wie jeder andere Christ meine Bibel so gut inne hatte wie mancher, und meiner Erleuchtung durch den Geist der Wahrheit auch nicht sehr mißtraute: so hielt ich mich für vollkommen befähigt, meine eigene Priesterin zu sein und freute mich ungemein, eine Stelle zu finden, in denen sich Luther ganz einverstanden mit dem Priesterinnentum ausspricht:
»Wo nicht Männer da wären, sondern eitel Weiber, als in Nonnenklöstern, da möchte man auch ein Weib unter ihnen aufwerfen, das da predigte.«
Trotz dieser rand- und bandlosen Zerfahrenheit oder eigentlich so recht mit ihr, eine Kirche bilden zu wollen, war allerdings ein Bestreben, von dem ich mit Recht widerwillig mich abwandte, weil es ohne grobe Selbsttäuschung, ja ohne Lüge[157] nicht unternommen werden konnte. Hätten die Protestanten eine Ahnung von dem Meere der Widersprüche, in welchem ihre Reformatoren schwimmen, sie würden sich eilends flüchten zum Felsen Petri; denn wo keine Konsequenz und keine Einheit ist, kann da die ewige Wahrheit sein?
In jenen rationalistisch gefärbten Tagen schrieb ich einer Freundin in diesem Sinne, d.h. ich erklärte nach meiner Weise die Offenbarung und ihren Zusammenhang mit der natürlichen Religion. Nicht gering war mein Schreck, als sie mir eines Tages einen Aufsatz übersendete, in welchem ich eine Zusammentragung aller einzelnen Stellen meiner Briefe zu einem zusammenhängenden Ganzen erkannte – welche eine Person ihres Kreises gemacht hatte – und mich fragte, ob dieser Aufsatz nicht in irgend einem Journal dürfe gedruckt werden. Als ich ihn las, fand ich ihn so unbeschreiblich nüchtern und steril, wie etwa Luthers Erklärung des hohen Liedes, daß König Salomon in demselben die Polizei und das gute Regiment seines Reiches gelobt habe. Mit großer Entschiedenheit verbat ich den Druck des Aufsatzes.
Aus dieser platten Seelenstimmung rettete mich ein Ereignis, welches in Norddeutschland ungeheures Aufsehen machte: die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier. Man verstand das gar[158] nicht! was sollte das bedeuten? was wurde damit beabsichtigt? und wie merkwürdig und unbegreiflich, daß Tausende und aber Tausende, rheinauf, rheinab dahin wallfahrteten – nicht etwa nur die niedern Klassen des Volks, sondern die Vornehmen, die Gebildeten ebenfalls! und konnte dieser Rock wirklich das Kleid sein, welches der Heiland getragen hatte? – und waren wirklich die Wunderkuren durch ihn geschehen, von denen die Zeitungen erzählten? – Ich staunte wie alle Übrigen über diese religiöse Begeisterung, von welcher der Protestant nicht die mindeste Ahnung hat. Aber statt sie zu verwerfen oder zu belächeln, tat sie mir wohl. »Ob es derselbe Rock ist, weiß ich nicht – schrieb ich damals – aber es ist derselbe Glaube, der einst das kranke Weib vor Christus niederwarf, um nur den Saum seines Kleides zu berühren und davon zu gesunden.« Mein Instinkt war immer richtig, und mein Räsonnement immer falsch! denn wenn der alte Glaube so fest, so glühend, so unwandelbar in der katholischen Kirche lebte, daß er Wunder hervorrief, wie konnte ich dann sagen: Besser keine Kirche als nur eine Kirche! Und es war keineswegs das Wunder, das Übernatürliche, das mich zurückschreckte! im Gegenteil! ich schrieb:
»Der Philister spricht naserümpfend: An Wunder glauben die kleinen dummen Menschen! – So? – Nun, dann haben sie mit den großen[159] und klugen ein und dieselbe Fähigkeit. Denn Gottlob, die großen glauben nicht, daß die platte alltägliche Nüchternheit des Verstandes die Wahrheit ergründe, und daß deren dürftiger Gesetzes-Codex die Grenze der Welt- und Geisterordnung sei.«
Es ist eine Vorstellung, welche unzählige Protestanten haben, daß die katholische Kirche den Ihren ganz unerhörte, ganz unmögliche Dinge zumute; daß sie, auch ohne Inquisition, ich weiß nicht was für Mittel anwende, um zum Glauben zu zwingen; – eine ganz absurde Vorstellung, die aber sehr tief in protestantischen Begriffen wurzelt, weil sie aus der Zeit des Abfalls stammt, wo die Reformatoren unermüdlich behaupteten, der menschliche Geist würde durch die katholische Kirche in schmählicher Knechtschaft gehalten und sie wären berufen, dieselbe aufzuheben. Ach, der Wahn des Fortschrittes ist ein fürchterlicher Hemmschuh für die Protestanten. Ich hätte wahrlich gegen diesen Fortschritt des Geistes einiges Bedenken haben sollen, da ich mit richtiger Erkenntnis schreiben konnte:
»Denker muß es zu Luthers Zeit gar nicht gegeben haben; das sieht man aus seinen Schriften, die für ein nichtdenkendes Volk geschrieben sind, welches blindlings die Lehre annimmt.«
Nun bestand aber mein Fortschritt darin, daß ich diese Lehre verwarf und wähnte, ohne irgend[160] eine mit dem Leben fertig werden zu können. Ein fürchterlicher Wahn, für den man mit fürchterlichem Weh büßen muß!
Auf das große Kirchenfest des heiligen Rockes folgte die unwürdige Komödie des Rongeanismus, bei dem ich nie einen anderen Gedanken gehabt, noch ein anderes Wort gesagt habe, als daß ein trockenes Blatt vom Baum der Kirche zu Boden wirbele. Die Ungläubigen unter den Protestanten fanden jenen schlechten Priester ein erhabenes Individuum, welches berufen sei, der katholischen Kirche den längst verdienten Todesstoß zu versetzen und damit alle Religion abzuschaffen. Ein Teil der Strenggläubigen war empört gegen ihn, weil jede Auflehnung gegen die Autorität ihnen mißfiel. Hätten sie die Verwerfung des katholischen Dogmas gebilligt, wie hätten sie alsdann einen Abtrünnigen von ihrer eigenen Konfession, der etwa die heilige Schrift als alleinige Autorität verworfen – tadeln wollen. Andere Strenggläubige konnten sich der Schadenfreude nicht enthalten, diesen, wie sie wähnten, gewichtigen Schlag gegen die katholische Kirche geführt zu sehen. Die schwärmerischen Gemüter jubelten der neuen Zeit entgegen, wo alle konfessionellen Schranken fallen und eine herrliche religiöse Brüderlichkeit die Menschheit beseligen werde. Daß sich die damals so beliebte politische Opposition in diese Larve stecke, weil die Regierungen nur erlaubten,[161] auf religiösem Gebiet frechen Liberalismus gegen Glauben und Kirche an den Tag zu legen, – das wußten einige Wenige; aber wirklich nur sehr Wenige. Das Opposition machen war damals eine so vorherrschende Leidenschaft in Deutschland, daß man sich mit offenen Armen in und an alles warf, was gegen irgend etwas Positives sich erhob. Wer Opposition machte, war ein Heros, ein großer aufrichtiger Charakter, eine freiheitsdurstige Seele, der man ihr Recht der Untersuchung, der freien Forschung beileibe nicht verkümmern durfte und alle Neugierigen und Neuerungssüchtigen, alle flache eitle Köpfe, alle jene Gemüter, deren es damals so viele in Deutschland gab, welche hinter einer unbestimmten Exaltation eine große Leere in sich fühlten, sie auszufüllen wünschten, aber nicht wußten wie? und womit – diese ganze Masse drängte sich mit oberflächlicher Teilnahme an die neuen Apostel oder neuen Propheten.
Ich verharrte in meiner Exaltationsunfähigkeit, ließ Ronge und seine Genossen, Lichtfreunde und ihre Genossen, Freigemeindler und ihre Genossen, auch sogenannte gute Protestanten mit tiefster Gleichgültigkeit an mir vorüberziehen, als ob ich nicht das mindeste mit ihnen allen zu teilen haben könnte – las mit verachtendem Mitleid einige dürftige protestantische Broschüren über die religiösen Bewegungen der Zeit – und fühlte[162] mich immer fremder, immer vereinzelter, immer unheimischer in ihr werden. In all diesen Geistern war so gar nichts, das mich auch nur momentan – ich sage nicht gefesselt, o nein! nur angesprochen hätte. Tauchte eine solche Erscheinung auf, so sah ich sie mir ganz traurig an und dachte: Totgeboren! – Totgeboren! – Was die Kunst jener Jahre, die Poesie, die Literatur leisteten – immer und immer mußte ich denken: Totgeboren! Nirgends war der Blick, der über den Horizont der Zeit hinaussieht – nirgends der große Schritt, der darauf eingerichtet ist, über die Gegenwart hinaus zu gehen und von der Zukunft Besitz zu nehmen – nirgends die frische, klare, herzstärkende Luft, die von den Höhen der Ewigkeit in das Tal der Zeit hinabweht. Eine schwere, dumpfe, heiße Atmosphäre engte alles und alle ein, raubte die Lebensluft – und so mußten die Erzeugnisse der Zeit totgeboren sein, gleichviel ob es Menschen, ob es Bücher waren. Und dabei war die Sehnsucht nach dem Wort des Lebens nicht tot! im Gegenteil. Sie wurde umso größer, je geringer und schattenhafter alles war, das um mich herum auftauchte. Ich wollte eine Seele finden für diese Welt von Staub und Asche.
Ich versuchte es mit der Mystik und las die »Neue Theologie« von Swedenborg, in der mir nichts gefiel, als daß er die Unhaltbarkeit der protestantischen Lehren erwies. Seine Geisterseherei[163] mochte die eines Somnambulen sein – aber Visionen wie die meiner geliebten Heiligen waren es nicht. Ich konnte nicht eine höhere Begnadigung in diesen fratzenhaften Sonderbarkeiten entdecken, und fand ich einmal ein Goldkorn, so war es dermaßen in Spreu versteckt, daß ich ganz matt wurde es auszugraben.
Und doch war ich gleich ganz munter und aufmerksam, wenn nur eine linde, leise Berührung über meine zusammen gewickelte Seele fuhr. Ein Buch von Görres fiel mir in die Hand; ich weiß nicht wie es hieß – aber das machte mir Vergnügen. Ich kannte nichts von ihm; ich verstand ihn auch nur unvollkommen und fühlte es. »Er ist ja ein wahrer Rembrandt, sagte ich, ein König der Schatten; man muß viel erraten, vielleicht zu viel! allein mir geschieht ein ganz anderes Genügen, indem er den Sternenhimmel der Mystik über mich herzaubert und das All in einen tiefen Zusammenhang mit dem Einen bringt – als wenn die Protestanten es mir mit dem kritischen Messer ihrer Vernunft-Beflissenheit auseinanderzerren.«
Dazwischen schrieb ich die »Sibylle«, bei der mich solche namenlose Schwermut überfiel, daß ich sie monatelang mit einer andern Arbeit unterbrechen mußte. Die große Hinneigung zur katholischen Kirche spricht sich in ihr – wenn ich mich recht besinne – stärker aus als in irgend einem[164] meiner Bücher. Und daß ich darin geschrieben habe:
»Ob die Katholiken besser sind als die Protestanten, weiß ich nicht; aber glücklicher sind sie;« – das freut mich jetzt sehr. Mit dem »Salva me, fons pietatis!« ist sonst wohl noch nie ein Roman geschlossen. Wie fromme Seelen ihre Melancholien und Traurigkeiten im Gebet niederlegen, und dann gefaßt und ruhig sind: so warf ich die meinen in meine Bücher. Um alles und über alles konnte ich schreibend mich trösten. Mit der Feder und einem Blatt Papier war ich ein glückliches Geschöpf, sorglos, bedürfnislos, hoffnungsvoll. Ach, hätte ich nur bessere Dinge geschrieben, so würde ich auf den Knien Gott danken für diese Gabe, die mir so unzählige frohe Stunden – und nicht eine einzige schmerzliche bereitet hat. Denn die Entmutigungen und die Bitterkeiten, welche auf der Laufbahn des Schriftstellers liegen sollen, habe ich nie gekannt. Bei der Arbeit hatte ich nur Freude an diesem geistigen Bilden und Schaffen in der Werkstatt meiner Gedanken und keinen andern Zweck, als etwas Gutes, Schönes, Wahres hervorzubringen – in irgend einer Seele ein Licht entzünden zu helfen – irgend ein Herz zu ermutigen und zu trösten – irgend einen Sinn von der Verlorenheit an äußere Dinge zu retten und in sich selbst zurückzuführen – Sehnsucht nach dem Höheren zu wecken[165] – Liebe für die Wahrheit – Verlangen nach tüchtiger Durchbildung des Charakters. Das alles kann mir nicht gelungen sein! – vielleicht waren meine Mittel überhaupt zu schwach dazu, und hauptsächlich fehlte mir selbst die richtige Erkenntnis. Aber das wußte ich damals nicht! Ich hielt meine Wahrhaftigkeit für objektive Wahrheit und schrieb daher nie anders als mit tiefer, ja mit glühender Überzeugung. Und so kann es denn wohl gekommen sein, daß ich durch diese Innigkeit und Glut manchen Leser zu ganz andern Überzeugungen gebracht habe, als ich beabsichtigte. Das macht, daß ich meine damalige Verblendung tief beklage, und daß ich jeden um Vergebung bitten möchte, der etwa durch mich eine schiefe oder verkehrte oder falsche Ansicht von Dingen erhalten haben dürfte, welche heilig und ehrwürdig sind. Allein es kann nicht machen, daß ich in dem Talent selbst nicht einen Quell der größten Freude finden sollte – einer Freude, die ganz unabhängig von späterem Lob und Beifall, ganz unzugänglich für späteren Tadel oder Mißbilligung ist, und einzig und allein aus dieser gewissen schöpferischen Tatkräftigkeit entspringt, welche dem innern Leben großen Schwung und große Intensität gibt. Ich schrieb nicht um mich zu beschäftigen, oder um gelobt zu werden, oder um Geld zu bekommen, oder um einer Partei zu dienen, oder um Aufsehen zu machen, oder um irgend etwas; – sondern nur,[166] weil das innere Leben zuweilen von einer Idee so beseelt wurde, daß es gebieterisch eine äußere Gestalt begehrte. Da mir kein anderes Werkzeug zu Gebote stand, so griff ich – statt nach Pinsel und Palette, statt nach Meißel und Marmor – nach Feder und Papier, und war dabei so glücklich wie Raphael oder Thorwaldsen.
Ich wüßte gern, ob es anderen Autoren auch so geht? und ob auch, wenn sie aus dieser Lichtseite ihres Lebens heraustreten, die Schattenseite ihnen so peinlich fühlbar ist: nämlich die Leere, sobald das eine Buch beendet und das andere nicht auf der Stelle zu beginnen war. Da ich nicht schrieb, um müßige Stunden auszufüllen, so mußte ich warten, bis ein neuer Gedanke mir klar und fest genug wurde, um ihn auf dem Papier gehörig ausbilden zu können – und in dieser Pause war mir immer zu Mut, als sei ich aus Andalusien nach Kamtschatka versetzt.
Eine andere Schattenseite, dunkler als jene, war für mich dies unbeschreiblich egoistische Vergnügen, das ich an mir selbst oder mit mir selbst – ich weiß es gar nicht recht auszudrücken – empfand. Wer machte mir denn mehr Freude, als ich es mir selbst machte? Wer machte meinen Kopf heller, trug mir bessere Gedanken zu, gab mir lichteres Verständnis, ließ die Stunden schneller vergehen, zauberte mir reichere Bilder vor, als ich mir selbst? – Ach, der Mensch, welcher[167] ein Talent von Gott erhielt, und es nicht ausschließlich im Dienste Gottes ausübt und verwendet, wird immer an jener Kette des Egoismus vor Anker liegen, möge sie auch eine andere Form, z.B. der Eitelkeit, annehmen. Dient man Gott mit Meißel, Pinsel oder Feder – sucht man seine Größe, seine Liebe zu verherrlichen – das Menschenauge mit der Schönheit des Schöpfers statt mit der des Geschöpfes zu erfüllen – den Menschensinn zu lenken von allem, was irdisch, und zu allem, was himmlisch ist – die mühselige Bestimmung des Erdendaseins durch den Glanz der Ewigkeit zu verklären – den Wacheruf des nahenden Morgens in die schlafende Welt zu senden, wie er von den Minarets des Orients ertönt – dann freilich sucht man kein egoistisches Vergnügen in der Ausübung eines besonderen Talents. Eine höhere Freude nimmt dessen Platz ein. Alles geschieht zur größeren Ehre Gottes und dürfte man hoffen, ein Körnchen Weihrauch, ach, nur das allerwinzigste, zu seinem Wohlgefallen dargebracht – oder andere zu einer solchen Darbringung veranlaßt zu haben, ja, dann wäre man glücklich. Mit dieser demütig glühenden Liebe für die Ehre Gottes sind die alten Kirchenhymnen gedichtet, die alten heiligen Gemälde gemalt, manche Einzelheiten an großen Bauwerken, hier ein Altar, dort ein Portal gearbeitet. Was sie alle so unvergleichlich schön macht, ist diese[168] gänzliche Hingebung der Künstler an ihren heiligen Gegenstand; denn deshalb findet sich so gar nichts Unheiliges in der Ausführung, welches doch immer hie und da auftaucht, sobald noch nicht gänzliche Selbstentäußerung stattgefunden. Alles, was schön, was erhaben, was löblich und edel ist, findet und wird der Mensch in der vollkommenen Hingebung an Gott. Er ahnt, er weiß es, er sehnt sich danach; wohin er sonst sich wendet, findet er Ernüchterungen über sich selbst; was er unternimmt, ihm begegnen Enttäuschungen, die ihm sein Unvermögen deutlich zeigen: er kann nichts, erreicht nichts, hält nichts fest, denn seine matte, für eine winzige Spanne Zeit geschaffene Hand hat nicht den Griff, welcher die Ewigkeit fesseln könnte; – all dieser Jammer ist ihm klar, all dieses Herzeleid drückt ihm die Brust wund – und dennoch! und dennoch! bringt er es zu dieser Hingebung nur dann, wenn ihn die göttliche Gnade dazu befähigt und ihm eine Kraftanstrengung möglich macht, welche ihn über die Natur emporhebt.
