[307] betreffend das Verhältnis der dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte
Das kleine Vorwort, womit ich meine Genoveva begleitete, hat so viel Mißverständnis und Widerspruch hervorgerufen, daß ich mich über den darin berührten Hauptpunkt noch einmal aussprechen muß. Ich muß aber ein ästhetisches Fundament, und ganz besonders einigen guten Willen, auf das Wesentliche meines Gedankenganges einzugehen, voraussetzen, denn wenn die Unschuld des Worts nicht respektiert, und von der dialektischen Natur der Sprache, deren ganze Kraft auf dem Gegensatz beruht, abgesehen wird, so kann man mit jedem eigentümlichen Ausdruck jeden beliebigen Wechselbalg erzeugen, man braucht nur einfach in die Bejahung der eben hervorgehobenen Seite eine stillschweigende Verneinung aller übrigen zu legen.
Das Drama, als die Spitze aller Kunst, soll den jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältnis zur Idee, d.h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Zentrum, das wir im Welt-Organismus, schon seiner Selbst-Erhaltung wegen, annehmen müssen, veranschaulichen. Das Drama, d.h. das höchste, das Epoche machende, denn es gibt auch noch ein zweites und drittes, ein partiell-nationales und ein subjektiv-individuelles, die sich zu jenem verhalten, wie einzelne Szenen und Charaktere zum ganzen Stück, die dasselbe aber so lange, bis ein alles umfassender Geist erscheint, vertreten, und wenn dieser ganz ausbleibt, als disjecti membra poetae in seine Stelle rücken, das Drama ist nur dann möglich, wenn in diesem Zustand eine entscheidende Veränderung vor sich geht, es ist daher durchaus ein Produkt der Zeit, aber freilich nur in dem Sinne, worin eine solche Zeit selbst ein Produkt aller vorhergegangenen Zeiten ist, das verbindende Mittelglied zwischen einer Kette von Jahrhunderten die sich, schließen, und einer neuen, die beginnen will.
Bis jetzt hat die Geschichte erst zwei Krisen aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervortreten konnte, es ist demgemäß[307] auch erst zwei Mal hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die antike Welt-Anschauung aus ihrer ursprünglichen Naivetät in das sie zunächst auflockernde und dann zerstörende Moment der Reflexion überging, und einmal bei den Neuern, als in der christlichen eine ähnliche Selbst-Entzweiung eintrat. Das griechische Drama entfaltete sich, als der Paganismus sich überlebt hatte, und verschlang ihm, es legte den durch alle die bunten Götter-Gestalten des Olymps sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man will, es gestaltete das Fatum. Daher das maßlose Herabdrücken des Individuums, den sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in einen doch nicht zufälligen, sondern notwendigen Kampf verstrickt sieht, wie es im Oedip den Schwindel erregenden Höhepunkt erreicht. Das Shakespearsche Drama entwickelte sich am Protestantismus und emanzipierte das Individuum. Daher die furchtbare Dialektik seiner Charaktere, die, soweit sie Männer der Tat sind, alles Lebendige um sich her durch ungemessenste Ausdehnung verdrängen, und soweit sie im Gedanken leben, wie Hamlet, in ebenso ungemessener Vertiefung in sich selbst durch die kühnsten entsetzlichsten Fragen Gott aus der Welt, wie aus einer Pfuscherei, herausjagen mögten.
Nach Shakespeare hat zuerst Goethe im Faust und in den mit Recht dramatisch genannten Wahlverwandtschaften wieder zu einem großen Drama den Grundstein gelegt, und zwar hat er getan, oder vielmehr zu tun angefangen, was allein noch übrig blieb, er hat die Dialektik unmittelbar in die Idee selbst hineingeworfen, er hat den Widerspruch, den Shakespeare nur noch im Ich aufzeigt, in dem Zentrum, um das das Ich sich herum bewegt, d.h. in der diesem erfaßbaren Seite desselben, aufzuzeigen, und so den Punkt, auf den die gerade, wie die krumme Linie zurückzuführen schien, in zwei Hälften zu teilen gesucht. Es muß niemand wundern, daß ich Calderon, dem manche einen gleichen Rang anweisen, übergehe, denn das Calderonsche Drama ist allerdings bewunderungswürdig in seiner konsequenten Ausbildung, und hat der Literatur der Welt in dem Stücke: das Leben ein Traum! ein unvergängliches Symbol einverleibt, aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft, es setzt in seiner starren Abhängigkeit vom Dogma voraus, was es beweisen soll, und nimmt[308] daher, wenn auch nicht der Form, so doch dem Gehalt nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.
