Das welke Blatt

[117] In ihren Locken haftete ein welkes Blatt,

als ich mit ihr den alten Berg hernieder stieg

zum letzten Mal. Verstohlne Freude war es mir,

das braune Blatt im wirren braunen Haar zu sehn,

den stillen Zeugen stillgenossner, heiliger Lust,

und heimlich, glücklich lächelnd schritt ich neben ihr,

indes ein schwellend Säuseln durch die Kronen ging.


Doch eh wir noch das erste Haus der Stadt erreicht,

stahl ich ihr sacht das braune Blatt vom stolzen Haupt.

Und da ich nun nach ihren lieben Augen sah,

die ehrsam schon und sittig wieder schauten drein,

hob fragend sie den Blick empor: was nahmst du da?
[118]

Ich zeigt es schweigend. Eine dunkle Welle Bluts

floss über ihr schamhaftes Antlitz. Aber dann

schien plötzlich sie der heissen Wünsche eingedenk –

ein jäher Blitz hingebungsschwüler, starker Gluth

traf mich, es zitterten die offnen Lippen ihr,

und überwältigt bebte mir das bange Herz,

Ich fasste zuckend ihre Hand und presste sie

an meinen Mund und küsste sie zum letzten Mal,

indes ein schwellend Säuseln durch die Kronen ging.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 117-119.
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