Und so vergingen abermals zwei Jahre meines Lebens! Was sag' ich, sie vergingen! ach, ich verlor sie mit nichts, für nichts, in nichts! ich hatte allerdings den Versuch gemacht, die ersten Schritte, welche mich in die katholische Kirche hätten führen können, zu tun; allein man traute mir wohl nicht[169] Ernst und Ausdauer genug zu – oder zu viel Phantasie, d.h. in diesem Falle Launenhaftigkeit; und der Versuch blieb ohne Erfolg. Das machte mich sehr mutlos! mit der lutherischen Konfession wußte ich nichts anzufangen und die Kirche, so schien es, nichts mit mir. Ich kam mir vor wie jene arme Fledermaus in der Fabel, die so traurig klagt, daß weder die Maus noch der Vogel sich mit ihr befassen mögen. Ich konnt' es gar nicht begreifen – und begreife zu dieser Stunde nicht – was die Protestanten mit ihrer Behauptung wollen, daß die Katholiken immer darauf ausgingen, Proselyten zu machen. Nie und nie habe ich trotz meiner entschiedenen und deutlich ausgesprochenen Vorliebe für die katholische Kirche auch nur die leiseste Andeutung vernommen, daß es in der Kirche besser sein dürfte, als außerhalb derselben; nie! nicht von Freunden, nicht von Bekannten, nicht von Geistlichen; – nie! Daß man für die Religion nicht zurechtgemacht, nicht durch äußere Mittel für sie gewonnen werden könne, versteht sich von selbst; daß überhaupt bei jeder Konversion der menschliche Einfluß sehr gering und die Gnade alles ist, versteht sich auch. Aber nie werd' ich begreifen, daß es nicht ganz in der Ordnung sein sollte, die ewige Wahrheit so klar und so eindringlich vor einem nach ihr verlangenden Auge hinzustellen, als es nur möglich ist. Dies nennen die Protestanten Proselyten[170] machen; – denn sie werden doch nicht wähnen, daß man durch irgend einen Zauber einen Menschen wider seinen Willen katholisch machen könne? – und sie sind sehr empört darüber. Das ist aber wirklich nur ein Zeichen, daß ihre Konfession nicht die Berührung der Wahrheit verträgt. Glaubten sie an dieselbe, wie wir an die alleinseligmachende Kirche, so würden sie keine solche Angst davor haben. Weiß ich mich im Besitz eines Diamanten, so vertausche ich ihn gewiß nicht gegen gefärbtes Glas. Aber daß ich nicht sagen dürfte, aus welchem Golconda mein Diamant stammt – nicht jedem sagen dürfte, wie man ihn finden kann und welcher Weg dahin führt – das sehe ich nicht ein! Werden doch die Menschen zu allen möglichen Dingen aufgefordert, die ihnen von selbst nicht einfallen: Lotterielose, Theaterbillets, Aktien, Subskriptionen für Wohltätigkeit oder auf Bücher trägt man ihnen zu; – um falsche oder schiefe Lehren zu verbreiten, werden durch Mund und Schrift die größten Anstalten gemacht; – aber spricht einmal irgend ein Mensch warm und liebend von der Kirche, so ist es nicht anders, als wär' er darauf ausgegangen, eine arme protestantische Seele in die Hölle zu bringen, statt daß er sie in den Himmel wünscht. Nun – niemand hat sich die Mühe gegeben, aus mir eine Proselytin machen zu wollen – das ist gewiß!
Im Frühling 1846 ging ich auf ein halbes[171] Jahr nach England; ich konnte es in dem vermorschten, windschiefen Deutschland gar nicht mehr aushalten! Das starke und kräftige Leben jenseits des Kanals, gesund im Individuum, mächtig in der Gesamtheit, reich wie die Einheit und die Mannigfaltigkeit es machen, organisch, weil es mit seinen Traditionen nicht gebrochen und den Faden der historischen Entwickelung nicht abgerissen hat: tat mir sehr wohl, wirkte wie ein Stahlbad auf meine von Deutschlands ungesunder Luft abgespannten Nerven. Hier war ich doch einmal zwischen Leuten, welche ganz genau wußten, was sie wollten. Wer wußte das im Jahr 1846 in Deutschland – ich frage! Die Radikalen wußten es, d.h. sie wußten, was sie nicht wollten, nämlich das Fortbestehen des alten; aber wie eine feste und große Grundlage zu schaffen sei, um neues zu erbauen, das wußten sie nicht – die letzten Jahre haben es gezeigt! – das war nicht ihr Fach, nicht ihre Bestimmung. Diese Leute konnten nicht die Männer der Zukunft sein. Ihr Werk beschränkte sich auf die Arbeit des Todtenwurms, der im Holz sitzt, und nagt und nagt, und pocht und pocht – und siehe! eines Tages ist kein Holz mehr da, sondern nur eine handvoll Spähne. Dies zustande bringen heißt nicht wissen, was man will; dies ist nur die Art des Wurmes oder des Kindes, das seine kleinen Kräfte auch nur in der Zerstörung übt, weil ihm alle Fähigkeiten[172] mangeln, um irgend etwas schaffen zu können. Man setzte damals in Deutschland auf dem politischen und sozialen Gebiet die Arbeit fort, welche das sechzehnte Jahrhundert auf dem religiösen und kirchlichen begonnen hatte, und es gab Anhänger und Nachbeter der hohlen zusammenhanglosen Theorien über Rekonstruierung der Gesellschaft, so gut wie die Reformatoren ihre Anhänger für Rekonstruierung der Kirche gehabt haben; – Beides mißlang und muß ewig mißlingen, denn die Negation hat kein immanentes Leben. Sie existiert nur als Gegensatz und als solcher wird sie auch immer, wie der Tod neben dem Leben existieren, um immer von neuem überwunden zu werden. Wer aus der Negation und der Opposition nicht herauskommt und nur in ihr sich auszeichnet, ist ein ganz untergeordnetes Talent – wenn überhaupt eins? – und er darf nicht sagen, daß er einen Willen habe und wisse, was er wolle. Mit solchen Leuten war Deutschland damals gesegnet, so daß ich – ach, wie oft! sagte: »O diese Spießbürger! Alle werden sie mit der Revolution gehen, bis sie vor der Guillotine stehen und dann verblüfft sprechen: Nein, dahin haben wir nicht gewollt.«
In England arbeitet der Todtenwurm jetzt auch aufs beste. Diese vier Jahre haben die ganze Welt in allen weltlichen Beziehungen fürchterlich demoralisiert, weil sich so viele der sogenannten[173] Klugen und Rechtschaffenen unter ich weiß nicht was für Vorspiegelungen von Tugend der Nachgiebigkeit und Tagend der Menschenfreundlichkeit und Schonung – entschlossen haben, fünf für gerade – und links für rechts gelten zu lassen. Das gibt immer ein Beispiel für das zahllose Heer der Urteilsunfähigen und Schwankenden, welche sich an dasselbe gerade so begierig anklammen, wie sie sich kaum an ein gutes anklammern würden, wenn es ihnen dargeboten würde. Um so mehr, um so notwendiger, um so gebieterischer hätte die Zeit gute Beispiele gefordert. In dem Maß, als sie fehlten, stieg die Demoralisation, die furchtbare, die bodenlose, in welcher des Menschen Erkenntnis dermaßen verwildert, daß ihm Recht und Unrecht zu einem großen Nebel verschwimmen.
Die Korn-Bill, welche damals in England durchgebracht wurde und welche man durchaus zu einer Lebensfrage für England machen wollte, war eine Arbeit des Todtenwurmes. Er will durchaus den alten Schwerpunkt verändern, durch welchen das Land im Innern kräftig und nach Außen mächtig geworden ist. Das große Gewicht, welches der große Grundbesitz und die alte Aristokratie in die Wage von Englands Geschicken werfen – soll gebrochen und das Prinzip des Bestehens, des Festhaltens, das sie vertreten, soll möglichst beseitigt werden, um dem demokratischen Fortschritt alle Tore zu öffnen. Wir wollen[174] sehen, wie lange England noch imstande sein wird, von seinen alten Traditionen zu leben und den neuen Fabeln zu widerstehen.
Ich hatte viel gehört von der Majestät der anglikanischen Kirche. Was mir an ihr aufgefallen ist, sind ihre wunderschönen Kathedralen – die leer standen; und ihre großen Besitztümer, deren Einkünfte ihre Würdenträger mit Familie genossen.
Die tiefsinnige Schönheit, welche alle Institutionen der katholischen Kirche auszeichnet, spricht sich auch in der Anordnung aus, daß ihre Oberhirten irdische Reichtümer haben sollen, um sie nicht zu besitzen. Es liegt ein erschütternder Kontrast in dem Leben voll ununterbrochener Entsagung auf alles irdische Gut und Glück – in dem täglich und stündlich sich wiederholenden Opfer der Selbstentäußerung – in der freiwilligen Einsamkeit einer Seele mit Gott – wenn diesem einsamen Menschen die Güter gegeben werden, welche für ihn ganz wertlos sind. Er hat kein schönes Weib, das er mit Diamanten schmücken – keine Söhne, denen er eine glänzende Laufbahn eröffnen – keine Töchter deren Zukunft er sicher stellen möchte. Einsam ist seine Gegenwart, einsam seine Zukunft; die Sorgen um Zurückbleibende, welche den Menschen zuweilen bis ins Grab verfolgen – reichen nicht an ihn. Er schläft vielleicht auf einem Strohsack und fastet[175] wie ein Anachoret; – aber reich ist er. »Ja, um's Himmelswillen, weshalb soll er denn reich sein?« fragen die Protestanten. – Weshalb gibt es Arme, Kranke, Elende, Hilflose, Witwen und Waisen auf der Welt? Deshalb soll er reich sein. Oder meint Ihr, die Armenkommission und der Staat sorgten besser für dieses Heer von Hilfsbedürftigen? daß sie es nicht vermögen, liegt vor unsern Augen! Und dann soll er reich sein, um zu erfüllen, was in der heiligen Schrift geschrieben steht, daß man besitzen solle, als besäße man nicht; – und weil das Licht eines solchen Beispiels in viel tausend Seelen Funken zur Erbauung und Strahlen, zur Nachahmung auffordernd, werfen kann. Deshalb will es die Kirche. Aber die Regierungen haben gerade so gefragt, wie Ihr, haben nur die materielle Seite ins Auge gefaßt, karg berechnet, wie wenig ein einzelner Mensch zum Leben brauche, und seine Einkünfte mit bewundernswerter Gemütsruhe aufs Minnimum geschmälert, so daß in Deutschland wohl nur ausnahmsweise große Einkünfte bei den Oberhirten der Kirche zu suchen sein dürften.
In England, wo man sie ihnen gelassen, ist aber, Dank der Reformation, die ursprüngliche Idee ganz abgestorben und ein Bischof lebt dort mit seinen Einkünften genau wie jeder andere Ehrenmann und Familienvater, der ja immerhin außerordentlich wohltätig, gastfrei etc. etc. sein[176] kann. Nur das Ideal ist verschwunden – mit der Kirche! Vermißt Ihr das denn gar nicht? Meint Ihr vielleicht, es werde doch nicht realisiert? Woher wißt Ihr das? Wer spricht bei Euch von denen, die es realisieren? Tut einer es nicht – davon freilich spricht man desto mehr. Das ist gerade wie mit den Päpsten, welche eine lange Reihe von Ungeheuern gewesen sein sollen; und dringt man auf Namen und Taten, so hört man Alexander VI.! Alexander Borgia! – Mit viel größerem Rechte dürfte man sagen: Was waren die Apostel für schlechtes Gesindel! der eine verriet den Heiland, der zweite verleugnete ihn und der dritte zweifelte an ihm. – Ach, warum wird nur die idealische Schönheit der Kirche so wenig erkannt? – – möchte ich immer fragen, wenn mir nicht alsbald die zweite Frage einfiele: Ach, warum hast du selbst sie so spät erkannt?
Die Kathedralen standen leer! natürlich! sie sind gebaut für die Religion der ganzen Welt; sie sind zu weit für eine Sekte, welche sich schon wieder in hundert und aber hundert andere Sekten zersplittert hat. In der Kathedrale von York fand der Gottesdienst im Chor statt und das Schiff bleibt ganz unbenutzt. Und so machen denn diese unvergleichlich schönen Dome von York, Durham, Chester, Salisbury, Canterbury einen traurigen, toten, gottentfremdeten Eindruck, welcher am stärksten bei dem von Westminster war, von[177] dem ich schrieb: »Er ist eine herrliche Säulenhalle, welche zur Begräbnisstätte von Englands großen Männern führt« – welche, wie bekannt, ihre Grüfte und Monumente darin haben. Die schönsten all dieser Bauwerke sind übrigens zwei Ruinen von Klosterkirchen, Melrose, und Tintern-Abtei.
Ob der Glaube an die Lehrsätze der anglikanischen Kirche stark ist? – Damals kam es mir so vor, weil Deutschlands Glaubenslosigkeit eine auffallende Folie darbot. Auf jeden Fall denke ich, daß das Bedürfnis des Glaubens und der Respekt vor der Religion, als vor einem Gesetz Gottes, stark sind. Der Engländer liebt nicht, als Atom zu verwirbeln. Scheidet er aus seiner Kirche, so erbaut er flugs eine Kapelle oder doch ein Betstübchen für sich und Gleichgesinnte. Daß ihn seine Kirche freilich sehr wenig befriedigt, beweisen unzählige Sekten.
In Schottland herrscht die calvinische Konfession, welche dort presbyterianische genannt wird. Von der Dürre ihres Kultus kann man sich gar keine Vorstellung machen! ich denke noch mit Beängstigung an jenen Gottesdienst in Edinburg, in einer Kirche ohne Altar, ohne Orgel, ohne Ausschmückung irgend einer Art, mit lauter verschlossenen Sitzen, deren Türen häßlich klapperten, wenn jemand ein- oder austrat. Da gab es eine Predigt; dann wurde aus der heiligen Schrift[178] ein Psalm vorgelesen; dann wurde derselbe Psalm in modernen Versen vorgelesen und endlich wurde derselbe Psalm von der Gemeinde gesungen. Damit war man entlassen. Wer gut presbyterianisch ist, geht am Sonntag dreimal in diesen Gottesdienst. Ich wunderte mich gar nicht zu hören, daß ein großes Schisma in dieser Konfession entstanden sei, das sich »freie Kirche« nenne und einen außerordentlichen Anklang im ganzen Lande finde. Es bestand damals drei bis vier Jahr und hatte bereits mit 800 Kirchlein Schottland übersäet. Vier Wände und lange Bänke – sonst gar nichts! war wiederum das einzige, was sich die Schismatiker für die heilige Stätte ihres Gottesdienstes hatten aufdenken können. Es ist mir immer schwer gewesen, die Gesinnung zu begreifen, welche das Haus Gottes mit solcher Dürftigkeit und den Kultus so matt und öde auffassen mochte. Das ist ja wie für Gespenster! mußte ich immer denken; und nicht wie für Menschen mit Herz und Seele; und warum verleugnen sie wohl beides vor Gott? – Ich faßte das nicht! Jetzt aber möcht' ich fragen: Sollte es vielleicht darum sein, weil sie das Herz nicht Gott opfern und die Seele ihm nicht hingeben wollen? – Bei John Knox, dem starren Calviner, war das der Fall! den machte sein Glaube zu einer Mumie und von allen Eigenschaften des Allmächtigen hat er keine andere erfaßt als den ewigen Zorn gegen die Verdammten,[179] d.h. gegen die, welche er, John Knox, verdammte. Mit unbeschreiblicher Befriedigung sah ich seine Statue auf dem Gottesacker von Glasgow aufgestellt. Dahin gehört er! sprach ich; für die Toten paßt er – nicht für lebende Wesen.
Diese ungeheure, wahrhaft abenteuerliche Sektirerei in England spricht für das lebhafte religiöse Bedürfnis der ganzen Nation; und es ist dabei nur das eine ebenso beklagenswert als merkwürdig, daß die immer neu auftauchenden Sektenstifter mit ihrem Anhang wähnen können, ihnen sei jetzt urplötzlich das Licht des wahren Christentums aufgegangen, welches seit den apostolischen Zeiten im Schlaf gelegen habe. Und während sie sich bemühen, ihren Traum von gestern und ihre Meinung von heute den Sprung rückwärts über achtzehn Jahrhunderte machen zu lassen und dennoch den Mittelpunkt der Wahrheit nicht treffen: steht die Kirche Gottes da mit weitgeöffneten Toren und eine Stimme erschallt daraus und weithin über die ganze große Welt: »Kommet her zu mir!« – und der Ruf verhallt! und was der arme Mensch mit seinem beschränkten Verstand und seiner schwachen Erkenntnis ersonnen und erklügelt hat – das verhallt nicht! suchende, darbende Seelen hören auf ihn, wenden ihm sich zu, gehen vorüber an der Kirche Gottes, greifen nach Menschensatzungen und finden nimmer das, was sie begehren, weil sie in unendlicher[180] Armseligkeit von den Brosamen der Wahrheit zehren müssen, deren Fülle die Kirche Gottes inne hat. O gebt Euch nicht zufrieden mit diesen Brosamen! Ihr könnt ja doch nicht glauben, daß sie Euch mit dem ewigen Leben nähren, denn Ihr könnt nicht leugnen, daß der Heiland Seiner Kirche den heiligen Geist verheißen hat, der bei ihr sein wird alle Tage der Welt. Wo wär' er denn gewesen während all der Jahrhunderte, bis Euer Knox, Euer Wesley, Euer Fox, Euer Irving, Euer Erskine, und wie sie weiter heißen mögen – nach Eurer Meinung ihm Eingang verschafften durch das winzige religiöse System, welches jeder von ihnen auf die heilige Schrift zu gründen strebte? Während siebzehn oder achtzehn Jahrhunderten, für so viel Völker, für so viel Generationen wäre das verheißende Wort des Heilands in die Luft gesprochen und sinnlos gewesen – plötzlich tritt ein Mensch unter Euch und spricht: »Mir ward die Offenbarung der ewigen Wahrheit!« und dem könntet Ihr Glauben schenken? Nach zehn Jahren kommt wieder einer, und nach fünf Jahren ein dritter, und so fort und fort, und jeder von ihnen schlägt die heilige Schrift auf und spricht: »Hier stehts geschrieben! Dies zeuget für mich!« – aber für jeden zeuget entweder etwas anderes, oder die Deutung, welche er dem Alten gibt, ist anders; – und Ihr solltet nicht merken, daß das Menschensatzung ist? daß[181] man mit der ewigen geoffenbarten Wahrheit so nicht verfahren darf? daß die nur eine sein und eines lehren kann? daß sie nicht heute durch diesen, und morgen durch jenen schwärmerischen oder grübelnden oder überspannten Kopf in die Welt hinein geboren werden kann? daß sie da ist, daß sie vor Euch steht, nur höher, höher, als Ihr eben die Augen erhebet, weil Euer Blick nur gradaus auf den Menschen sieht, der Euch da sein religiöses oder irreligiöses System entwickelt. O fallt nur einmal auf die Knie und schauet nach Oben – und Ihr werdet sie ahnen, und allmählich von der Ahnung zur Erkenntnis, zur zweifellosen Entschiedenheit übergehen. Aber auf die Knie zu fallen – das nennt Ihr wohl papistisch? – Die einzige Stellung, welche dem Menschen Gott gegenüber zukommt, habt Ihr aufgegeben! den einzigen kleinen Akt, in welchem sich ein äußeres Zeichen der Demut ausspricht, habt Ihr verschmäht! Vor den Königen und in ihren Sälen – steht Ihr ehrfurchtsvoll; und vor dem König der Könige und in seinem Hause – da sitzt Ihr! – Nun, Ihr armen Seelen, es wird doch noch mit Euch dahin kommen, daß Ihr vor ihm kniet, – denn es ist ja mit mir dahin gekommen! Wem ein solches Heil widerfahren ist, wie mir, der hat auch für andere einen unerschütterlichen Glauben und eine unbesiegbare Hoffnung.
