Die Wiederkunft

[92] Prometheus brach jahrtausendalte Fesseln.

Er reckt die Glieder, er erhebt das Haupt,

und wie ein Morgenroth erhellt die Welt

der ungebrochne Strahl der grossen Augen.

– Prometheus! Prometheus!


– Ihr Menschen, die mein Schöpfersehnen rief

hervor ans Licht der götterfrohen Sonne,

habt ihr vollendet, was ich ahnend sann?

Lebt ihr und dankt ihr mir das Leben?


Der Funke, der aus meinen Händen troff,

erhellt er eure Stirn?

Die Liebe, die mein Athem Euch gehaucht

in kalte Brust, hat sie die Brust durchseelt?


Ich lag, geschmiedet in die Eisenbande,

am harten Fels. Zu meinen Füssen rauschte

das Meer, und seiner Brandung wilder, steter

Laut übertönte alles Menschliche.

Der Gischt der Fluthen hüllte jede Ferne

vor meinem Blick in weisse Schleier.
[93]

Menschen!

Ich brach die Ketten neiderfüllter Götter –

ich rufe euch! Hört mich!

– Prometheus! Prometheus!


Da kroch heran das sclavische Gezücht

der Menschen. – Herr, wie sollen wir

dir dienen? – Unterwürfigkeit im Blick,

gekrümmt den Rücken und gebeugt das Knie.


Ein Mann mit einem goldnen Reif im Haar

sprach: Dein Geschenk verehren wir gebührend.

Ich beuge mich vor deiner Schöpfergrösse,

und meine Unterthanen sind die deinen.


Ein Mann im groben Kittel voller Schmutz

sprach: Herr, ich friste mir mit meiner Arbeit

das Leben, und mein Weib ernährt die Kinder.

Wir sind zufrieden und wir danken dir.


Und nach ihm kamen andere, ungezählt,

und alle sprachen scheu und lallten:

– Herr! Herr!


Ein Häuflein stand beiseit und blickte stumm

auf jene, die vor ihnen lagen

zu Füssen des entfesselten Gebieters.
[94]

Verachtung zuckte herb um ihre Lippen,

auf ihren Brauen lag der Trotz.


– Und ihr?


– Der Funke, der aus deinen Händen troff,

der Strom der Zeiten hat ihn ausgelöscht.

Die Liebe, die dein Athem einst gehaucht

in Menschenbrust, sie ist erstickt und tot.


Enterbt, im Staube wälzen sich Millionen

und fühlen keine Schmach.

Und andre treten auf die Menschenstirnen

und fühlen keine Scham.

Sieh dieses Volk zu deinen Füssen winseln,

das nur nach neuen Götzen noch verlangt,

und frage nicht!


Prometheus schweigt und sinnt.

Dann heftet er des Auges Glanz

auf diese, die da aufrecht vor ihm stehn,

und langsam rollen seine Worte:


– Geschaffen hab ich Menschen.

Gross war das Werk, und Stolz füllt meine Brust,

seh ich auf euch, auf meine echten Söhne.

Doch nicht umsonst war ich gefesselt!

Weit Grössres wahrlich gilts noch zu vollenden:

Der Funke muss zur Flamme werden![95]

Da zuckt erhabner Freude lichte Gluth

auf jenen düstren Stirnen auf.

Sie jauchzen:

Prometheus! Prometheus!

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 92-96.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die beiden Schwestern Julchen und Lottchen werden umworben, die eine von dem reichen Damis, die andere liebt den armen Siegmund. Eine vorgetäuschte Erbschaft stellt die Beziehungen auf die Probe und zeigt, dass Edelmut und Wahrheit nicht mit Adel und Religion zu tun haben.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon