7.

Die Tugend

[76] Ode an den Herrn Hofrath Drollinger.


1729.


Ich habe bei diesem kleinen Gedichte nicht viel zu sagen. Damals war dieses Silbenmaaß etwas ungewöhnlicheres als itzt. Ich rathe aber niemandem, es nachzuahmen, da es die Gedanken so sehr einschränkt und überhaupt die vielen einsilbigen Wörter die deutsche Sprache bequemer zu den Jamben machen.


Freund! die Tugend ist kein leerer Namen,

Aus dem Herzen keimt des guten Samen,

Und ein Gott ists, der der Berge Spitzen

Röthet mit Blitzen.


Laß den Freigeist mit dem Himmel scherzen,

Falsche Lehre fließt aus bösen Herzen,

Und Verachtung allzustrenger Pflichten

Dient für verrichten.
[77]

Nicht der Hochmuth, nicht die Eigenliebe,

Nein, vom Himmel eingepflanzte Triebe

Lehren Tugend und daß ihre Krone

Selbst sie belohne.


Ists Verstellung, die uns selbst bekämpfet,

Die des Gähzorns Feuer-Ströme dämpfet

Und der Liebe doch so sanfte Flammen

Zwingt zu verdammen?


Ist es Tummheit oder List des Weisen,

Der die Tugend rühmet in den Eisen,

Dessen Wangen, mitten in dem sterben,

Nie sich entfärben?


Ist es Thorheit, die die Herzen bindet,

Daß ein jeder sich im andern findet

Und zum Lösgeld seinem wahren Freunde

Stürzt in die Feinde?


Füllt den Titus Ehrsucht mit erbarmen,

Der das Unglück hebt mit milden Armen,

Weint mit andern und von fremden Ruthen

Würdigt zu bluten?


Selbst die Bosheit ungezäumter Jugend

Kennt der Gottheit Bildniß in der Tugend,

Hasst das gute und muß wahre Weisen

Heimlich doch preisen.


Zwar die Laster blühen und vermehren,

Geiz bringt Güter, Ehrsucht führt zu Ehren,

Bosheit herrschet, Schmeichler betteln Gnaden,

Tugenden schaden.
[78]

Doch der Himmel hat noch seine Kinder,

Fromme leben, kennt man sie schon minder,

Gold und Perlen findt man bei den Mohren,

Weise bei Thoren.


Aus der Tugend fließt der wahre Friede,

Wollust eckelt, Reichthum macht uns müde,

Kronen drücken, Ehre blendt nicht immer,

Tugend fehlt nimmer.


Drum, o Damon! gehts mir nicht nach Willen,

So will ich mich ganz in mich verhüllen,

Einen Weisen kleidet Leid wie Freude,

Tugend ziert beide.


Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke;

Doch er wendet Elend selbst zum Glücke.

Fällt der Himmel, er kann Weise decken,1

Aber nicht schrecken.

1

Fractus illabatur orbis

Impavidum ferient ruinæ.

Horat.

Quelle:
Albrecht von Haller: Gedichte, Frauenfeld 1882, S. 76-79.
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Versuch Schweizerischer Gedichte
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