Meine Reise durch Großbritannien beschloß ich[182] mit Irland. Da sah ich die Kirche wieder in ihrer Schönheit, in Armut, Unterdrückung, Märtyrertum – und in ihren Priestern heiligmäßige Männer, voll apostolischer Liebe und Barmherzigkeit. Diese Aufopferung, diese Treue, diese Hingebung ist nicht zu beschreiben und nicht zu vergessen. Das Volk mit allen Licht- und Schattenseiten des keltischen Stammes, mit Grazie und Leichtsinn, mit großer Kraft zum Lieben und Hassen ausgestattet, liebt seine Priester und seinen Glauben als die Sonnenstrahlen in dem tiefen Elend seines Lebens. Irland ohne die katholische Kirche wäre eine menschenleere Wüste, denn der Segen, die Vorsorge, das Erbarmen, dessen sein Volk bedarf, findet es nur in ihr. Freilich – wenn sie nicht wäre, so wäre das arme Irland nicht Englands Stiefkind, nicht ein Land, das ewig als ein erobertes behandelt und Jahrhunderte lang in Knechtschaft und Rechtlosigkeit gehalten wurde. In dem Maß, wie man für etwas Teures und Heiliges leidet, wächst die Liebe für dasselbe. Kann man sich über die glühende Liebe der Iren für ihre Kirche wundern, wenn man bedenkt, was sie alles für sie erduldet haben? Mit welchem Abscheu sprechen die Protestanten von der Aufhebung des Edikts von Nantes unter Ludwig XIV.! Mehr als hundert Jahre später wurden die Katholiken Irlands von ihrer protestantischen Regierung in einem Zustand von so barbarischer[183] Rechtlosigkeit gehalten, daß man in Sklavenländern nur etwas Aenliches finden mag. Es lastete auf ihnen der Druck, der während des Mittelalters auf den Juden lastete. Jetzt mögte England mit Schätzen von Gold die Wunden heilen, welche die Vergangenheit geschlagen hat; – zu spät! Irland ist Englands Achillesferse; an dieser Wunde verblutet sich die Lebenskraft. Man wütet nicht gegen die eigenen Eingeweide, ohne daß tötliche Erkrankung darauf folge.
Die schauerliche Hungernot des Winters 1847 machte sich im Herbst bereits fühlbar – wenigstens im Südwesten von Irland um Cork herum, wo ich mich am längsten aufhielt und schon mehrere kleine Aufstände gegen Bäcker und Müller erlebte, denen man das Mehl wegschleppte. Wo Ruhe und Ordnung gehalten, wo die Menge beschwichtigt, wo die tobende Klage in eine stille umgewandelt wurde, waren es die Priester und immer die Priester, welche den wohltätigen Einfluß geübt hatten. »The parish priest« – (der Pfarrer) – das war der Mann, dessen Wort stärker war als der Hunger! Und zu derselben Zeit erließ die Times, die sonst so verständige menschenkennerische Times, dieses Blatt der gesunden Vernunft Europas, höhnende Artikel gegen Irlands Not, und wünschte den »Kartoffelessern« Glück, daß der Mangel an ihrer Lieblingsnahrung sie dazu veranlassen werde, künftig[184] Fleisch zu essen. Zu glauben ist das nicht – aber es ist wahr! In der letzten Hälfte des Septembers las ich in Killarney diesen empörenden Artikel über die »Potatophages«, nachdem ich bereits Augenzeuge einiger Aufstände gewesen war, bittern Jammer gesehen, bittere Klagen gehört hatte. Später ist das Elend dann freilich so grenzenlos gestiegen, daß es eine Verwilderung erzeugt zu haben scheint, welche selbst das Ansehen und die Macht der Religion nicht hat bändigen können.
Aus dem Murmeltierschlaf, in welchen meine arme Seele verfallen war, wurde sie durch die katholische Kirche in Irland wieder geweckt, weil sie da wieder den Glauben als eine Liebe sah, voll Erbarmen, voll Tätigkeit und Hingebung, reich an guten Werken, und diese Segnungen gespendet und verwaltet durch diejenigen, welche recht eigentlich dazu berufen sind: durch die Diener der Kirche. Von Erbarmen und Hingebung mögen einzelne Anglikaner und Presbyterianer etc. sehr viel wissen – ich glaub' es gern – aber ihre Kirchen wissen nichts davon! Nein! die sind nicht aus der Liebe geboren, sondern – fast möchte ich sagen aus deren Gegensatz, und daher können sie auch Bitterkeit, Kälte, Härte, Starrheit gar nicht los werden. Wie bei all ihren protestantischen Schwestern, kann ich des Gedankens nie mich enthalten, daß sie suchen, den Menschen[185] möglichst von sich abzuwehren. Glauben soll er, was sie lehren, ja, das versteht sich, und darum soll er fleißig ihre Kanzelredner hören, aber übrigens mit seinen Sorgen und Schmerzen, mit seiner wunden Seele, mit seiner Trost- und Hilfsbedürftigkeit sie nur ja nicht belästigen! und um ihn gründlich abzuweisen und auf sich selbst zu beschränken, scheinen ihre Dogmen recht eigentlich erfunden zu sein. »Der Glaube allein macht selig« und der heilige Geist erklärt in jedem Einzelnen die heilige Schrift – da ist ja Rat, Trost, Ermahnung nicht blos überflüssig, sondern unstatthaft. Das menschliche Prinzip, Egoismus, herrscht in allen diesen auf menschlichen Erfindungen beruhenden Konfessionen und schließt die Liebe aus. In der Kirche ist es genau umgekehrt! geboren aus göttlicher Liebe, sind ihre Dogmen nicht bloße Worte, die im Glauben eingesargt bleiben und der Glaube wiederum eingesargt im Individuum – wie Spezereien in einer ägyptischen Mumie; – sondern die Liebe, die ihrer Essenz nach schöpferisch ist, schafft und wirkt im Einzelnen all die Hingebungen an die Gesammtheit, durch welchen der Egoismus ertötet wird.
Katholik, Ire, Priester! – da denkt mancher Protestant an einen dreimal beschränkten Kopf. Ich dachte, wenn ich diese Männer sah und hörte, und Augenzeuge ihres merkwürdig tätigen, liebe- und sorgen- und mühevollen Lebens war, in[186] dessen hilfreichen Kreis sie alles zogen, was der Hilfe bedurfte: Was mußt du für ein steinernes Herz haben, daß solch ein Beispiel und der Anblick von und der Umgang mit solchen Menschen dich nicht veranlaßt, ihre Religion anzunehmen! denn nur ihr Glaube befähigt sie zu diesem Leben der Liebe, – und wo in der Welt hast du etwas ähnliches gesehen? Nirgends, ach nirgends! – Aber dann ergriff mit ein Schreck wie er vor etwas Unerlaubtem, und ich dachte weiter: Nein, solch ein Übertritt wäre nicht das, was er sein soll! es läge ihm doch vielleicht etwas menschliches zugrunde, wie die große Bewunderung und Ehrfurcht ist, die ich vor diesen Männern habe! Nicht um eines – nicht um hundert oder tausend der allerherrlichsten Menschen willen könnte ich je übertreten. Es muß um etwas Göttliches, um der Wahrheit willen sein.
Dawider hätte ich jetzt gewiß gar nichts; nur aber hätte ich mehr nach dieser Wahrheit fragen und forschen sollen. Aber nein! das unabweisliche Bedürfnis, beim Anfang anzufangen und die positive Lehre kennen zu lernen, war immer noch ein Stern, der unterhalb meines Horizontes stand. Oder meinte ich, die Wahrheit müsse mich wie ein Blitzstrahl berühren, oder gleichsam über mich herfallen, wie über den heiligen Apostel Paulus; oder war es eine lutherische Reminiszenz, daß der Wille unfähig zur Mitwirkung bei[187] dem Werk der Bekehrung und überhaupt bei jeder Erkenntnis von göttlichen Dingen sei; – genug, ich blieb in meiner Passivität, ich! die ich mich eigentlich zu nichts in der Welt passiv verhalte! Daher glaube ich, daß die lutherische Lehre von der gänzlichen Unfähigkeit des Willens, sobald es um himmlisches sich handelt, mir selbst unbewußt etwa so auf mich gewirkt hat, wie das Klima auf alle Naturen, die in ihm geboren werden. Diese Wirkungen sind nicht auffallend, nicht schlagend, allein es kann sich niemand ganz ihnen entziehen oder sich gegen sie stemmen, denn er atmet sie mit der Lebensluft ein; – sollte nicht Analogie zwischen dem Physischen und Seelischen stattfinden? Ganz gewiß. Und so litt ich denn auch an dem allgemeinen lutherischen Torpor.
Bei den Predigten, den Reden, die ich damals Gelegenheit hatte zu hören in so übervollen gedrängten Kirchen, daß sie wie mit Menschenköpfen gepflastert waren – setzte ich mich auf die unterste Stufe der Altäre und weinte mich müd' und matt, daß dies alles doch nicht zu mir gesagt sei, und ich eigentlich nicht dahin gehöre. Die Predigten gefielen mir so gut! Warm, anschaulich, praktisch, ungekünstelt, mit plötzlichen Nutzanwendungen für's Leben, hatten sie selbst etwas so außerordentlich lebendiges, daß ich in meiner Unwissenheit meinte, es entspränge aus dem irischen Charakter. Jetzt freilich weiß ich es besser: es ist die katholische[188] Art zu predigen, und sie ist ebenso warm und ergreifend, als die protestantischen Monologe von der Kanzel herab kühl und fremd sind.
Ich verließ Irland mit der Hoffnung und dem Versprechen es wieder – und auf längere Zeit – zu besuchen und dann, wo möglich, etwas zu schreiben über »the emerald gem of the western world.«
Während des ganzen folgenden Winters arbeitete der Eindruck in mir fort, den England mir gemacht hatte, und Deutschland wurde mir so unerträglich, daß ich es wie ein herbes Unglück empfand, eine Deutsche zu sein. Du hast kein Vaterland und keine Kirche! wiederholte ich mir immer und immer wieder. Nein, du hast kein Vaterland! sollt' es Meklenburg sein, wo du geboren bist? Holstein, wo dein Stammhaus liegt? Preußen, Sachsen, wo du gelebt hast? Österreich, das du liebst? Um Vaterlandsgefühl zu wecken, dazu gehört ein Schatz von geliebten Erinnerungen und von verehrten Institutionen, die in das Bewußtsein der Nation übergegangen sind und ihren Mittelpunkt finden in der Liebe für das Regentenhaus, oder für die uralte Staatsform, wodurch Einheit und Innerlichkeit in den gesamten Körper kommt. Ich begreife dies Vaterlandsgefühl für Preußen, für Österreicher, für Bayern; aber ich hab' es nun einmal nicht, denn ich würde gar nicht wissen, wo es unterbringen. Die[189] deutsche Sprache, die gibt mir so etwas wie Vaterlandsgefühl – und nur sie! denn mit dem deutschen Charakter habe ich keine besondere Sympathie. Dies Prahlen mit Intelligenz, Bildung, Geist ist so hohl und flach; dies Überschätzen des Gemütes läuft auf solche Sentimalität hinaus; dieser Kultus der Wissenschaft ist so einseitig und so kleinlich, daß er in der allgemeinen Weltbildung doch nur den Dienst der Fabrikarbeiter tut – wo jeder äußerst emsig an einem winzigen Teil vom Ganzen arbeitet, ohne eine Ahnung davon zu haben, was denn eigentlich das Ganze sei. Der Überblick fehlt, die Tatkraft, die Phantasie – folglich die große Anlage, um Großes zu leisten; aber ich habe nur Sympathie für diese drei Dinge, denn in ihnen ist das Leben der Praxis, das Leben des Willens, das Leben des Geistes konzentriert. Deutschland hat kein innerliches Leben, ich kann nicht für die Dauer in Deutschland leben! Hätte ich eine Kirche, eine große, allumfassende, religiöse Gemeinschaft, so brauchte ich kein Vaterland, denn sie würde mit einem himmlischen den Mangel des irdischen ersetzen; aber Deutschland hat nichts für seine Kinder – auch keine Kirche – nur Makulatur, sei es in Bibliotheken, sei es im Buchladen. Ich bin all der Bücher zum Sterben überdrüssig – und der meinen natürlich zuerst, denn es ist gar nicht der Mühe wert zu schreiben, wenn man unter seinen[190] Füßen nicht den festen Boden eines Vaterlandes – und über seinen Haupt nicht das Himmelsgewölbe einer Kirche hat.
Wie oft sprach ich so zu einer Freundin, die das hatte, was ich mit so tiefem Schmerz entbehrte, – denn sie war Engländerin und Katholikin – und die meine Lamentationen gar nicht begriff, weil sie nicht wußte, was es heißt, deren Gegenstand entbehren. Seitdem hat sie Deutschland kennen gelernt und hat meine Klagen begriffen. Vielleicht waren sie damals auch wirklich übertrieben, wenn nicht in der Empfindung, so doch im Ausdruck. Sachsen war so untergraben und zerwühlt vom politischen Radikalismus und vom religiösen Rationalismus, daß man in seinem Sumpf kein Anker werfen konnte, um sich gegen drohende Springfluten zu festigen. Nirgends wurde etwas Positives, diesen zerstörenden Elementen gegenüber, mit Energie aufrecht gehalten; und gerade weil mir selbst jede positive Basis so sehr fehlte, sehnte ich mich danach, sie außer mir zu finden, sowohl um an ihr, wie an einem Blitzableiter, die Wetterstrahle der Leidenschaft und der Willkür zu kalten Schlägen zu machen; als auch, um in dem unsäglichen Wirrsal jener traurigen Tage, in ihr die rettende Arche vor der drohenden Sündflut zu entdecken, mit welcher man sich damals eigentlich schon ganz vertraut machte. Man sah ja ganz[191] unbefangen kommunistisch gesinnte Leute! man schied sich nicht zu scharfer, begrenzter Partei aus! es brodelte alles breiartig durch einander! Jemand nicht zu sehen, weil er von einer andern politischen Gesinnung war und zwar von einer solchen, die allem Bestehenden den Krieg erklärte – also auch Denjenigen, die mit und auf dem Bestehenden fußten – also uns allen, die wir nicht Demokraten waren: das hieß aristokratisch hochmütig, exklusiv. Aristokratisch zu sein – das habe ich mir freilich immer zur Ehre gerechnet, weil durch die ganze Weltgeschichte aristokratische Verfassungen und Institutionen als diejenigen sich bewährt haben, welche den Staaten und Individuen Würde und moralische Macht verleihen und welche, weil sie das Recht schützen, ihnen lange Dauer und ruhige Entwickelung auf der Basis des Gleichgewichts der Stände geben; während die demokratischen Institutionen mit ihrem schiefen Prinzip der Gleichheit auf etwas Unmögliches hinarbeiten und folglich nur schiefe, verkehrte Resultate liefern können, an denen Menschen und Staaten nicht blos moralisch – das versteht sich von selbst – sondern auch materiell zu Grunde gehen müssen. Also aristokratisch zu sein ist mir zu jeder Zeit, in allen Verhältnissen, unter allen Umständen eine Ehre gewesen; und exklusiv genannt zu werden – dawider hatte ich auch nichts. Aber für hochmütig[192] mochte ich denn doch nicht unnützer Weise gelten; und so habe ich denn das Vergnügen gehabt Personen bei mir zu sehen – und gerade in jener Zeit – von denen es mir bis zu dieser Stunde rätselhaft sein würde, weshalb sie mich überhaupt aufgesucht haben, wenn nicht der allgemeine gallertartige Zustand es erklärte, der allen, von welchem Glauben, welcher Partei, welcher Farbe sie sein mochten, eine energische Begrenzung unmöglich machte. Dazu das deutsche Vorurteil, möglichst vielseitig sein zu müssen – d.h. in diesem Sinn: Alles aufzunehmen und nichts zu verarbeiten – und die bedenkliche Anmaßung, über allen Parteien stehen zu wollen – und die unerquickliche, marklose Zerflossenheit ist nicht sowohl erklärt, als erkannt. Über den Parteien kann nur derjenige stehen, der sich mit seinem ganzen Wollen und Streben außerhalb derselben einem Zweck widmet, einem Ziel hingibt, einer Wirksamkeit opfert, welche einer höheren Ordnung als der verrauschenden Frage des Tages angehören: der große Staatsmann, der große Künstler – oder die heilige in Gott lebende, für Gott auf Erden wirkende Seele. Deren Blick ruht auf der Zukunft und die Partei hat es immer mit der Gegenwart zu tun, so daß sie von selbst ausgeschieden sind. Aber Unsereiner täuscht sich kläglich mit seinem Wahn, über den Parteien stehen zu wollen. Er lebt nur im Nebel über[193] alle und alles – und deshalb wähnt er auf den Höhen zu leben.
Ich machte mir aber auch gar keine Illusion darüber! ich fand das ganze Leben und Treiben der Welt so unerträglich, daß ich in eine bodenlose Schwermut versank. Einst erzählte mir jemand, er habe gehört, ich wollte katholisch – und dann in Wien Sternkreuz-Ordensdame werden. Ich war daran gewöhnt, so außerordentlich unsinnige Erfindungen über mich zu hören, daß ich immer lachte, je toller sie waren. Der Einfall, daß ich einer äußeren Ehre wegen einen großen Schritt tun könnte, hätte mich zu anderer Zeit sehr belustigt; doch jetzt sagt' ich ganz ernsthaft:
»O wär' ich nur katholisch – nicht um Sternkreuz-Ordensdame zu werden, – sondern Klosterfrau.«
Der Jemand schrie Zeter. Ich fragte ihn, ob er die Welt schön genug finde, um ihr auch nur einen Blick des Bedauerns zuzuwerfen, wenn man aus ihr schiede – aus dieser Welt voll Schein, Täuschung und Lüge, wo unter Millionen kaum einer ein Herz für die Wahrheit hat. Damit stimmte er überein. Und doch kein Kloster? – Nein! das wollte ihm durchaus nicht einleuchten.
Ich litt unbeschreibliche und unvergeßliche Qualen. Es war im Frühling und ein ganz lieblicher Mai voll Sonne und Grün und Duft der Akazien, deren es so viele in Dresden gibt.[194] Ich ging zuweilen in den lauen Frühlingsnächten bis zwei, drei Uhr morgens auf meinem Balkon auf und nieder mit einem so schweren Herzen, als ob mir die Weltkugel darauf ruhe. Alles, was ich erlangt und erreicht hatte – war ja doch nicht das, was ich gemeint hatte! Was gab es denn noch auf, noch über der Erde! Immer und immer wieder las ich St. Augustins Bekenntnisse; oder eigentlich nur den Schluß des fünften Kapitels, Buch VIII, wo er sich mit einem Schläfer vergleicht, der zwischen Traum und Wachen liegt, und den Zustand fast wider seinen Willen zu angenehm findet, um sich zum völligen Erwachen zu entschließen. Aber er weiß, daß er es dennoch muß, und so spricht er beschwichtigend aus seinem Halbschlaf heraus: »Gleich, o gleich! nur noch einen kurzen Augenblick!« – Und dies: »Tout à l'heure! tout à l'heure! encore un moment!« ging mir Tag und Nacht durch die Seele. Ich wußte auch, es konnte nicht so mit mir bleiben – aber ich wußte nicht, was ich tun, was ich beginnen sollte. Die Tage, die Stunden waren so weit, daß keine Beschäftigung sie ausfüllte; das kam daher, weil ich nicht ganz bei meinen Beschäftigungen war, sondern nur mit halber Seele, mit halbem Herzen. Ich sah über sie hinaus, hinweg, auf kein bestimmtes Ziel, nur so in die Undeutlichkeit hinein, der ich angehören wollte, gleichviel wie! ob als ein elementarisches oder[195] ein seelisches Geschöpf – nur aber erlöst sein von dieser Folter des Ungenügens, welche ich in allem Irdischen fand. Weil ich nichts Bestimmtes wollte; weil etwas Unerreichbares ewig an meiner Seele nur vorüber glitt; weil auf der weiten Welt nichts war, das mich – nachdem ich es fest in's Auge gefaßt – veranlaßt hätte zu sagen: Hierin will ich für die Ewigkeit ruhen; – und weil ich doch nichts anderes begehrte als diese Ruhe für die Ewigkeit: so war ich wie einer, der im weiten Ozean schwimmt, von einer rettenden Küste träumt und sich immer heimlich dabei sagt: Sie ist nicht hier! sie ist nicht hier! diese Wellen bringen dich nicht dahin! – Dann nahm ich mich plötzlich wieder zusammen und hielt mir vor, daß meine seelische Unersättlichkeit wahrscheinlich aus meiner Gewohnheit entspringe, ihr immer nachzugeben, immer neue Nahrung für sie zu suchen, anstatt ihr Grenzen zu setzen und sie zu beschränken. Und ich nahm dann einen neuen Anlauf zur Genügsamkeit, der gerade ausreichte, um die Oberfläche der Existenz glatt erscheinen zu lassen. Oder ich beschwichtige mich momentan mit dem Gedanken, daß mir vielleicht später doch noch eine augustinische Bekehrung beschieden sein könne.
Mein Herr und mein Gott! nicht müde wurdest Du, an meine Seele zu klopfen; aber ach! ich ließ Dich nicht ein. Es machte mir damals einen erschütternden Eindruck, daß ein Mann, den ich nur[196] von Ansehen kannte und mit dem ich nie eine einzige Silbe gesprochen hatte, mir schrieb – um mich zu bitten, an meine Seele zu denken; mit dem Zusatz: ich müsse mich nicht wundern über seine Teilnahme für meine Seele, denn seit langen Jahren, so lange er mich kenne – (wenn man eine Begegnung auf der öffentlichen Promenade, die zuweilen nur einmal im Jahr geschehen mochte, so nennen darf) – bete er morgens und abends für diese Seele zu ihrem göttlichen Erlöser. – Der Gedanke, daß jemand für meine Seele bete, ergriff mich ganz unbeschreiblich, weil es so völlig über alle irdische oder menschliche Teilnahme hinausreichte und nur Himmlisches und Ewiges im Auge hatte. Aber die Bücher, die er mir vorschlug, um mein Seelenheil zu fördern – Jakob Böhme, Swedenborg und St. Martin) hatten durchaus nichts Lockendes für mich. Was sollte ich mit mystischer Theologie, Theosophie, Philosophie anfangen, während ich verhungerte nach einer starken, gesunden positiven Lehre? Nahrung wollte meine Seele – nicht mit Rauch sich abspeisen lassen! Ich hatte mich wieder in meine geliebten Propheten versenkt und in der Antwort, die ich auf jenen Brief erließ, sagte ich ungefähr: Gott werde gewiß nicht eine Seele verloren gehen lassen, die so fest an den Worten der beiden großen Propheten hinge: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, mein bist du!« –[197] und: »Mit ewiger Liebe lieb' ich dich, darum erbarm' ich mich dein und ziehe dich zu mir.« Denn in diesen Worten liege eine Verheißung und wer an sie glaube, für den gehe sie in Erfüllung.
Meine Schwägerin, eine orthodoxe Lutherische, fragte mich damals einst, was ich denn eigentlich glaube. Und auch ihr sagte ich jene Prophetenworte, die mein ganzes Glaubensbekenntnis umfaßten. Aber über diesen Glauben, der ja eigentlich nur eine Hoffnung war, sprach ich so innig, so warm, so durchdrungen von seiner Wahrheit und seiner Notwendigkeit für mich, daß meine Schwägerin, trotz ihres Luthertums, ganz zweifelhaft wurde, ob ich nicht dennoch in den Himmel kommen könne.
Man meint vielleicht, ich sei unaufrichtig in meinem Suchen und in meinem Beharren gewesen. Nein, ich war es nicht! man darf nur nie das Eine aus den Augen verlieren: ich war keine Christin, denn ich glaubte nicht an eine geoffenbarte Religion, und glaubte darum nicht an sie, weil ich keine Kirche hatte, durch welche ich diese Offenbarung empfangen konnte. Ich stand mit meinen Propheten in der Vorhalle, sehnte mich in den Tempel einzugehen, weil die Seele aus den Verheißungen heraus und nach der Erfüllung strebte – und war dennoch wie festgebannt im Vorhof. Aber ich blieb in demselben, denn da hatte ich ein ganzes Wort gefunden[198] – freilich nur Verheißung, nur Zusicherung, aber ganz und ohne inneren Widerspruch; folglich meinem absoluten und Wahrheit um jeden Preis begehrenden Charakter weit homogener, als die halben, unvollkommenen, schwankenden Lehren, welche außerhalb meines Vorhofs und des Tempels, von Kanzel und Katheder anderer Konfessionen erklangen. Ich stand draußen vor der Türe der Wahrheit – ja! aber ich stand nicht in der Lüge. Von den Propheten, die den Sohn Gottes verkündigten, ging ich geradeswegs zum Sohn Gottes, als ich wußte, wo er zu finden sei. Bei Luther und seinesgleichen ist es mir nie eingefallen, ihn suchen zu wollen, denn deren Menschenwort hat das göttliche Wort nie erfaßt, nie! Eine Christin konnte ich nur in dem Augenblick werden, als ich Katholikin wurde; – denn alles Ernstes muß ich jetzt fragen: Wißt Ihr denn wirklich nicht, daß es schon vierzehn Jahrhunderte vor Luther und Calvin Häresien gegeben, und daß eine jede behauptet hat, sie und nur sie habe die reine christliche Lehre? Genau dasselbe behaupten Luther, Calvin und wie sie alle heißen mögen! als echte und rechte Häretiker auch. Es ist aber wohl möglich, daß Ihr das nicht wißt, sondern treuherzig meint: Zuerst habe der heilige Geist das Christentum während einiger Jahrhunderte in der Kirche lebendig erhalten, und dann sei er sozusagen schlafen gegangen, wodurch sie,[199] sich selbst überlassen, auf antichristliche Wege geraten sei – bis plötzlich im sechzehnten Jahrhundert ein ganzer Schwarm von neuen Messiassen das reine Christentum wieder eingeführt hätten – der eine ein calvinisches, der andere ein lutherisches, der dritte ein anglikanisches, der Vierte ein reformiertes Christentum, aber alle das reine, das wahre, das echte, das unverfälschte; – und damit beruhigt Ihr Euch!! Aber fällt Euch denn diese Harlekinsjacke nicht seltsam auf gegen den Pupurmantel der Einheit der Kirche? und noch seltsamer, wenn Ihr bedenkt, daß mit dem zweiten Jahrhundert die Häresien begannen, ihr buntes Lappenwerk zusammen zu flicken, so daß Eure Reformatoren bei dieser Arbeit Hunderte von Vorgängern hatten, wie Gott ihnen vielleicht noch Hunderte von Nachfolgern geben wird – weil die Kirche auf Erden die streitende Kirche ist und sein muß, um nach ihren unermüdlichen Siegen im Himmel die triumphierende zu sein. Was gefällt Euch denn an den bunten Fetzen? könnt Ihr einen einzigen guten, großen Gedanken daran knüpfen? Schwerlich! ich weiß wohl, daß Ihr einen Gedanken daran knüpft, allein der ist weder groß noch gut; Ihr denkt: Nun, das ist wenigstens die Rüstung aller, die gegen das Papsttum zu Felde gezogen sind. Richtig, nicht wahr? und darum nehmt Ihr mit dem Lappenwerk vorlieb. Aber was ist der Erfolg jener Feldzüge?[200] ein trauriger Abfall von der Wahrheit, durch den das Reich des Bösen auf Erden beträchtlich vergrößert und das Elend unzähliger Seelen bewirkt wird. Doch der Purpurmantel der Kirche bleibt unangetastet in einem Stück, wie das nahtlose Kleid des Heilands. Und seine Farbe hat er von dem Blut ihrer Märtyrer, von der Liebesglut ihrer Heiligen, von dem Feuereifer ihrer Streiter, von der Majestät ihrer großen Männer, von der Glorie der ewigen Opfer an Gut und Blut, an Leib und Leben, die in ihr dargebracht werden, von dem Glanz, den sie durch achtzehn Jahrhunderte des Segens über den Erdball verbreitet. Die Einheit des Dogmas gibt ihm seine Festigkeit und Dauer; die Herrlichkeit, mit welcher das Dogma in die Wirksamkeit des Lebens eingreift, gibt ihm seine Farbe. Die Einheit kräftigt unsern Glauben; die Herrlichkeit entflammt unsere Liebe. Er richtet sich nicht auf die Wahngebilde des menschlichen Verstandes; sie entzündet sich nicht an den Wolkengebilden des menschlichen Herzens; sondern beide wurzeln in der Offenbarung des göttlichen Wortes – in jener unveränderlichen, welche die Häresien kommen und gehen, auftauchen und verschwinden sieht – und allein die christliche Lehre von einem Jahrhundert zum andern, von einer Generation auf die andere mit unerschütterlicher Treue fortpflanzt. O diese Treue, diese Unwandelbarkeit, sind sie nicht das, was das arme[201] schwankende Herz bedarf, um sich in ihrer ewigen Gewißheit auszuruhen von all der Treulosigkeit und Wandelbarkeit, die es in allen irdischen Dingen, in sich selbst, in seinen Freunden und Freuden, in seinen Wünschen und Bestrebungen findet, so daß es oft durch einen Luftzug, ein Wort, ein Sandkörnchen, einen Wassertropfen sich bestimmen läßt, das Gegenteil von dem zu wollen und zu tun, wofür es vielleicht zehn Jahre lang geglüht und geschlagen hat. Denn so ist es beschaffen – nicht mein Herz etwa, oder Dein Herz, Du fremde Seele; sondern das Menschenherz. Diese Unruhe, diese Sehnsucht, dieses Versagen, diese Entmutigungen, dieses Himmelstürmerische, dies Staubverwandte, diese Zuversicht zur eigenen Wechsellosigkeit, diese Erkenntnis, daß der Wendepunkt bereits überschritten war, als man noch mit der Zuversicht prahlte – dieser Aufschwung, dem plötzlich Versunkenheit, dieses Dürsten, dem kein Genügen folgt – wer kennt das nicht? wer hat das nicht mit tausend und aber tausend Schmerzen durchkämpft? wer hat nicht gewünscht, aus diesem vernichtenden Wirbelwind das Herz retten und zum Frieden bringen zu können? – Wohlan, wir können es zum Frieden bringen: wir dürfen es nur mit der göttlichen Wahrheit erfüllen und es hat seinen Schwerpunkt gefunden und läßt sich nicht mehr blindlings umherschleudern; – es ist voll, denn die Wahrheit gibt unendliches Genügen;[202] – es ist hell, denn sie gibt reines Licht, – es ist stark, denn sie gibt ihm Vertrauen zur Kraft der Gnade; – es ist fest, denn es lehnt sich an einen Felsen; – es ist sicher, denn es birgt sich unter jenem Purpurmantel, der für alle Ewigkeit schützend und schirmend über die Seinen sich ausbreitet. Und nun sage mir, fremde, geliebte Seele, was tut die Harlekinsjacke für Dich! Dein Reformator, oder wie Du sonst den Mann nennen willst, ist gekommen und hat das Läppchen seiner armen Meinung an die Masse der übrigen Läppchen geheftet, von denen manche schon so zerfetzt und vermodert sind, daß man ihre ursprüngliche Farbe kaum erkennt – grade so wie der Name ihres Stifters auch schon halb verschollen ist. Wird es Dir nicht mit ein wenig gelassenem Nachdenken klar, daß Deines Reformators bunter Lappen demselben Schicksal entgegen gehe? Was weißt Du von Gnostikern und Manichäern, von Ebioniten und Marcioniten? – Sehr wenig, und das ist recht gut! Aber fällt Dir dabei nicht ein, daß man nach anderthalb Jahrtausenden auch wenig von Calvinern und Lutherischen wissen dürfte? Häresien verhallen und hätten sie für eine zeitlang das Antlitz der Erde umgestaltet – sie verhallen doch! Die Kirche allein hat »Worte des ewigen Lebens«, weil sie allein, sie von Anbeginn, die ganze Lehre Christi verkündet hat, weil sie die christliche Kirche ist. Häresien sind Auswüchse,[203] sind krankhafte Gebilde des Menschengeistes im Christentum – weiter nichts.
Das Ringen meiner Seele, um zu Gott zu kommen, nahm nicht den Weg durch die Häresie, sondern ließ sie von Hause aus, so viel es dem Instinkt oder der Ahnung oder dem gesunden Menschenverstand möglich war, als ein Stückwerk beiseite. Ich wollte nun einmal immer und in allen Dingen etwas ganzes, alles; da konnten auch 99/100 mir nicht genug sein.
Im September 1847 ging ich nach Italien mit der Absicht, den Winter in Sizilien zuzubringen. Unterminiert wie der Boden des Lebens überall war, machte etwas Gährung mehr oder minder an diesem oder jenem Ort mir keine Frucht. Jeder denkende Mensch erwartete eine Art von politischem und sittlichem Erdbeben. Wie wir uns dabei verhalten würden, wußten wir alle nicht.
In Wien diskutierte ich einen Abend bis tief in die Nacht hinein mit einem lieben Freunde, der sehr mit dem Kommunismus bekannt war und ihm, nach meiner Ansicht, zu viel Regenerationskraft zutraute. Ich fand, daß all diese Schlagworte: Gleichheit, Brüderlichkeit, Gemeinschaft, nur dann einen Sinn hatten und zum Heil der Menschheit dienen konnten, wenn sie im religiösen Gebiet und von dort aus in den Herzen Wurzel faßten; – aber Staatsformen darauf zu basieren,[204] verstand ich damals so wenig, als ich jetzt daran glaube. Ist die Religion so mächtig in uns, daß unser Glaube uns den Herzschlag der Liebe gibt, so herrscht eine ganz anders innige und lebendige Brüderlichkeit auf der Welt, als der Kommunismus mit seinem dürftigen äußerlichen Gesetz es sich träumen läßt; – denn sein Gesetz hebt die Liebe auf und Brüderlichkeit ohne Liebe ist peinlicher Zwang – ist so etwas wie zwei Galeerensklaven an einer Kette.
In Venedig waren soeben immense Feste zu Ehren der Gelehrten von ganz Europa vorüber. Ach, es war damals eine schlechte Zeit! Dies sich gegenseitige Bekränzen und Bekomplimentieren, und dies großsprecherische Prahlen mit Geist und immer Geist – mit Wissenschaft und immer Wissenschaft – mit Gelehrsamkeit und immer Gelehrsamkeit – war so eitel, so hohl, so übertrieben, so losgerissen von der gesunden harmonischen Entwickelung der Menschheit, daß ich es gar nicht ohne tiefen Widerwillen betrachten konnte und oftmals sagte, wenn der Geist so überschätzt wurde:
»Mir wäre für hundert Menschen von Geist ein einziger Mensch von Charakter lieber; – ein einziger, der nicht aus Gier nach Popularität rechts und links Katzenbuckel machte.«
An den schönen Altertümern einer der merkwürdigsten, aber selten besuchtesten Städte Italiens, Ravenna, konnte ich nur mit halbem Interesse[205] Teil nehmen; ich mußte immer an Kaiser Honorius denken, der hier in Ravenna seine Hühnere fütterte, während Alarich mit seinen Gothen auf Rom losging und es eroberte, und dem keiner seiner Höflinge zu sagen wagte, wie es eigentlich in seinem Reiche stehe. Dies war ein ebenso schauerliches als wahres Bild von so vielen, die, in ihre Chimären, Träume, Theorien, oder sonstige Liebhabereien versunken, nicht bemerkten, noch bemerken wollten, daß Barbaren die Welt überschwemmten und daß diese von Barbarei bedroht sei. Denn der Radikalismus ist in meinen Augen nie etwas anderes gewesen, als Barbarei, weil er im Leben der Völker das Gleichgewicht aufzuheben sucht, das der Entwickelung aller Kräfte günstig ist, um die Gleichheit an ihre Stelle zu setzen, die all jene Kräfte lähmt und hemmt, folglich zum Mißbrauch veranlaßt.
Es war eine melancholische Reise! Nirgends waren die Eindrücke der Vergangenheit oder der Kunst und Natur mächtig genug, um den Hinblick auf eine Gegenwart zu verhindern, die man gleichsam in den letzten Zügen liegen sah! In Rom las ich ein Buch, welches damals eine außerordentliche Berühmtheit hatte und welches seinem Verfasser eine der unächtesten Kronen verlieh, die je ein Mensch getragen hat. Der Glanz, womit es geschrieben ist, blendet mich nicht – Gott Dank! ich finde in meinem Notizbuch:[206]
»Rom. Oktober 22. 1847. Soeben ausgelesen Lamartine: Histoire des Girondins. Einen so gräßlichen Eindruck von Trauer, Abscheu und Verzagtheit hat mir nie ein Buch gemacht. Mich überwältigt ein Ekel vor dem Menschengeschlecht, wenn dies seine Heroen sein sollen. Der aktive Teil besteht aus ruchlosen, verrückten, fanatischen, trunkenen Köpfen; der passive aus einere sklavischen Heerde. Menschen sehe ich nirgends, nur Köpfe, in denen nebulose, utopische, egoistische Ideen, unpraktische Theorien, unverstandene philosophische Systeme incohärent durcheinander wirbeln; – Menschen nirgends! nirgends ein Herz, eine Seele, ein Gewissen! nicht einmal einen ganz ordinären Menschenverstand, nicht einmal eine noch ordinärere Menschenfaust. Betrunken! betrunken! und abermals betrunken! sagt' ich jedesmal, wenn eine neue revolutionäre Fraktion auftaumelte, um unter der Guillotine zu verschwinden; – betrunken von Materialismus die einen, von falschem Spiritualismus die andern; betrunken – alle! daher tappend, ungewiß, schwankend – und nur aus Furcht oder Grausamkeit entschieden – nie aus Gewissenhaftigkeit. Keiner hatte ein Gewissen, denn keiner hatte ein Herz! das Herz weiß von Recht und Unrecht; aber der Kopf verdreht beides durch die Sophistik, die er zu seiner schiefen, hohlen Entwickelung braucht[207] und die er aus seinem theoretischen oder philosophischen Wissen schöpft. Je mehr ich über jene Revolution lese, um desto abscheulicher finde ich sie – besonders dann, wenn sie verherrlicht werden soll, wie durch dies Buch. O die Madame Roland – wie ich sie hasse, diese Repräsentantin des tiers-état, in seinem Neid, in seinen Rauschgold-Phrasen, in seinem hochfahrenden und kläglich unvollkommenen Streben, den Platz der Besseren einzunehmen, in seinem Komödienspiel mit großen Worten ohne große Tat, in seiner eiteln Selbstüberschätzung! Und die soll ich bewundern? – O dieser Robespierre, wie ich ihn hasse – dies Skelett eines Menschen, das mit seiner dürftigen Manie des Systems logisch zur Guillotine kommt! Und den soll ich doch bewundern? Oder den starren Fanatiker St. Just? Oder Philippe Egalité? Oder diese ganze Gesellschaft der Gironde, die sich am besten ausnimmt – bei Tisch, wenn Madame Roland ihnen Rosenblätter in die Weingläser wirft – was ein antikes Symposion bedeuten soll – Schauspieler, die sie sind! – Nein, ich hasse sie alle, denn sie lügen alle! das werd' ich in alle Ewigkeit nicht glauben, daß sie durch unschuldige Verblendung zu ihren Monstrositäten kamen! Eine solche Verfinsterung des Gewissens geht aus tiefer, selbstverschuldeter Schuld hervor. Am meisten hasse ich aber Lamartine selbst, der, indem er diesen Morast von[208] Greuel, Niederträchtigkeit, Raserei, Unredlichkeit erzählt, dennoch immer von der Revolution als von etwas ganz Erhabenem spricht, das durch all die Untaten habe hindurch gehen müssen, um in den Wolken einher zu spazieren, und das unerhört zu bewundern und zu verehren sei. So zweizüngig muß man aber nicht sein, mein Herr von Lamartine. Lassen Sie doch diese unwürdige Gier nach Popularität fahren! Sie sehen ja, im entscheidenden Moment hat sie keinem geholfen – nicht dem Egalité, nicht dem Danton, nicht dem Robespierre. Sie schreiben auf all diese Gräber: »Morts pour l'avenir et Ouvriers de l'humanité!« – willkürliche Henkerarbeiter nennen Sie Ouvriers de l'humanité? O wehe der Zukunft, welche diese Blut-Erbschaft antreten möchte.«
Ich habe dies abgeschrieben, um einen Ausdruck für das Entsetzen zu finden, das mich vier Monate später übermannte, als dieser nämliche Herr von Lamartine die Zügel Frankreichs in seinen Händen halten sollte – in diesen Händen, die so schwach waren, daß sie nicht einmal eine arme Schreibfeder geradeaus führen konnten. Nun, ich schreibe nicht die Geschichte jenes traurigen Winters, noch der Revolutionen von Palermo und Neapel, die ich an Ort und Stelle erlebte, noch der Revolutionen in Frankreich und Deutschland, die ich, Gott Dank! nicht in der[209] Nähe ausbrechen sah. Aus Neapels fieberhaften Zuständen ging ich auf zwei Monate in die Einsamkeit von Sorrent, um zu überlegen und zu erfahren, ob und wie nach Deutschland zurückzukehren sei und hauptsächlich um erst der Verzweiflung Meister zu werden, die mir das Herz zu brechen drohte, wenn ich auf die deutschen Zustände blickte. Ja, Verzweiflung; denn hinter all den Aufständen und Emeuten, Misse- und Untaten, Floskeln und Phrasen, Frechheit und Feigheit sah ich dasjenige, welches das Ende von dem allen zu werden, alles zu verschlingen drohte: den Radikalismus, das letzte Stadium der Demokratie, der man so bereitwillig die Wege öffnete, als ob sie das Verderben aufhalten könnte, in welches sie recht eigentlich kopfüber sich und alles stürzte, was ihr anhing.
Für den Schmerz, der damals an mir nagte, habe ich jetzt keine Worte mehr; denn seitdem ich der Kirche angehöre, betrachte ich die Erscheinung der Zeit nur in Beziehung und mit dem Blick auf sie; und da sie, auf deren Zerstörung es recht eigentlich abgesehen war, nicht nur nicht zerstört, sondern freier, kräftiger, zukunftsgewisser geworden ist – da sie allein bis jetzt frische Luft, um ihr eigenes Leben zu leben, gewonnen hat, während alle weltlichen Zustände noch sehr kurzatmig sind: so gleitet das Auge getrost über diese hinweg[210] und zu ihr – der die Verherrlichung nimmer ausbleibt, und gerade dann am nächsten ist, wenn sie die Via Crucis unter Geißeln, Hohn, Dornen und Schmach gegangen ist. Je näher dem Kalvarienberg, desto näher der Auferstehung.
Ich lasse aber einige Auszüge aus Briefen und meinem Notizbuch folgen, um diesem nagenden Gram genau den Ausdruck und die Farbe zu geben, welche er damals hatte und welche ich jetzt nicht mehr treffen würde. Er war so vehement, daß meine Gesundheit mehr durch ihn litt, als je durch einen persönlichen Schmerz; – und so tief, daß er mich mehr als alles andere von einer Welt abgelöst – oder wenigstens gründlich die Ablösung vorbereitet hat – von einer Welt, bei der ich fortan immer denken muß, wie die Alten von einer Trophonius-Höhle: Wer einmal in sie hineingeschaut hat, wird nicht wieder froh, so traurig macht ihn all das Gräßliche, das er in ihr gesehen. Ich mag aber nicht um Irdisches und Vergängliches traurig sein und deshalb wende ich mich zu dem Ewigen hin, um jenes zu vergessen.
Ich schrieb an eine Freundin in Dresden: »Neapel, März 14. 1848. – – es war ein schwerer Winter! so recht eine Zeit, die einem das Herz in der Brust dermaßen schwer macht, daß man davon ganz stumm wird. Nun[211] ist die Explosion in Paris geschehen; nach all den Vorspielen hat die Tragödie begonnen und man kann wenigstens seinem Grauen Worte geben. Ich stand immer unter einer Gewitterwolke und fühlte mich wie von zerschmetterten Schicksalen bedroht. Jetzt mache ich meines Teils mich fertig, um dem Kampf beizuwohnen, der zwischen Barbarei und Civilisation, nicht in Schriften, nicht in Büchern, sondern in fürchterlicher Handgreiflichkeit beginnen wird. Radikalismus ist Barbarei, weil er Gleichgewicht und Gegensätze, ohne welche Entwickelung der Völker wie der Individuen unmöglich ist, aufhebt und eine stupide, anarchisch-despotische Gleichheit an deren Stelle zu bringen sucht. Als das alte Rom, als die altgriechischen Republiken von diesem Radikalismus zerfressen waren, legte dort Augustus der Kaiser – legte hier Philippus der Eroberer die Hand auf ihn – und er war vernichtet; aber durch ihn war es auch für immer die große antike Zeit. Glauben Sie, daß unsre gebrechliche moderne ihm widerstehen werde? Ich glaub' es nicht. Daß in Frankreich der Moment eintreten würde und müßte, der jetzt eingetreten ist, war vorauszusehen; wo das Recht aufgehört hat zu herrschen, da herrscht die Willkür und muß darauf gefaßt sein, durch Willkür gestürzt zu werden. Die Revolution von 1789, welche vorgab, im Namen[212] des Rechtes gegen die Willkür des Königs und der sogenannt bevorzugten Klassen der Gesellschaft aufzustehen, hat die Willkür zum Gemeingut aller gemacht. Die Guillotine verfuhr nach Willkür; Napoleon desgleichen; beide waren tyrannisch und das imponierte. Als die Restauration die Willkür versuchen wollte, ward sie gestürzt, denn sie war nicht tyrannisch. Die Willkür erfand das Bürgerkönigtum, das achtzehn Jahre gegen die Pöbelherrschaft gekämpft hat und von der Willkür gestürzt worden ist, weil es nicht tyrannisch war. Dies ist in der Ordnung! Frankreich mußte bis zu dieser untersten Stufe in den Abgrund hinein, denn Epochen wie Menschen müssen sich zu Tode leben, d.h. ihre Lebenskraft erschöpfen. Pöbelherrschaft ist das letzte Stadium der revolutionären Epochen, ist die letzte Konsequenz des demokratischen Prinzips der Gleichheit. Dies also befremdet und erschreckt mich nicht. Allein was mich mit ich weiß nicht welcher Verachtung erfüllt, ist die in der ganzen Weltgeschichte beispiellose Feigheit, mit der das Bürgerkönigtum auseinander gestoben ist. Hat 100,000 Mann – hat ein befestigtes Paris – und platzt wie eine Seifenblase, ohne Widerstand, ohne Gegenwehr, ohne Versuch, den Platz zu behaupten. Alle fliehen! König, Prinzen, Minister verschwinden wie Schatten! Nie hat sich eine gestürzte Ordnung[213] der Dinge mit so unsterblicher Schmach bedeckt, als dieser Ausdruck des eitlen und prahlerischen tiers-état, als dieses Bürgerkönigtum. Und woher die feige Flucht? – weil es nicht an sich glauben kann! weil es eingedenk seiner Willkür nicht von seinem göttlichen Recht überzeugt ist. Wer daran glaubt – kann überwunden werden, ja! aber nach tapfrer Gegenwehr, wie Karl I. Kennen Sie etwas Erbärmlicheres als moralische Feigheit? ich nicht! – Meinen Sie, daß ich jetzt nicht in Deutschland zum Vorschein kommen werde? ich will es hoffen, aber – ich glaub' es nicht.«
Und am 17. März schrieb ich: »Ein so beispielloses Zerstieben aller Elemente, auf denen eine Regierungsform achtzehn Jahre geruht hat – hat die Geschichte noch nie gesehen. Nur eines tritt mir aus dieser Unbegreiflichkeit klar entgegen: die gänzliche Unfähigkeit des tiers-état mit seinem Gleichheitsprinzip, einem Staat Dauer – einer Nation Würde zu verleihen. Er besaß die ganze materielle und ihm fehlte die ganze moralische Macht! Letztere wird in einem Staat nur durch das aristokratische Element vertreten, weil es die große Tradition der Ehre in sich faßt, die mit der Erblichkeit und der Würde der Familie auf's Tiefste zusammenhängt. Ein Bürgerkönigtum ist ein Haupt, das über Armen und Beinen[214] thront, ohne eigentlichen Zusammenhang mit ihnen. Das aristokratische Element vertritt das Herz, den eigentlichen Kern des Lebens; Erhaltung, Dauer, nachhaltige Kraft, große Hilfsquellen gewährt es. Wo es fehlt, stürzt das Gebilde bald über den Haufen, denn es mangelt die organische Verbindung zwischen Haupt und Gliedern. Die künstliche eines momentanen Bedürfnisses gibt keine Garantie und ist ja doch nur eine Willkür in gewissen bestimmten Formen. Das Bürgerkönigtum ist ein vortreffliches Präludium zum Pöbelkönigtum des Radikalismus; – und bei dem habe ich nur einen Trost: das Leben Sulla's. Er war vier Jahr alt beim Aufstand von Tiberius Grachus; siebzehn beim Tode des Cajus; achtundfünfzig, als er seine bluttriefende Diktatur, sein Rächeramt niederlegte – woraus zu ersehen ist, daß die demokratische Herschaft im alten Rom binnen eines halben Jahrhunderts die ganze Evolution ihrer Lebenskraft durchmachte – beginnend mit der Demogogie, endend unter der Diktatur. Frankreich wird es nicht länger aushalten als das alte Rom.«
Dies war alles geschrieben, bevor die Nachrichten aus Deutschland kamen. Daß die deutschen Demagogen pflichtschuldigst den französischen nachahmen und Revolution machen würden, ließ sich natürlich erwarten. Aber was ich nun erwartete:[215] ein geharnischter Widerstand bis zum letzten Tropfen Blutes – ein Widerstand, wie er aus dem Bewußtsein hervorgeht, für Recht und Ehre bis in den Tod zu kämpfen, und würde der Umsturz dadurch auch nur für eine Sekunde aufgehalten; – das erfolgte nicht! Wie ein Schwert ging es mir durchs Herz: Kein Gefühl für Recht und für Ehre! – und dem Volk gehörst du an! – womit hast du diese Schmach verschuldet? – Im stummen Schmerz sanken mir die Arme wie gelähmt herab, wenn ich Briefe aus Deutschland bekam. Meiner Mutter schrieb ich:
»Sorrent, Villa Rispoli, April 2. 1848. Als wir in den Wagen stiegen, um hieher zu fahren, erwartete man in Neapel einen republikanischen Aufstand, obwohl man eine ganz demokratische Konstitution errevolutioniert hat. Denn das glaubt nur ja nicht – obwohl es in Deutschland alle Welt zu glauben scheint – daß die Ruhe hergestellt sein werde, wenn man Repräsentativ-Verfassungen einführt. Mit denen ist dem Radikalismus gar nicht gedient! Er will tabula rasa machen, denn er ist die äußerste Spitze und die letzte unvermeidliche Konsequenz des demokratischen Prinzips der Gleichheit, das jetzt Europa mit Barbarei bedroht. Denn auf dem Punkt künstlicher und komplizierter Civilisation, auf dem sich Europa befindet, ist eine demagogische[216] Herrschaft – in welcher die Räder dieser überverfeinerten Maschine wirr und wild durch einander rollen – Anarchie, und diese stürzt unvermeidlich in Barbarei. – Wie mir zu Mut ist, soll ich Dir sagen? ja, liebe gute Mutter, das ist gar nicht zu sagen! dafür muß ich erst Worte erfinden! die alten genügen nicht. Ich kann den Schmerz nicht überwinden, eine Deutsche zu sein. Ich komme mir vor wie gebrandmarkt, weil ich zu einem Volke gehöre, das seit Jahren die großen Worte Nationalehre, Nationalbewußtsein und sonstige Nationalität im Munde führt – um im entscheidenden Augenblick zu beweisen, daß es sie nie begriffen hat. Denn hätte es sie begriffen, so würde es nicht in Frankreichs Fußtapfen treten, so würde es lachen über den Fünfziger-Klub, der in Frankfurt sitzt oder sitzen will; so würde es sich empören bei dem Gedanken, daß man ihm dort ein Bürgerkaisertum zurechtdrechseln könnte, da es das Schicksal eines Bürgerkönigtums vor Augen hat. Ach, freie Institutionen – d.h. bei mir ehrliche Institutionen, die nicht das Tor verschließen und die Hinterpforte offen lassen, wie es bei den Preßgesetzen war – mit welcher Freude würde ich sie begrüßen! Aber in dieser Zeit, mit diesen Leuten, unter diesen Verhältnissen, nach französischem Beispiel sie fordern – das kann mich nicht freuen! nein, nimmermehr![217] – Ehe ich nach Deutschland zurückkehre, muß ich die Verzweiflung bemeistert haben, die mir das Herz zerfrißt, und ich weiß gar nicht. ob mir das möglich sein wird.« – –
»Villa Rispoli, April 14. Aber was ist denn das für eine unbegreifliche Verblendung in Deutschland, mit dem Beispiel Frankreichs vor Augen und zur Seite, den Radikalismus Freiheit zu taufen und in seinen Strudel blödsinnig und kurzsichtig hinein zu taumeln! Welch eine moralische und seelische Unmacht – welche ein krankhaftes Gehirn – welch eine Unfähigkeit, gesunde Gedanken zu fassen, spricht sich in dieser Verblendung aus! Und damit will man eine neue Zeit herauf führen! Ach Gott! nur aus dem Herzen, diesem Mutterschoß des Lebens, könnte eine neue Zeit geboren werden, und das Herz ist den Leuten vor lauter Gelehrsamkeit und Philosophie zerbröckelt. Aber jede andere Geburt ist ein Wechselbalg; – und das Ding, welches das sogenannte Parlament zu Frankfurt ausheckt, muß ein Wechselbalg erster Ordnung werden.«
Zuletzt, um das Maß zu füllen, kamen die Nachrichten aus Holstein – aus dem sonst so glücklichen und gesegneten Holstein, welches jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, bis auf die Hefen den bittern Trank der Demagogenwirtschaft leert. Ich schrieb meinem Bruder:[218]
»Aber Ihr von der Ritterschaft, seid Ihr wahnsinnig? seid Ihr taub und blind? Seht Ihr denn nicht, daß die Advokaten Holstein in den deutsch-republikanischen Brei einkneten wollen? Weshalb vereinigtet Ihr Euch nicht augenblicklich gegen diese provisorische Regierung?«
O diese Tage von Sorrent mit ihrem schneidenden Kontrast zwischen einer paradiesisch schönen Natur, die groß und weit Meer und Gebirg, Inseln und Vulkan, getaucht in den Zauber des Lichtes und in die Fülle der Vegetation, zeigt und die ganze Herrlichkeit der Erdenschöpfung in einem Rahmen zusammenfaßt – und einem winzigen Menschenherzen, dessen Gram so tief, dessen Trauer so schwarz, dessen Schmerz so nagend war, daß es trotz seiner Kleinheit diese ganze wunderbare Schönheit dunkel – ja, tot machte – sind mir unvergeßlich. So schön war die Welt, wie Gott sie geschaffen – so abscheulich, wie der Mensch sie zurecht gemacht hatte! aber ich konnte mich nicht wie sonst in ihre Schönheit versenken und berauschen. Der Oliven- und Orangenhain, der die Villa umgibt, endet mit dem schroffen Felsenabfall über dem Meer, welcher die ganze Küste von Sorrent so malerisch und phantastisch macht, daß man immer meint, es müßten aus seinen Grotten, Klüften und Höhlen noch jetzt Syrenen auftauchen, um das Ohr ebenso zu bezaubern,[219] wie das Auge es ist. Sitze eines antiken Theaters, unterwühlt von der Meeresflut, zerstört von den mächtig ausgreifenden Wurzeln der Ölbäume, sind noch am äußersten Rande der Felsenwand erhalten. Dort saß ich jeden Abend, wenn die Sonne sank hinter dem Epomeo auf Ischia, wenn Himmel und Meer sich auflösten in Rosengluten, wie zwei Götter in einer unsterblichen Umarmung zusammensinkend, während die Küsten sie umfingen, strahlend wie eine Krone von Diamanten, lieblich wie ein Blumenkranz. Und wenn die gedämpften Rosengluten purpurfarben wurden, dann violett, dann blau, endlich silbergrau – und die Wellen stärker da unten rauschten, und von oben herab, vom Kamm des Gebirges, ein großes Rauschen der Eichen- und Oliven- und Maulbeer- und Orangenhaine antwortete. Und wenn die Nacht auf diesem Rauschen, wie auf mächtigen Schwingen, majestätisch einherzog und ihren sterndurchwirkten Schleier über die besiegte Welt warf, – eine schwermütige Siegerin, welche das Schlachtfeld der Erde voll Toter und Verwundeter vor sich selbst verhüllt. Da saß ich oder ging auf und nieder, stundenlang, sah und empfand ich die Schönheit der Natur, weil sie überwältigend ist wie alles, was unmittelbar aus der Hand Gottes kommt. Aber in die andre Schale der Wage warf ich mein Herz mit[220] dem einen Gedanken: Warum wehrt sich die Welt nicht gegen die Lüge und die Sklaverei, welche das böse Prinzip ihr aufzudringen sucht? ich verlange ja keine strahlende Siege – nur Kampf! nur Gegenwehr! nur den Ausdruck der unversöhnlichsten und überwindlichsten Verachtung – weiter nichts! Wenn das aber zu viel für sie ist, wenn sie sich dazu nicht mehr ermannen kann, wenn sie unter das Joch der Lüge und Sklaverei kriecht – was fängst du dann an? wie rettest du dich aus ihr und wohin? – wohin? – Und da gab es in der ganzen großen wunderschönen Natur nicht einen Punkt, nicht einen! bei dem ich gedacht hätte: Dahin! ja, da ist Rettung für Dich! – Kein Land, kein Volk, keine Einsamkeit, kein Gebirg, keine Wüste, kein Eiland, nichts zeigte mir den Hafen, nach dem ich mich vertrauensvoll hingewendet hätte. Nicht nach dem Orient wollt' ich mich retten und nicht nach dem Occident, sondern – höher hinauf.