Allein Goethe hat nur den Weg gewiesen, man kann kaum sagen, daß er den ersten Schritt getan hat, denn im Faust kehrte er, als er zu hoch hinauf, und in die kalte Region hinein geriet, wo das Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den Wahlverwandtschaften setzte er, wie Calderon, voraus, was er zu beweisen oder zu veranschaulichen hatte. Wie Goethe, der durchaus Künstler, großer Künstler, war, in den Wahlverwandtschaften einen solchen Verstoß gegen die innere Form begehen konnte, daß er, einem zerstreuten Zergliederer nicht unähnlich, der, statt eines wirklichen Körpers, ein Automat auf das anatomische Theater brächte, eine von Haus aus nichtige, ja unsittliche Ehe, wie die zwischen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt seiner Darstellung machte und dies Verhältnis behandelte und benutzte, als ob es ein ganz entgegengesetztes, ein vollkommen berechtigtes wäre, wüßte ich mir nicht zu erklären; daß er aber auf die Hauptfrage des Romans nicht tiefer einging, und daß er ebenso im Faust, als er zwischen einer ungeheuren Perspektive und einem mit Katechismus-Figuren bemalten Bretter-Verschlag wählen sollte, den Bretter-Verschlag vorzog und die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit, die wir mit Recht im ersten Teil erblickten, im zweiten zu bloßen Krankheits-Momenten eines später durch einen willkürlichen, nur notdürftig-psychologisch vermittelten Akt kurierten Individuums herabsetzte, das ging aus seiner ganz eigen komplizierten Individualität hervor, die ich hier nicht zu analysieren brauche, da ich nur anzudeuten habe, wie weit er gekommen ist. Es bedarf hoffentlich nicht der Bemerkung, daß die vorstehenden, sehr motivierten Einwendungen gegen den Faust und die Wahlverwandtschaften diesen beiden welthistorischen Produktionen durchaus nichts von ihrem unermeßlichen Wert abdingen, sondern nur das Verhältnis, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen verkörperten Ideen stand, bezeichnen und den Punkt, wo sie formlos geblieben sind, nachweisen sollen.
Goethe hat demnach, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die große Erbschaft der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl erkannt, daß das menschliche Bewußtsein[309] sich erweitern, daß es wieder einen Ring zersprengen will, aber er konnte sich nicht in gläubigem Vertrauen an die Geschichte hingeben, und da er die aus den Übergangs-Zuständen, in die er in seiner Jugend selbst gewaltsam hineingezogen wurde, entspringenden Dissonanzen nicht aufzulösen wußte, so wandte er sich mit Entschiedenheit, ja mit Widerwillen und Ekel, von ihnen ab. Aber diese Zustände waren damit nicht beseitigt, sie dauern fort bis auf den gegenwärtigen Tag, ja sie haben sich gesteigert, und alle Schwankungen und Spaltungen in unserem öffentlichen, wie in unserem Privat-Leben, sind auf sie zurückzuführen, auch sind sie keineswegs so unnatürlich, oder auch nur so gefährlich, wie man sie gern machen mögte, denn der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld gibt, neue und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen, er will, daß sie sich auf nichts, als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit, die identisch sind, stützen und also den äußeren Haken, an dem sie bis jetzt zum Teil befestigt waren, gegen den inneren Schwerpunkt, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen. Dies ist, nach meiner Überzeugung, der welthistorische Prozeß, der in unseren Tagen vor sich geht, die Philosophie, von Kant, und eigentlich