1.

Morgen-Gedanken

Den 25. Merz 1725.


Dieses kleine Gedicht ist das älteste unter denen, die ich der Erhaltung noch einigermaßen würdig gefunden habe. Es ist auch die Frucht einer einzigen Stunde und deswegen auch so unvollkommen, daß ich ein billiges bedenken getragen habe, es beizubehalten. Die Kenner werden deswegen und in Betracht des unreifen Alters des Verfassers es mit schonenden Augen ansehen.


Der Mond verbirget sich, der Nebel grauer Schleier

Deckt Luft und Erde nicht mehr zu;

Der Sterne Glanz erblasst, der Sonne reges Feuer

Stört alle Wesen aus der Ruh.


Der Himmel färbet sich mit Purpur und Saphiren,

Die frühe Morgen-Röthe lacht;1

Und vor der Rosen Glanz, die ihre Stirne zieren,

Entflieht das bleiche Heer der Nacht.


Durchs rothe Morgen-Thor der heitern Sternen-Bühne

Naht das verklärte Licht der Welt;

Die falben Wolken glühn von blitzendem Rubine,

Und brennend Gold bedeckt das Feld.


Die Rosen öffnen sich und spiegeln an der Sonne

Des kühlen Morgens Perlen-Thau;

Der Lilgen Ambra-Dampf belebt zu unsrer Wonne

Der zarten Blätter Atlas-grau.


Der wache Feld-Mann eilt mit singen in die Felder

Und treibt vergnügt den schweren Pflug;

Der Vögel rege Schaar erfüllet Luft und Wälder

Mit ihrer Stimm und frühem Flug.


O Schöpfer! was ich seh, sind deiner Allmacht Werke!

Du bist die Seele der Natur;

Der Sterne Lauf und Licht, der Sonne Glanz und Stärke

Sind deiner Hand Geschöpf und Spur.


Du steckst die Fackel an, die in dem Mond uns leuchtet,

Du giebst den Winden Flügel zu;

Du leihst der Nacht den Thau, womit sie uns befeuchtet,

Du theilst der Sterne Lauf und Ruh.


Du hast der Berge Stoff aus Thon und Staub gedrehet,

Der Schachten Erzt aus Sand geschmelzt;

Du hast das Firmament an seinen Ort erhöhet,

Der Wolken Kleid darum gewelzt.


Den Fisch, der Ströme bläst und mit dem Schwanze stürmet,

Hast du mit Adern ausgehölt;[4]

Du hast den Elephant aus Erden aufgethürmet

Und seinen Knochen-Berg beseelt.


Des weiten Himmel-Raums saphirene Gewölber,

Gegründet auf den leeren Ort,

Der Gottheit große Stadt, begränzt nur durch sich selber,

Hob aus dem nichts dein einzig Wort.


Doch, dreimal großer Gott! es sind erschaffne Seelen

Für deine Thaten viel zu klein;

Sie sind unendlich groß, und wer sie will erzählen,

Muß, gleich wie du, ohn Ende sein!


O Unbegreiflicher! ich bleib in meinen Schranken,

Du, Sonne, blendst mein schwaches Licht;

Und wem der Himmel selbst sein Wesen hat zu danken,

Braucht eines Wurmes Lobspruch nicht.

1

Der sechszehn und ein halbes Jahr noch nicht erreicht hatte.

Quelle:
Albrecht von Haller: Gedichte, Frauenfeld 1882, S. 3-5.
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Versuch schweizerischer Gedichte: Nachdruck der elften vermehrten und verbesserten Auflage Bern 1777

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