O ihr Tage von Sorrent, eure Erinnerung ist mir süß und melancholisch wie an eine ersterbende Liebe. Ach, wie hatte ich früher die Natur geliebt! wie konnte ich mich versenken in Licht und Luft und Farben, mich ihnen hingeben, bis ich mir selbst wie ein Traum wurde, der aus ihnen geboren war und keine von ihnen abgelöste Existenz besaß, noch besitzen mochte! nie war kein Tag mir[221] zu lang, keine Beschwerde zu groß, keine Entfernung zu weit, wenn es galt, einen neuen Zug ihrer ewig neuen Schönheit in's Auge zu fassen! wie wohl tat sie mir, immer beschwichtigend, erfrischend, beruhigend, zugleich ein Webstuhl für die Phantasie, ein Ruhebett für's Herz, das eine wohltätige Beschränkung in ihren festen Gesetzen empfing, deren Festigkeit mit Majestät und Anmut lieblich verhüllt wurde! Nun war das anders! sie, die sonst Balsam für jeden Schmerz – – ein Schlummerlied für jede Klage gehabt hatte, bot mir für dieses Weh keinen Lethe. Und das ist nun einmal so mit mir, und ist es weise oder undankbar, ist es tief- oder leichtsinnig – ich weiß es nicht! aber es ist so: Was in den großen, in den entscheidenden Momenten, in den Wendepunkten und Erkenntniskrisen des innerlichen Lebens nicht mit mir aushält – was in ihnen blaß oder matt oder welk oder unzulänglich oder fremd wird – mögen es Menschen oder Dinge sein – das ist eine hinsterbende Liebe und nimmermehr wird sie lebendig in alter Kraft; denn die Liebe hat nur ein Leben oder kein Leben; ist ewig, oder war nie etwas anderes als eine Fata Morgana der Ewigkeit. Nun, auch eine solche Wüsten- oder Meeresspiegelung hat ihren Reiz! und die Natur behält ihn immer, weil sie, unmittelbar aus der Hand Gottes[222] hervorgehend, durch menschlichen Aberwitz nicht verzerrt werden kann. Allein die Liebe, die ich sonst für sie hatte, starb in Sorrent! ich konnte mich noch an der Natur erfreuen – o sehr! aber ich hoffte nichts mehr von ihr. Hoffnung bezieht sich nur auf himmlische und unsterbliche Gaben, als: Revelation göttlicher Geheimnisse, Offenbarung göttlicher Schönheit, Eingebung göttlicher Erkenntnis. Sie hatte sich nur als Spenderin sterblicher Gaben erwiesen, denn sie vermochte nichts gegen ein großes Herzeleid.
Im Junius kam ich nach Deutschland zurück, nach Dresden, nach Berlin, nach Holstein; und mein Gram trat in eine neue Phase.
»Ganz stupid sehe ich auf die allgemeinen Zustände,« schrieb ich. »Denn davon wird man stupid, auf der großen Schaubühne des politischen Lebens in einem so furchtbar gewichtigen Augenblick keine wahren Staatsmänner zu finden. Was jetzt obenauf ist und sich brüstet und das große Wort führt, das sind Mittelmäßigkeiten ohne Genie und ohne herrscherische moralische Kraft; oder Männer des Umsturzes, die in meinen Augen alle auf der Stirn ein Brandmal tragen. Nicht ein eminenter Charakter, zu dem man sich flüchten – nicht ein überlegener wissender und könnender Geist, an den man sich schließen, mit dem man Partei machen möchte! Es kommt kläglich[223] zum Vorschein, daß Opposition machen und staatsmännische Befähigung haben – mit nichten in Deutschland Hand in Hand geht. In England freilich lacht man über denjenigen, der Opposition macht, ohne fähig zu sein, Premier zu werden! hier aber lebt man in dem blöden Wahn, daß die ganze Partei, die gegen Regierungen, Gesetze und Bestehendes Zeter geschrien hat und noch schreit – von Genies aller Art wimmele. Wir werden es erleben, wie diese Genies gleich tauben Nüssen zu Boden rasseln werden, wenn die Windstöße kommen – und das soll mir eine Wonne sein!« – – –
»Und wie diese wenigen Monate bereits die Charaktere gemein gemacht oder die gemeine Anlage in ihnen entwickelt haben – das ist ebenso erstaunlich als erschreckend. Wo die Demokratie obenauf ist, geht's mit der edlen Gesinnung reißend bergab; denn Neid zum ersten! Neid zum zweiten! Neid zum dritten! – das ist ihr Character indelebilis! Neid nach jeder Richtung hin – wie die alte Geschichte von Aristides dem Gerechten ein weltberühmtes Beispiel davon gibt! Wie verderblich muß also das Gleichheitsprinzip sein, welches den demokratischen Institutionen zur Basis dient, da es die Seelen nicht anfeuert, dem Ausgezeichneten nachzueifern, das ihnen begegnet, sondern nur die grimmige Schadenfreude[224] in ihnen weckt, es so geschwind wie möglich in ihren Staub und in ihren Sumpf hinab zu ziehen! da jeder es als eine persönliche Kränkung betrachtet, daß es eine Tugend, ein Genie, einen Charakter, einen Rang, einen Reichtum, ein Ansehen, einen Stand gibt, welcher höher und strahlender als seine Tugend, sein Geist etc. etc. sind! Die gemeinen Naturen wuchern auf diesem fetten Boden moralischer Versumpfung, der so recht ihr Element ist. Dawider hätte ich nichts; sie sind in ihrem Recht; jeder hat da zu leben, wohin er gehört. Aber daß diejenigen, welche man für tüchtiger und rechtschaffener gehalten, mit Katzenbuckeln und Speichelleckerei suchen sich in den Sumpf hineinzuschmiegen, damit man nur beileibe nicht glaube, sie erkennten ihn nicht für den wahren Thron an, auf welchem der König Volkssouverän geboren werde – das ist eine Schmach für die Zeit. Und setzt diese Gesinnung sich fest in Europa, so wird Gott barmherzig sein und mich zuvor sterben lassen.« – –
»Wie der Bohun-Upas-Baum, dessen giftige Atmosphäre Tod aushaucht – so wirkt diese Zeit auf mich: sie tötet mich seelisch. Jede Zeit haucht ihren Stickstoffgas aus, und die jüngstvergangene tat es in so reichem Maß, daß diese Todesluft aus gar manchen vermorschten und verwesten Zuständen aufqualmte. Das haben wohl nicht viele tiefer[225] empfunden und bestimmter ausgesprochen als ich. Aber die himmlische Hoffnung durfte über der dumpfen Atmosphäre ihre Flügel ausbreiten! Ich durfte hoffen, daß in den Kalamitäten, welche hereinbrechen würden und müßten – der bessere und edlere Teil der Menschheit sich sammeln würde zur Kraft, sich scharen würde zur Wahrheit; mit einem Wort: das gute Prinzip vertreten, indem er die gute Sache verteidigen würde. Statt dessen weisen sich die Menschen als matt und erschöpft, unfähig Wahrheit und Recht zu wollen, d.h. unfähig der Lüge und dem Unrecht mit dem Stahlhandschuh in's Gesicht zu schlagen. O beileibe nicht! das könnte sie beleidigen, die edle Lüge! das könnte kränken das herrliche Unrecht! das könnte die allgemeine Verwirrung noch wirrer machen! Und vielleicht geht doch noch etwas Gutes aus ihr hervor! – – so wird gedacht, gesprochen, gehandelt. Etwas Gutes aus ihr hervor? Ja, wenn Ihr eine tüchtige Reaktion meint, – das lasse ich gelten! Oder wenn Ihr meint, daß der Teufel wohl schon gezwungen worden ist, wider seinen Willen eine Kirche zu bauen; – das lasse ich sehr gern gelten; aber dann zwingt ihn auch wirklich dazu, denn mit Wünschen reicht man nicht weit. Meint Ihr aber, das Gute werde kommen als die natürliche Folge der jetzt eingeschlagenen Richtung? Nun – das Gute will ich Euch[226] überlassen. Ich mag es nicht! nein, nicht um die Welt! Und würde mir von dort eine Krone geboten, die mich zur Königin des Erdballs machte – oder eine Brotrinde, die – nicht mich! sondern mein Liebstes vom Hungertode retten könnte: so würde ich sagen, nein! ich nehme nichts von der Lüge. Ihr Katzengold kann mich nicht blenden! ihr schmetternder Jubel nicht betäuben, nicht einen einzigen Augenblick, Gott Dank!«
In den Monaten August fiel der erste Sonnenstrahl nach langer Finsternis: die Siege der österreichischen Armee in Italien.
»Neuhaus, August 17. 1848. O Wonne und Jubel! am 6. mittags ist Radetzky wieder in Mailand eingezogen. Alter Held, wie erquickst Du meine Seele! in einer Zeit, wo Treulosigkeit an der Tagesordnung und hoch gepriesen ist, hast Du die Treue heroisch zu Ehren gebracht. O Dank, heldischer Greis! Hat sich je eine Armee für die Ehre geschlagen, so ist es diese österreichische in den Gefilden der Lombardei. Darum verdient sie in meinen Augen Lorbeerkronen wie kein Alexander und kein Cäsar! Die ganze Monarchie war desorganisiert, die Kaiserstadt vom Pöbel oder von Narren kommandiert, die Provinzen im Aufstand, der Kaiser geflohen, jede Autorität machtlos; nirgends eine Lebensäußerung der Regierung, die Hilfe, Beistand und Ermunterung[227] gewährt hätte; Frankreich jeden Augenblick bereit, als Feind aufzutreten. Das einige Deutschland aber, das den wahnwitzigen und ungerechten Krieg Holsteins gegen Dänemark gerade so erbärmlich führt, wie der demokratische Popanz der »Einheit Deutschlands« es verdient: das sah mit Schadenfreude zu, wie Oesterreich sein Lebensblut in Strömen vergoß und eilte ihm nicht zu Hilfe! – Aber trotz dieser ganz ungewöhnlichen Masse von lähmenden Umständen – trotz des Mangels an Beihilfe und Sympathie – trotz der anfänglichen Ungunst der Kriegsgeschicke – hat Radetzky mit seiner Armee langsam, unermüdlich, Schritt um Schritt gekämpft, gelitten, geblutet und endlich gesiegt – für die Ehre! und sich dadurch eine Glorie erworben, wie kaum eine zweite in der Geschichte zu finden ist.«
Ich lebte wie der Salamander im Feuer in dem unauslöschlichsten Haß und der unbesieglichsten Verachtung des demokratischen Prinzips und seiner Vertreter, Anhänger, Nachbeter; und zwar mit solcher Vehemenz und Intensität, daß ich nicht begreife, wie mein Herz nicht hundertmal zerbrochen ist bei all den Untaten, welche der Herbst brachte, und über welche allzu selten der siegende Donner der guten Sache hinrollte. Ich lebte zurückgezogen in Dresden, ohne an irgend einem Umgang Freude zu finden. Man sprach immer[228] über dieselben Gegenstände, die man schon für sich immerfort überdachte, immer in den Zeitungen las. Für Kunst, für Literatur hatte ich so wenig Interesse, daß sie gar nicht mehr für mich existierten. Ich beschäftigte mich mit nichts Bestimmtem, nahm nur das, was mir gerade unter die Hand fiel. Ich bekam die Masern; die sechs Wochen waren mir recht angenehm, weil ich nichts sah noch hörte. Nach außen schloß ich mich streng ab. »Ich will eine Oreade sein, sprach ich zu mir selbst: ein Geist, der im Felsen wohnt – im harten, schroffen, abwehrenden Felsen. Wer weiß, welch eine Kraft sich durch Stille und Schweigen in mir entwickeln soll. Zuweilen kommt es dem Charakter zu gut, wenn der Geist wie ein Bergmann in einer halb verschütteten Mine bei einem trüben Grubenlicht arbeitet. An mir und an meiner Zukunft verzage ich nicht. Auf Zeiten kann ich desperat werden oder melancholisch – und jetzt bin ich beides! jedoch mehr, weil ich an andern als an mir selbst verzage. Das klingt sehr hochmütig, aber ich kann es darum nicht ändern, weil ich sehe, wie allgemein, wie besinnunslos, wie unwillkürlich die Menschen unserer Tage dem demokratischen Prinzip huldigen, welches zufolge meiner heiligsten Überzeugung keines ist, das die starke und edle Seite der Menschheit entwickelt. Mit seinem Streben nach materiellem[229] Behagen für alle, ruft es in allen Selbstsucht, Aberwitz, Sinnlichkeit, kurz die ganze Gemeinheit der menschlichen Natur hervor. Wie kann ich also Dem vertrauen und von Dessen Zukunft etwas hoffen, der sich ihm hingibt? das wäre ja ein Widersinn! Aber ich glaube, daß diejenigen, welche ihm nicht huldigen und welche – wenn auch nur in schwacher Minorität – den Gegensatz zu der allgemeinen Zeitrichtung bilden, dazu bestimmt sind, die Lebenskeime zu pflegen, die noch im zerfallenden Leichnam existieren und sie, wie eine Saat unter der winterlichen Schneedecke, für irgend einen Frühling zu retten. Zu diesen Gegensätzlern gehöre ich und deshalb kann ich nicht an mir und meiner Zukunft verzagen.« – (Dresden, November 30.)
Der Winter verging; der Frühling kam. Aller Welt werden die entsetzenvollen Tage des Monats Mai 1849 in frischer Erinnerung sein; – wenigstens frischer als mir, denn über jenen Mai und über mein Herz legte der Tod einen Trauerflor, der so dicht und so schwarz war, daß ich lange, lange Zeit gar nichts gewahr werden konnte, nichts im Himmel, nichts auf Erden, nichts in mir, nichts um mich her.
Aber an jedem Sonntag ging ich in Dresden in die Messe und da weinte ich, als ob ich in meinen Tränen mich auflösen wollte – als ob ein[230] weicher Frühlingshauch das Eis von der Brust schmelzen machte – als ob eine warme Hand sich lind auf das starre Herz legte. Wie ging das zu? Damals hatte ich keine Ahnung davon. Jetzt begreif' ich es. »Mit ewiger Liebe lieb' ich Dich, darum erbarme ich mich Dein und zieh Dich zu mir!« Lautlos, wortlos geht dieser Ruf vom Altar aus, wo in der Eucharistie das verschleierte Herz des Gottes der Liebe wahrhaft lebendig ist und mit göttlicher Macht an jede Seele klopft; am mächtigsten an die trostloseste, weil er sie trösten kann – nur er! Dieses heilige Mysterium, dieses Wunder der göttlichen Liebe, welches wirklich das Wunder würdig eines Gottes ist – kannte ich damals nicht. Ich hatte nur das Bedürfnis, an geweihter Stätte zu knieen, kaum darf ich sagen zu beten, denn ich weiß nicht, ob ich betete! und siehe! so recht wie dem verlornen Sohn kam mir die göttliche Liebe schon entgegen, als ich nur den allerkleinsten Schritt zu ihr hin tat. Wohl war er klein – und bald stockte er ganz, denn ich brachte den Sommer wieder in Holstein zu, ohne daß ich auch nur den leisesten Wechsel in meiner Seelenstimmung wahrgenommen hätte.
Von dort kehrte ich am 6. Oktober mittags nach Dresden zurück, und so wie ich mein Schreibkabinet betrat, setzte ich mich an den Lesetisch und schlug aufs Geratewohl die heilige Schrift auf –[231] ein Exemplar, das ich besonders liebte, weil es die Reise in den Orient mit mir gemacht hatte. Das sechzigste Kapitel des Isaias hatte ich aufgeschlagen und mein Blick blieb auf dem ersten Verse haften. »Mache dich auf, werde Licht, Jerusalem! denn es kommt dein Licht, und die Herrlichkeit des Herrn geht über dir auf.«
Einen unvergeßlichen Eindruck machten mir diese Worte: Ich stützte den Kopf in die Hand und blieb so sitzen vor dem aufgeschlagenen Buch – ich weiß nicht wie lange. Mahnend, ermunternd, vorwurfsvoll, verheißend sahen die Worte mich an: »Mache dich auf, werde Licht!« In die schwarze eiserne Nacht meiner Seele glitt etwas wie Morgendämmerung hinein, ganz schwach, ganz bleich, aber tief unten am Horizont begann es zu dämmern. Diese Art, den Schmerz zu tragen, war eine Auflehung gegen die Schickung Gottes, den Willen Gottes. Das hatte ich längst gefühlt; aber ich wollte mich nicht resignieren! ich wähnte, der Trotz könne vielleicht das Herz brechen. Das tut er aber nicht, er versteinert es nur. Er hebt das Herz nicht aus der Brust und in eine höhere Welt hinein; er sargt es nur in der Brust ein, so daß wir die eigene Leiche unseres besseren Selbst in uns herum tragen. Ich starb nicht am Gram, nicht an der Rebellion; ich lebte! also wollte Gott mein Leben. Hatte ich[232] nicht immer behauptet, es sei der Zweck des Lebens, unsern Willen dermaßen mit dem Willen Gottes zu einigen, daß beide zusammenfielen? und war es nicht eine notwendige Konsequenz meiner absoluten Natur, zu leben und zu handeln, wie ich dachte und sprach? Warum denn setzte ich mich jetzt in der Opposition gegen den göttlichen Willen und gegen meine eigene Überzeugung – also im Zwiespalt mit mir selbst fest? Das mußte mich elend machen. Und in dieses Elend fiel der Weckeruf des Wächters von der Zinne des Tempels: »Mache dich auf, werde Licht!«
Die Frage: Was nun? trat mir sehr natürlich zuerst entgegen. Nicht einen einzigen Augenblick sah ich mich in der Welt um, ob da irgend ein Trost, ein Reiz, eine Hoffnung für mich sei. Ich hab' es nie verstanden, in Illusionen zu leben! ich konnte irren in Wünschen und Bestreben, weil mir die Wahrheit wirklich verborgen war; aber mich täuschen und zur Unwahrheit sprechen: Jetzt sollst du mir Wahrheit sein! das konnt' ich nie! wie hätte ich es jetzt vermocht, da ein furchtbares Ringen nach Licht sich in meiner Seele schlagfertig machte. Nein, mit der Welt hatte ich alles abgetan und gründlich! Warum ich nicht schreiben möchte? ward ich öfter gefragt, ward gebeten es zu tun, es würde mich zerstreuen, fesseln, den Gedanken eine andere Richtung geben. Hätte ich[233] es gekonnt, so wäre das alles richtig gewesen; ich konnte aber nicht, und in der Sphäre schöpferischer Tätigkeit gilt nichts, als können. Meine Antwort lautete immer gleich: Der Zeit und der Welt, die ich um mich sehe, habe ich nichts zu sagen, denn wir haben kein Herz zu einander – und ohne Herz vermag ich nun einmal nichts. – Nein, ich dachte nicht im entferntesten an irgend eine schriftstellerische Tätigkeit, und umsoweniger, als ich viel zu unruhig und aufgeregt zu einer starken geistigen Konzentration war. Um arbeiten zu können muß man sich genug überwinden können, um störenden wenn auch geliebten Gedanken einen Riegel vorzuschieben oder sich wenigstens nicht umzublicken, wenn sie doch eintreten und uns über die Schulter sehen. Ich war aber sehr fern von dieser Überwindung.
