Sechste Szene

[305] Kriemhild tritt auf.


KRIEMHILD.

Schießt!

HAGEN verschwindet wieder.

KRIEMHILD.

Wie viele leben

Denn noch?

HILDEBRANT deutet auf den Totenwinkel.

Wie viele tot sind, siehst du hier!

DIETRICH.

Alle Burgunden, die ins Land gezogen,

Sind auch gefallen –

KRIEMHILD.

Aber Hagen lebt!

DIETRICH.

An siebentausend Heunen liegen dort –

KRIEMHILD.

Und Hagen lebt!

DIETRICH.

Der stolze Iring fiel.

KRIEMHILD.

Und Hagen lebt!

DIETRICH.

Der milde Thüring auch,[305]

Irnfried und Blödel und die Völker mit.

KRIEMHILD.

Und Hagen lebt! Schließt eure Rechnung ab,

Und wärt ihr selbst darin die letzten Posten,

Die ganze Welt bezahlt mich nicht für ihn.

HILDEBRANT.

Unhold!

KRIEMHILD.

Was schiltst du mich? Doch schilt mich nur!

Du triffst, was du gewiß nicht treffen willst,

Denn, was ich bin, das wurde ich durch die,

Die ihr der Strafe gern entziehen mögtet,

Und wenn ich Blut vergieße, bis die Erde

Ertrinkt, und einen Berg von Leichen türme,

Bis man sie auf dem Mond begraben kann,

So häuf ich ihre Schuld, die meine nicht.

O, zeigt mir nur mein Bild! Ich schaudre nicht

Davor zurück, denn jeder Zug verklagt

Die Basilisken dort, nicht mich. Sie haben

Mir die Gedanken umgefärbt. Bin ich

Verräterisch und falsch? Sie lehrten mich,

Wie man den Helden in die Falle lockt.

Und bin ich für des Mitleids Stimme taub?

Sie warens, als sogar der Stein zerschmolz.

Ich bin in allem nur ihr Widerschein,

Und wer den Teufel haßt, der spuckt den Spiegel

Nicht an, den er befleckt mit seiner Larve,

Er schlägt ihn selbst und jagt ihn aus der Welt.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 305-306.
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