von Spinoza an, hat ihn, zersetzend und auflösend, vorbereitet, und die dramatische Kunst, vorausgesetzt, daß sie überhaupt noch irgend etwas soll, denn der bisherige Kreis ist durchlaufen und Duplikate sind vom Überfluß und passen nicht in den Haushalt der Literatur, soll ihn beendigen helfen, sie soll, wie es in einer ähnlichen Krisis Aeschylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes, die nicht von ungefähr und etwa bloß, weil das Schicksal es mit dem Theater der Athener besonders wohl meinte, so kurz hintereinander hervortraten, getan haben, in großen gewaltigen Bildern zeigen, wie die bisher nicht durchaus in einem lebendigen Organismus gesättigt aufgegangenen, sondern zum Teil nur in einem Scheinkörper erstarrt gewesenen und durch die letzte große Geschichts-Bewegung entfesselten Elemente, durcheinander flutend und sich gegenseitig bekämpfend, die neue Form der Menschheit, in welcher alles wieder an seine Stelle treten, in welcher das Weib dem Manne wieder gegenüberstehen wird, wie dieser der Gesellschaft, und wie die Gesellschaft der Idee,[310] erzeugen. Damit ist nun freilich der Übelstand verknüpft, daß die dramatische Kunst sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einlassen muß, da das Brechen der Weltzustände ja nur in der Gebrochenheit der individuellen erscheinen kann, und da ein Erdbeben sich nicht anders darstellen läßt, als durch das Zusammenstürzen der Kirchen und Häuser und die ungebändigt hereindringenden Fluten des Meers. Ich nenne es natürlich nur mit Rücksicht auf die harmlosen Seelen, die ein Trauerspiel und ein Kartenspiel unbewußt auf einen und denselben Zweck reduzieren, einen Übelstand, denn diesen wird unheimlich zumute, wenn Spadille nicht mehr Spadille sein soll, sie wollen wohl neue Kombinationen im Spiel, aber keine neue Regel, sie verwünschen den Hexenmeister, der ihnen diese aufdringt, oder doch zeigt, daß sie möglich ist, und sehen sich nach dem Gevatter Handwerker um, der die Blätter wohl anders mischt, auch wohl hin und wieder, denn Abwechselung muß sein, einen neuen Trumpf einsetzt, aber im übrigen die altehrwürdige Erfindung des Ur-Ur-Großvaters, wie das Natur-Gesetz selbst, respektiert. Hier wäre es am Ort, aus dem halben Scherz in einen bittern ganzen Ernst überzugehen, denn es ist nicht zu sagen, bis zu welchem Grade eine zum Teil unzurechnungsfähige und unmündige, zum Teil aber auch perfide Kritik, sich den erbärmlichen Theater-Verhältnissen unserer Tage und dem beschränkten Gesichtskreis des großen Haufens akkommodierend, die einfachen Grundbegriffe der dramatischen Kunst, von denen man glauben sollte, daß sie, nachdem sich ihre Kraft und Wahrheit vier Jahrtausende hindurch bewährte, unantastbar seien, wie das Einmaleins, verwirrt und auf den Kopf gestellt hat. Der Maler braucht sich, und er mag dem Himmel dafür danken, noch nicht darüber zu entschuldigen, daß er die Leinewand, aus der auch Siebbeutel gemacht werden könnten, bemalt, auch verlacht man ihn noch nicht, wenn man sieht, daß er auf die Komposition seines Gemäldes Mühe und Fleiß verwendet, daß er die Farben, die ja doch auch schon an sich dem Auge schmeicheln, auf Gestalten, und die Gestalten wieder auf einen inneren, für den bloßen Gaffer nicht vorhandenen Mittelpunkt bezieht, statt das Farbenbrett selbst mit dem eingerührten Blau, Gelb und Rot, für das Gemälde zu geben, oder doch den bunten Gestalten- und Figuren-Tanz;[311] aber jene Kunst, die, wie alles Höchste, nur dann überhaupt etwas ist, wenn sie das, was sie sein