Mit Beschäftigungen erfinden, um die Zeit hinzubringen oder um nicht mit den Händen im Schoß zu sitzen – hab' ich ebenfalls nie verstanden. Das kam mir so überflüssig vor! Was nicht notwendig war – weshalb geschah das überhaupt? Diese seelische Trägheit hatte, wie ich glaube, darin ihren Grund, daß ich früher, als ich schrieb, und viel und sehr lebhaft schrieb – zu Zeiten ein gründliches Ausruhen bedurfte, wo ich nichts tat als spazieren gehen, und mit nichts mich beschäftigte als Bücher zu lesen über gewisse[234] Gegenstände und Fragen, die ich zu anderen Zwecken und Interessen benutzen oder kennen wollte. Diese zwei Dinge hielt ich für ebenso notwendig, als daß ich meine Bücher schrieb und reiste; und für das Leben, welches ich damals lebte, weil ich kein höheres kannte – war das alles auch wirklich notwendig. Als es mir fehlte, als ich nicht mehr schrieb, nicht mehr reiste, nicht mehr für einen bestimmten Zweck lesen konnte – weil ich keinen hatte – wußte ich gar nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Wenn nicht ein innerlicher Drang mich bestimmte, nach diesem oder jenem Zweige des Lebens zu greifen, so griff ich nach nichts, weil alles Äußerliche, alles Oberflächliche ohne Macht über mich war.
Also: Was nun? – Blieben mir nicht Freunde? Gewiß! und viele Freunde, die in vielen Abstufungen und Schattierungen mir nahe standen und lieb waren. Aber – sie alle werden begreifen, was ich jetzt sagen werde: durch den Tod eines Menschen waren für mich alle Menschen im Preise gesunken. Nicht in Beziehung auf sie – sondern auf mich. Sie behielten ihre Vortrefflichkeiten, blieben lieb und gut, klug und angenehm; aber ich – begehrte das alles gar nicht mehr.
Ich weiß, daß viele in diesem Punkt anders denken und empfinden; daß sie sich nach einem[235] großen Verlust tiefer und inniger an das schließen, was ihnen geblieben ist; daß sie sich in ihrem Lebensgeleise nach der ersten Erschütterung wieder fassen und gesammelt ihres Weges gehen können. Daß ich es nicht konnte, beweist eben nur, welch eine immense Erschütterung – nicht einer Empfindung, nicht einer Fähigkeit, nicht einer Richtung, sondern des ganzen Wesens dies gewesen war. Wie ein Erdbeben Bäume auf nackte Felsen versetzt, so geschah mir. Der ganze Lebensbaum ward aus dem Erdreich, in welchem er Wurzel geschlagen und Laub und Blüten getrieben hatte, herausgehoben und in ein anderes versetzt.
Mein Herr und mein Gott! Wohl war es ein anderes, das Du liebend mir zugedacht hattest. als dasjenige, in welchem ich lange Jahre so fest mich eingewurzelt hatte, als ob es allein meine Seele nähren könne, während sie doch, zuweilen unbewußt. aber zuweilen mit ganz klarem Bewußtsein wie ein Schiffbrüchiger am Meeresstrande nach dem fernsten Horizont spähte, ob nicht ein rettendes Segel sich zeige! Sie lebte in keiner Wüste, in keiner Einöde – o nein! ihr Land kam ihr manchmal recht schön vor, recht reich – allein immer warf sie den Blick darüber hinaus! Immer sprach eine Stimme in tiefster, innerster Brust: Es muß aber noch etwas anderes[236] im Leben und mit dem Leben zu machen sein. Diese Stimme war der Anklang der Sehnsucht nach dem übernatürlichen Leben, zu dem Deine Liebe, Deine Gnade uns bestimmt hat. Aber eingewickelt in die Kreatürlichkeit und eingewurzelt in der Irdischkeit, ist jene Stimme uns eine Qual, weil wir das himmlische Alphorn wie aus einer unerreichbaren Höhe vernehmen und uns dabei sagen müssen: Und doch bin ich dort daheim! – Und wie aus Schmerz, nicht dahin gelangen zu können, klammern wir uns umso fester an die Geschöpfe und begehren von ihnen, was sie nicht sein, nicht gewähren, nicht geben können, so daß wir, weil wir uns mit ihnen für die Ewigkeit einrichten möchten, uns das Herz zerschmettern, indem es überall an Schranken prallt, welche die Endlichkeit um uns zieht. Ach, wer das wüßte, wenn er das Leben beginnt! wenn er sich hinauswirft aufs Meer, so kühn, so sicher, daß nun die Inseln der Glückseligkeit entdeckt werden müßten! Welche Irrfahrten, welche Stürme, welche Ungewitter hat er zu bestehen, bis er sie gefunden! Und dann? – nun dann schaut er sich um auf dem Eiland, dessen König er geworden und – blickt in die blaue, unendliche, dämmernde Ferne des Meeres träumerisch, erwartungsvoll hinein, gerade wie ich! – Wem von uns hat je ein irdisches Glück das Herz still gemacht? Keinem! Resignation[237] kann es uns geben, noch nicht Befriedigung, denn diese quillt nur aus dem Ewigen, dem Unwandelbaren – und alles irdische Glück, auch das feinste und höchste, ist wandelbar. Aber das wollen wir nicht glauben, so lange wir auf unsern Meeresfahrten oder auf unserm verzauberten Eiland sind; und immer gehört eine Erschütterung unsers ganzen natürlichen Menschen dazu, damit wir uns durch Deine Gnade über die Natur erheben lassen, mein Herr und Gott! damit wir erkennen, daß nur Deine Liebe die wahre Sehnsucht unsrer Seele gewesen ist, und daß wir, ohne sie, in einer übergoldeten Schattenwelt gelebt haben. – – –
Vor der Hand lag der Baum des Lebens noch am Boden und ich begriff, daß dies nicht sein Platz sei. Aber wo war der? ich schrieb:
»Illusionen kann ich mir nicht machen und zu mir selbst sprechen: Versuche dies! versuche jenes! vielleicht hat die Welt doch noch etwas Verborgenes für dich.« Der Ruf der Erkenntnis ist immer wach: Nein, nein! sie hat nichts! Also – was nun? – Gott?
Da stand das Wort, das Eine, das Ewige, welches früher oder später für jede Seele das Einzige werden muß. Denn wenn Gott nicht alles ist, so ist er nichts. Nebenbei – läßt Gott sich[238] nicht lieben! nur ganz oder gar nicht. Ich hielt über mich gelassenes Gericht und sprach zuletzt sehr ruhig zu mir selbst: Du hast ihn gar nicht geliebt und vielleicht – auch gar nichts von ihm gewußt; nur von ihm geträumt oder gefabelt. Wende dich, um ihn zu erkennen, an die geoffenbarte Religion, von der du so wenig weißt und suche in ihr die ewige Wahrheit, die du so lange schon gesucht und nicht gefunden hast. Sie wird dich zu Gott führen. Auf dem Wege, den du bisher gegangen bist, findest du Gott nicht, denn in den schwersten Stunden deines Lebens warst du fern von ihm! Das wäre unmöglich, wenn das Licht der Wahrheit diesen Weg erleuchtete. Also »mache dich auf! werde Licht!« und suche dir einen neuen Pfad.
So wie ich einmal zu einem Entschluß gekommen bin, mache ich mich gleich daran, das Fundament zu legen. Und so ließ ich mir denn jetzt auch drei Bücher bringen, welche meine Frage bis auf den Grund beantworteten: Luthers großen und kleinen Katechismus; – die Bekenntnisschriften der evangelisch-reformierten Kirche von Böckel, und die Beschlüsse und Kanones des heiligen Konzils von Trient, übersetzt von Egli. Nun stand ich an den Quellen und wußte sehr bald, in welcher von ihnen das Wasser des Lebens enthalten sei; denn ich las das letzgenannte[239] Buch zuerst und schrieb schon am 14. November 1849:
»Ist es genügend, um in die katholische Kirche einzutreten, von dem Glauben durchdrungen zu sein, daß diese Kirche der sichtbare Leib des unsichtbaren Gottes ist – und daß ihr tiefsinniges Dogmengebäude die wesentliche Form bildet, durch welche er sich offenbart? – Ist es genügend, die heiße Sehnsucht zu haben, sich der katholischen Kirche anzuschließen, weil sie das Einzig-Unvergängliche auf dieser vergänglichen Erde ist, und weil sie dasjenige bietet, was der Doppelrichtung des menschlichen Wesens entspricht? – begrenzt in ihrer Form durch die Tradition, entspricht sie unserm Bedürfnis nach Einheit – und unbegrenzt in ihrem Wesen, eröffnet sie der ringenden Seele einen unendlichen Spielraum zum Streben nach Verklärung. – Sind jener Glaube und jene Sehnsucht genügend, so darf ich mich zu ihr bekennen.«
»Ja, das war es! da hatte ich den Punkt gefunden, nach welchem der Drang der Seele gebieterisch verlangte! da gab es für sie unsägliche Ruhe und unendliche Bewegung! für diese das Streben, um aus einem Kind des Staubes ein Kind Gottes zu werden – für jene das Bewußtsein, daß die Einheit, an welcher machtlos die Stürme und Blitze von fast zweitausend Jahren[240] herabdonnern, nur darum so unzerstörbar sein könne, weil sie die göttliche Wahrheit, die volle Offenbarung in sich faßt und unbeirrt von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt. Ja, das war es! da war eine geharnischte Konsequenz, eine Rüstung ohne Fugen, aus Licht gegossen, wie die des Erzengels! nichts Unbestimmtes, keine Widersprüche, keine Halbheiten! Alles griff in einander folgte auf und aus einander – welch ein glückseliger Fund für meine positive und den Träumereien abholde Natur! Ich spreche mit ganz irdischer Auffassung, weil ich sie damals hatte und noch nicht wußte, welchen Gewinn ich für meine Seele finden würde. Reue, oder Bedürfnis, mein Heil zu gründen, oder mich mit Gott zu versöhnen – empfand ich gar nicht. Ich suchte die Offenbarung der göttlichen Wahrheit, um ihr mein Herz hinzugeben, damit es nicht in Abgründe versinke; an einen andern Erfolg dachte ich nicht! und nun lag sie vor mir! Freilich erst wie ein Skelett, in einem Buch, welches nichts gab als die einfachen, kurzen, bestimmten Lehrsätze. Aber gerade diese harmonische Vollkommenheit in dem anatomischen Bau ließ keinen Zweifel aufkommen, daß er die Wohnstatt des Lebens, des ewigen, sein müsse. Keinen Menschen fragte ich um Erklärung, Belehrung, Rat; – nicht einmal mich selbst. Ich nahm die Dogmen auf, wie sie da[241] geschrieben standen. Und ebenso machte ich es auch mit den protestantischen Bekenntnisschriften. All meine eigenen Gedanken, Meinungen, Vorurteile, Bedürfnisse legte ich beiseite, denn sie hatten sich ja als unzulänglich erwiesen! denn sie hatten mich ja aus dem Zusammenhang mit Gott fallen lassen und mich zu einem Atom herabgebracht, das Gefahr lief, in Zerwirbelung unterzugehen. Dagegen stemmte sich die Natur und trat aus dem Wirbelwind heraus, und wie in eine Zelle voll Stille und Einsamkeit, mit unzerstreuenden nackten vier Wänden hinein.
Um eines einzelnen oder einzeln betrachteten Dogmas willen kann niemand wünschen oder scheuen, irgend einer Kirche anzugehören; denn das hieße einem einzelnen Gliede mehr Geltung zuschreiben als dem ganzen Körper, und liefe wieder auf ein subjektives Meinen und Urteilen heraus, welches derjenige beschlossen hat, wenigstens auf einige Zeit zu verleugnen, der einem Dogmengebäude mit Ernst und Überlegung gegenüber tritt, und ergründen möchte, ob die objektive Wahrheit in demselben wohnt. Ob alle Dogmen sich zusammenfügen, ordnen, folgerichtig wirken, von einem Lebenspunkt aus- und nach einem Lebensziel hingehen – ob sie den ganzen Menschen rundum und nach allen Seiten hin erfassen, um ihm seine erhabene Bestimmung,[242] den Weg dahin, die Mittel dazu klar zu machen und in die Hand zu geben – ob sie hohe Ideale von Tugend und Glückseligkeit vor ihm aufstellen, und ihm die Befähigung verheißen, sie zu erreichen – ob sie nicht zu seinem winzigen Verstand, zu seinem engen Erkenntnisvermögen, zu seinen natürlichen Geisteskräften wie mit Ihresgleichen reden, sondern weit und hoch von oben herab, aus einer Höhe, von der Menschenstimmen nicht erschallen, mit Worten die Menschenlippen nicht erfinden, eine göttliche Offenbarung und unwiderlegliche Bürgschaft für deren Göttlichkeit verkünden – ob sie jenen Abgrund in der menschlichen Seele ausfüllen, der entweder ewig verschleiert bleibt oder das volle Sonnenlicht der Wahrheit aufnimmt, weil er eben nur da ist, um sie und nichts anderes zu empfangen – dies allein kann den Eintritt in eine Kirche begründen, weil sie den Glauben in uns erwecken: Dies sind die Worte des ewigen Lebens. Und wer das glaubt, nimmt jedes Dogma als ein solches Wort auf. Da gibt es kein Markten, kein Feilschen! da läßt sich kein Abkommen treffen, keine willkürliche Deutung machen! man unterwirft sich ganz oder gar nicht, denn eine halbe Unterwerfung ist keine, weil göttliche Weisheit und menschliche Weisheit nicht miteinander Schritt halten – weil diese, wenn sie wahrhaft weise ist, [243] immer erkennt, daß sie nur im Glauben die tiefsten Mysterien jener erfassen könne; und wenn sie aberwitzig ist, es nie erkennt, möge sie auch behaupten, daß sie in dem einen und andern Punkt sich unterwerfe. Der Glaube ist eine diamantene Kette, deren eines Ende in der Hand Gottes liegt und aus ihr zu uns herabsinkt. Ergreifen wir das andere Ende, so werden wir durch die fest in einander greifenden Kettenglieder in Zusammenhang mit Gott gebracht. Ergreifen wir sie nicht – entweder weil wir nichts von ihr wissen wollen: so existiert jener Zusammenhang entweder gar nicht, oder ruht auf einer schwankenden Basis, die von jedem Hauch der Meinung hin und her gewehet wird. Am 14. Dezember schrieb ich:
»Aber nur die katholische Kirche hat ihr Dogmengebäude unter Dach und Fach und zu einem Turm empor gebracht, der mit dem Blitzableiter der Autorität versehen ist. Denn der Quell dieser Autorität ist die von Christus verheißene Wirksamkeit des heiligen Geistes. Welch ein frevelndes Beginnen der s. g. Reformatoren, sich dagegen aufzulehnen und die Autorität des einzelnen über die des heiligen Geistes zu stellen!« – Und später:
»Klar und bestimmt muß man sich in dieser Zeit aussprechen, wohin man sich halten wolle,[244] ob zu Jehova oder zu Baal; zu Christus oder zum Antichrist. Wo ist Christus? – In seiner Kirche. – Welches ist seine Kirche? – Die er auf Petrus gegründet hat, als er sprach: weide meine Schafe.«
Die protestantischen Bekenntnisschriften machten mir neben den trientinischen Beschlüssen gar keinen andern Eindruck als den des Abfalls von der Wahrheit – so verkehrt, so unvollkommen, so verdreht und ungenügend waren sie. Doch las ich sie mit großer Aufmerksamkeit und das Resultat war, daß ich zu der festen Überzeugung kam: Wenn die Protestanten die Lehren ihrer Stifter kennten, so würde es sehr bald keine andere Protestanten geben als solche, welche gegen jene Lehre protestierten. Und wenn die Katholiken die Beschlüsse des Konzils von Trient wirklich kennten, d.h. ihr Leben darnach einrichteten: so würden sehr bald alle Protestanten katholisch. Denn das ging für mich klar wie die Sonne aus diesen Studien hervor: Nicht die Lehren Luthers und seiner Genossenschaft hatten den großen Abfall bewerkstelligt, sondern er war gekommen, weil das katholische Leben nicht in Kraft stand. Wurde das wieder frisch und stark, begann das wieder mit liebendem Gehorsam und mit freiwilliger Unterwerfung, um in Heiligung zu enden: so gehörte die Welt der katholischen Kirche. Zu einer katholischen Freundin sagte ich:[245]
»Ich bin wie die Schwalbe, von der es heißt, daß sie das Haus verlasse, welches baufällig ist und den Einsturz droht. Ich verlasse jetzt den morschen Bau, denn ich will ein Haus für die Ewigkeit, und ich weiß, wo ich es finde.«
Sie verstand mich. Weiter sagte ich nichts und zu niemand; aber am 1. Januar 1850 schrieb ich an den Kardinal-Fürstbischof von Breslau, um ihn zu bitten, mir zum Eintritt in die Kirche behilflich zu sein. Und er war es. Die drei letzten Monate des Jahres 1849 waren unbeschreiblich segensreich für mich und bloß deshalb, weil ich den Entschluß faßte, mich bei dem Suchen der Wahrheit gänzlich von meinem Ich zu trennen. So reich belohnt Gott die geringste Anstrengung, die der Mensch zu seinem eigenen Heile macht! Daß ich in so kurzer Zeit völlig mit mir selbst einig werden konnten, wird niemand befremden, denk' ich, der mit einiger Aufmerksamkeit diese Blätter gelesen hat. Er wird erkannt haben, daß mir nicht die Fähigkeit des Glaubens abging und nicht der Schwung, welcher mit Vorliebe die idealische Richtung des Menschen verfolgt; sondern ganz einfach – der Wille alles dran zu geben, nach nichts zu fragen, nach nichts mich umzuschauen als einzig und allein nach der göttlichen Offenbarung; und daß der Wille mir deshalb fehlte, weil ich ein Geschöpf mehr liebte[246] als den Schöpfer. Ich habe gehört – ob es wahr ist, weiß ich nicht! – der Magnet könne keine Anziehungskraft auf das Eisen üben, sobald ein Diamant zwischen ihnen liege. Jedes irdische Glück und Gut, das wir nicht in Gott besitzen und nur im Hinblick auf Gott lieben, ist ein solcher Diamant, der die Einigung der Seele mit Gott verhindert. Und je schöner er ist, um desto gefährlicher ist er! denn blitzender Staub oder buntes Gestein, von dessen Wertlosigkeit man sich nach kurzem Besinnen überzeugt, übt keine Macht, ist kein gewichtiger Schatz. Aber wenn in ihm Licht und Dauer und Reichtum und Festigkeit sich verbinden – ja, dann macht er sich zum Rivalen des göttlichen Lichtes, der göttlichen Fülle, der göttlichen Kraft, ohne doch die Macht zu haben, eine Seele ganz zu erfüllen, zu fesseln, zu absorbieren. Er bindet ihre Flügel und sie leidet es; aber – sie leidet doch! Es kommen doch die Augenblicke, wo sie fühlt, daß sie ihre Flügel ungehemmt brauchen müßte, daß eine Last, ein Druck, ein Hinderniß sie beschwert! Sie betäubt und zerstreut sich dagegen, sie macht sich sogar einen Vorwurf daraus, sie spricht sich zur Ruhe; – aber immer ist es, als wolle und müsse eine höhere Hand die gebundenen Flügel lösen, und als hätte die Seele nichts darauf zu sagen, als mit Augustinus: »Gleich! o gleich! nur noch[247] einen kurzen Augenblick!« – Und dieser Augenblick würde vielleicht nie ein Ende nehmen, wenn nicht die geheimnisvollen Boten Gottes, die großen Erschütterungen, zuletzt unwiderstehlich an das widerstrebende, trotzende Herz klopften und es überwältigten, so daß es seinen Willen hingibt, und spricht: Mein Herr und Gott, mache mit mir was Du willst.
Wird dies aufrichtig und standhaft gesagt und entschlossen danach gehandelt, so fehlt der göttliche Segen niemals diesem Willen. Auch mir fehlte er nicht! Hatte es lange gewährt, ehe er zu seiner Berechtigung kam – denn es ist eine Berechtigung des Willens, keine Schmälerung, sich dem Höheren zu unterwerfen! es ist der beseligendste Akt seiner Freiheit! – so brachte er mich doch schnell zur Erkenntnis, weil nur er zwischen ihr und mir gelegen hatte; kein andrer Glaube, kein Stückwerk einer andern Konfession, welches ich erst mühselig hätte fortschaffen müssen. Dazu kam, daß ich mein Leben lang viele und heiße innere Arbeit gehabt habe, Arbeit, für die es keine Worte gibt, weil Worte sie doch nicht erklären könnten. Wer sie durchgemacht hat, versteht sie ohnehin und wer nicht, würde sie auch nach Millionen Worten nicht verstehen. Es gibt Klüfte und Tiefen in der Menschenseele, die nur das Auge Gottes ergründet, und die der Mensch doch[248] einigermaßen in Harmonie mit seiner übrigen Wesenheit zu setzen hat. Diese Anstrengung und meine Rastlosigkeit, meine Heftigkeit und all meine Fehler – und wohl auch mein unermüdliches Streben nach dem Guten, Schönen, Wahren, wie ich es verstand: hatten dermaßen das Erdreich meines Wesens durchackert und zergraben, daß, als endlich ein gutes Samenkorn darauf fiel, dieses sogleich Wurzel fassen und schnell aufwachsen konnte. Ich habe gewiß mehr fehlgegriffen und mehr geirrt, als Tausende, weil ich immer mit meinem raschen vollen Herzen ganz und aufrichtig mitten im Irrtum war. Aber in dem Augenblick, als ein Strahl von der Sonne der Wahrheit mein inneres Auge traf, da ging es mir ebenso und mein ganzes Herz war zweifellos mitten in ihrem Lichtkreis. Es ist – ich möchte sagen der Vorzug derjenigen, welche in immensen Irrtümern gelebt haben: wenn sie endlich glauben, so ist es ein immenser Glaube! Große Seelen werden schnell durch ihn verwandelt und in den Himmel versetzt, wie der Pharisäer Saulus und der Manichäer Augustinus. Unsereiner geht seinen Schneckengang und in ihm unterstützt und vor Mutlosigkeit bewahrt zu werden, so daß die Hoffnung auf den Himmel dennoch lebendig bleibt – ist vielleicht ein noch größeres Mirakel des Glaubens.[249]
Mich nicht öffentlich zu der Kirche zu bekennen, der ich meine Seele hingab, wäre im Widerspruch mit meinem Charakter gewesen, denn nichts Halbes genügt und dem alles Heimliche ein Greuel und eine Unmöglichkeit ist. Man hat mir seitdem gesagt, zu einem solchen Schritt gehöre viel Mut. In gewissen Verhältnissen der Abhängigkeit, der Pflicht, der Rücksichten – ist das möglich. Vielleicht auch für gewisse Charaktere. Aber ich mit meinen Allüren der Unabhängigkeit ging mit meinem ganz natürlichen Schritt unbefangen in die Kirche hinein, ohne die leiseste Anwandlung zu spüren, daß ich nun der Welt gegenüber meinen Mut aufrufen müsse. Mit meiner Familie war ich, Gott Dank! im vollkommensten Einverständnis, so daß ich gar keine Schmerzlichkeiten von einer Seite zu befürchten hatte, welche anderen bei einem ähnlichen Schritt manches Leid bringt, daß einige Protestanten ihn nicht begreifen würden, ach! das war recht natürlich! sie wissen ja nichts von der Kirche. Daß oberflächliche Köpfe vielleicht sagen würden: ich sei nun verdummt und in die katholische Finsternis geraten, ach – ich schreibe mit tiefem Ernst; aber darüber müßte ich wirklich lachen. Der mächtige katholische Tiefsinn ist so wenig von der modernen Aufgeklärtheit zu fassen, daß man gerade so gut der Mücke einen Wettflug mit dem Adler zumuten[250] dürfte. O nein! mir war triumphatorisch zu Sinn bei dem Gedanken, der Kirche anzugehören. Was hatte ich denn mein Leben lang gewollt und gewünscht? nicht zusammenhanglos mit dem Göttlichen zu sein und nicht zukunftslos. Um das zu erreichen hatte ich nach irdischen Mitteln gegriffen, weil mir die hohe sittliche Tatkraft fehlte, welche nach himmlischen greift. Durch die Liebe schuf ich mir einen Zusammenhang mit Gott, indem ich in ihr seine Manifestation suchte; und durch geistige Tätigkeit wollte ich mir die Zukunft erobern. Und so ging das fort, Jahr auf Jahr, mit unbesieglicher Vermessenheit, trotz aller inneren Einsprechungen, Mahnungen und Warnungen. Aber die Langmut Gottes war nicht erschöpft! er zog nicht seine Hand von mir zurück, um mich meinem traumbefangenen Halbschlaf zu überlassen. Er legte sie schwer auf mich und weckte mich, um mir zu zeigen, daß ich vom Endlichen nichts Unendliches – von zwei Händen voll Staub keine Unsterblichkeit erwarten dürfe. Aber zugleich zeigte er mir den Weg, auf dem ich finden könne, was ich begehre; den Weg, den die geoffenbarte Religion durch ihren Mund, die Kirche, uns lehrt. Da war der ewige Zusammenhang mit Gott, durch den Glauben – und die ewige Zukunft in Gott, durch die Liebe – aber nicht für ein abgetrenntes, losgerissenes Einzelwesen,[251] das sich einsam an ihn hält; sondern die erlöste Natur fand durch die Ofefnbarung die Erlösten zugleich mit dem Erlöser in der Einheit dieses Glaubens und dieser Liebe. Sie bilden seine Kirche, seinen mystischen Leib, das ganze Reich der heiligen, der erlösten, der hoffenden, der kämpfenden Seelen, die in ihm als ihrem Haupt einen ewigen Zusammenhang und eine ewige Zukunft haben. Jetzt wurde der Horizont der Welt mir weit, denn er ging über die Welt hinaus! jetzt wurde das Leben mir groß, denn der ganze Himmel gehörte mir zu meinem Leben! jetzt begriff ich die Liebe als die Liebe der Seelen, und sie bekam einen unendlichen Maßstab. Ich war, ich blieb ein Atom – und jetzt erst recht! – in dieser Unermeßlichkeit; aber kein verwehendes, kein zerflatterndes, das sich unruhevoll hierhin und dahin wendet, und von den sich kreuzenden Strömungen der Leidenschaften, der Sehnsucht, der Neigungen umhergetrieben wird; kein Atom, das sich nur selbst bestimmen und regieren, nie sich unterwerfen, nie gehorchen will, das auf eigene Hand mit allem und mit dem alles aufzunehmen gedenkt, und folglich ein Spielball der Nichtigkeiten wird; – sondern ein Atom, das sich unverloren und unverlierbar einer großen, ewigen, göttlichen Gemeinschaft einverleibt weiß, weil es durch das Blut eines Gottes für[252] sie erkauft und mit ihr verschmolzen, durch die Liebe eines Gottes für sie begnadigt ist. Das war der Zusammenhang, für den meine Seele geschaffen – das die Zukunft, für die sie bestimmt war! Nun verstand ich den Ruf des Isaias als einen lebendigen, der mir meinen Platz, mein Gut, mein Erbteil, mein alles gab: »Fürchte Dich nicht, denn ich habe Dich erlöset und Dich bei Deinem Namen gerufen; mein bist Du!« – Sein war ich! Nur das Ich hatte ich verloren und einen Gott dafür gewonnen – und mir hätte nicht triumphatorisch zu Sinn sein sollen? – –
Wie zwei Gesetze der physischen Welt Bestand verleihen, Centripetal- und Centrifugalkraft, die Concentration und die Expansion: so herrschen zwei Richtungen, welche diesen Urgesetzen der Natur entsprechen, in der sittlichen Welt: der Trieb, am Bestehenden festzuhalten, und der Trieb, zum Neuen fortzuschreiten. Jener hängt am Alten, an der Tradition, an der Autorität; dieser sucht das Neue, die Bewegung, die Umbildung. In jedem Menschen, jedem Volk und jeder Epoche finden sich beide vor; nur hat bald der eine, bald der andere die Oberhand. Herrscht der eine übermächtig vor für eine Zeit, so wird alsbald der andere, als sein natürlicher Gegensatz, hervor getrieben. Jetzt hat die Bewegung dermaßen die Oberhand bekommen, daß sie die negativen und[253] passiven Naturen mit sich fortreißt, aber eben dadurch die positiven veranlaßt, sich fester denn je entweder zu ihr oder gegen sie zu stellen und – falls sie zu gleich aktive sind – sie drängt, durch eine Tat der Entschlossenheit in Wort oder Handlung darzulegen, wohin sie gehören, damit es in alle Ewigkeit keine Unklarheit darüber gebe. Der Wahn von individueller Machtvollkommenheit jedes Einzelnen, sich seinen Gott, seine Kirche, sein religiöses und sittliches Gesetz selbst schaffen zu dürfen, hat die allgemeine Weltempörung zur unvermeidlichen Folge gehabt und, dem Trieb der Bewegung blind und ohne Gegengewicht folgend, waren wir zu der schauderhaften Rebellion gelangt, an welcher jetzt die Menschheit krankt.
Auch ich hatte einen Wahn geteilt, genährt; nicht im vollen Umfang, allein gerade so weit, wie er mir zusagte. Als ich ihn in all seinen Folgen schleierlos sah, sprach ich zu mir selbst: Ich lege den kläglichen Zepter nieder, den ich kläglich über mich selbst geführt habe, und um in mir das Unkraut bis auf die Wurzel auszurotten, welches so üppig unter ihm gediehen ist, kehre ich dahin zurück, wo Gehorsam und Unterwerfung den ganzen Adel der Tugend und die ganze Schönheit der Liebe haben, weil sie der beste Gebrauch der menschlichen Willensfreiheit sind – zur Mutterkirche! Und auf meine Erkenntnis[254] muß mein Bekenntnis alsbald folgen. – Und so war mir auch von der Seite triumphatorisch zu Sinn, denn in die lieben Arme einer Mutter kehrt man zwar mit tiefer Wehmut, aber dennoch freudejauchzend zurück.
Und ich bin zurückgekehrt – aus Babylon nach Jerusalem, aus der Fremde in die Heimat, aus der Verlassenheit zur Gemeinschaft, aus der Zersplitterung zur Einheit, aus der Unruhe zum Frieden, aus der Lüge zur Wahrheit, aus der Welt zu Gott.
Nun sage mir, o Du unbekannte Seele, die Du mir bis hieher gefolgt bist, sage – was denkst Du? – Denkst Du etwa: Die Frau ist eine Schwärmerin? – aber Du findest in diesen Blättern keine Spur von unbestimmter Exaltation. Oder: Sie sagt nicht die Wahrheit! – aber bedenke, daß ich nie und zu keiner Zeit etwas anderes gesagt habe, als das, was ich für Wahrheit hielt, und daß man mir niemals den Vorwurf der Unaufrichtigkeit hat machen können. Oder: Es ist ein starker Geist des Widerspruchs in ihr! – Das ist richtig! ich widersprach so lange, bis ich dasjenige fand, was jeden Widerspruch besiegt: die objektive göttliche Wahrheit; da unterwarf ich mich auf der Stelle und bedingungslos. Oder: Sie ist aristokratisch, deshalb sagt ihr das konservative Prinzip der katholischen Kirche zu![255] – Ja, ich bin aristokratisch, und darum lasse ich mein Leben nicht bestimmen von dem, was mir eben paßt und zusagt, sondern von tiefen und heiligen Überzeugungen. Überdas vertritt die Kirche nicht das Bedürfnis einer Partei, sondern die der Menschheit und die Geschichte zeigt, daß alle politischen Parteien gesucht haben, aus ihrer Lebenskraft zu schöpfen. Und ich dächte, eine Institution, die dem Sohn des Schuhflickers die Möglichkeit zeigt, Oberhaupt der Christenheit zu werden, sei demokratisch genug. Oder: Die Frau ist glücklich mit ihrem Glauben, aber ich habe ihn nicht! – Woher weißt Du das? – Wenn jeder von uns einen Garten hat und ich bestelle den meinen, Du tust es aber nicht – darfst Du dann sagen: in meinem Garten gedeihen Blumen nicht. Keineswegs! sondern Du wirst sagen: Wie bring' ich es wohl zu ähnlichen Blumen? – Dann antwort' ich Dir: Säe die Wahrheit! und um so viel besser wie Deine Pflege, Deine Sorgfalt als die meine sein wird, in desto größerer Fülle erblühen sie Dir. Oder sagst Du: Ich könnte mich nie einer fremden Autorität unterwerfen! mein Sinn ist zu unabhängig, mein Charakter zu stolz, mein Herz zu rasch, mein Kopf zu positiv! – O liebe Seele, es fragt sich sehr, ob das alles stärker bei Dir als bei mir ausgeprägt ist; und in letzter Instanz hat unser Wille das alles doch immer unterworfen,[256] nur nicht auf die rechte Weise und vor der rechten Autorität – denn wir unterwerfen uns der eigenen Willkür, den eigenen Launen, eigener oder fremder Leidenschaft; warum denn nicht der göttlichen Wahrheit? ich hab' es doch gekonnt! – Oder sagst Du: Wie käm' ich dazu, Dir alles zu glauben, da ich so wenig oder so viel glaube – oder welchen Einwand sonst Du zu machen hast! – Mir sollst Du auch gar nicht glauben, sondern nur etwa zu Dir selbst sprechen: Diesen Weg ist eine aufrichtige Seele gegangen, nachdem sie die ganze Welt durchstreift ist und durchsucht hat, ohne dauernde Befriedigung zu finden, ohne die Überzeugung zu gewinnen, sie habe nun ihr Haus für die Ewigkeit. Im Gegenteil fühlte sie sich immer unter einem Zelt leben, das ein Windstoß umwerfen kann, und als das wirklich geschah – in einer Wüste, aus der sie, wie die Kinder Israels, nach Kanaan zog. Sollte das nicht auch für mich möglich sein? –
O nein! mir sollst Du nicht glauben, aber wenn die göttliche Wahrheit auf jenem Wege an Dein Herz klopft, wie sie an das meine geklopft hat, so glaube ihr, so lasse sie ein. O mache es dann nicht wie Pilatus, der auch fragte: »Was ist Wahrheit?« und ganz geneigt war sie anzunehmen, aber sich vor der Welt fürchtete, und daher nur bänglich seine Hände wusch und fortging und[257] den Heiland kreuzigen ließ. O laß Du ihn nicht kreuzigen in Deinem Herzen, sondern kreuzige das, was ihm darin entgegen steht, und bedenke, daß Du durch einen einzigen Akt der Selbstüberwindung, durch eine einzige Aufopferung Deines Willens einen Gott gewinnst.
O Du Seele! ich kenne Dich ja nicht, weiß nichts von Dir, nicht wer Du bist, nicht was Du bist! und es ist mir auch ganz einerlei – denn Du bist eine Seele, und nur mit denen hab' ich zu tun. Aber sieh! dürft' ich hoffen, daß Du Dich auf den Weg machtest zur Rückkehr von Babylon nach Jerusalem, und daß – wenn wir uns dereinst im himmlischen Jerusalem begegneten – Du zu mir sprächest: Dein Rat war gut! so würde es der Trost für meine ganze Vergangenheit sein, daß ich diese Blätter habe schreiben können.
Mainz, 3. Januar 1851.[258]
1 Jetzt freilich, da aus dem Haß gegen den Absolutismus ein Haß gegen die Autorität, welcher Art sie sei, erwachsen ist – sind die Soldaten die notwendigen Verteidiger der in Frage gestellten Autorität geworden und ihre treue Stütze. Soldaten und Priester sind die weltliche und geistliche Miliz der mit Barbarei bedrohten Civilisation; und nur sie können es sein, weil sie in sich selbst das Fundament der Ordnung, den Gehorsam, gelegt haben.
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