soll, ganz ist, muß sich jetzt, wie über eine Narrheit, darüber hudeln lassen, daß sie ihre einzige, ihre erste und letzte Aufgabe, im Auge behält, statt es sich bequem zu machen und für den Karfunkel den Kiesel zu bieten, für ein tiefsinniges und unergründliches Lebens-Symbol ein gemeines Lebens-Rätsel, das mit der gelösten Spannung ins Nichts zerplatzt, und, außerstande, auch nur die dürftigste Seele für einen Moment zu sättigen, nichts erweckt, als den Hungerruf: was Neues! was Neues! Ich sage es euch, ihr, die ihr euch dramatische Dichter nennt, wenn ihr euch damit begnügt, Anekdoten, historische oder andere, es gilt gleich, in Szene zu setzen, oder, wenns hoch kommt, einen Charakter in seinem psychologischen Räderwerk auseinander zu legen, so steht ihr, ihr mögt nun die Tränenfistel pressen oder die Lachmuskeln erschüttern, wie ihr wollt, um nichts höher, als unser bekannter Vetter von Thespis her, der in seiner Bude die Marionetten tanzen läßt. Nur wo ein Problem vorliegt, hat eure Kunst etwas zu schaffen, wo euch aber ein solches aufgeht, wo euch das Leben in seiner Gebrochenheit entgegentritt und zugleich in eurem Geist, denn beides muß zusammenfallen, das Moment der Idee, in dem es die verlorne Einheit wieder findet, da ergreift es, und kümmert euch nicht darum, daß der ästhetische Pöbel in der Krankheit selbst die Gesundheit aufgezeigt haben will, da ihr doch nur den Übergang zur Gesundheit aufzeigen und das Fieber allerdings nicht heilen könnt, ohne euch mit dem Fieber einzulassen, denn dieser Pöbel, der euch über die Paroxysmen, die ihr darstellt, zur Rechenschaft zieht, als ob es eure eigenen wären, müßte, wenn er Konsequenz besäße, auch dem Richter, der dem Missetäter das Verbrechen abfragt, um seine Stellung zum Gesetz zu ermitteln, ja dem Geistlichen, der Beichte hört, den Vorwurf machen, daß er sich mit schmutzigen Dingen befasse, und ihr seid für nichts, für gar nichts, verantwortlich, als für die Behandlung, die, als eine freie, eure subjektive Unabhängigkeit vom Gegenstand und euer persönliches Unvermischtsein mit demselben hervortreten lassen muß, und für das letzte Resultat, ja auch das Resultat braucht nicht im Lanzen-Spitzen-Sinn die Spitze eures Werks zu sein, es darf sich ebenso gut als Ausgangspunkt eines[312] Charakters hinstellen, wie als Ausgangspunkt des ganzen Dramas, obgleich freilich, wenn letzteres der Fall ist, das Drama der Form nach einen höheren Grad von Vollendung für sich in Anspruch zu nehmen hat. Man kann, wenn man sich genötigt sieht, über Dinge, die niemanden ohne innere Erfahrung ganz verständlich werden, zu sprechen, sich nicht genug gegen Mißdeutung verwahren; ich füge also noch ausdrücklich hinzu, daß man hier nicht an ein allegorisches Herausputzen der Idee, überhaupt nicht an die philosophische, sondern an die unmittelbar ins Leben selbst verlegte Dialektik denken muß, und daß, wenn in einem Prozeß, worin, wie in jedem schöpferischen, alle Elemente sich mit gleicher Notwendigkeit bedingen und voraussetzen, überall von einem Vor und Nach die Rede sein kann, der Dichter (wer sich für einen hält, möge sich darnach prüfen!) sich jedenfalls eher der Gestalten bewußt werden wird, als der Idee, oder vielmehr des Verhältnisses der Gestalten zur Idee. Doch, wie gesagt, die ganze Anschauungsweise ist eine unzulässige, die aber noch sehr verbreitet zu sein scheint, da, was aus ihr allein hervorgehen kann, selbst einsichtige Männer nicht aufhören, mit dem Dichter über die Wahl seiner Stoffe, wie sie es nennen, zu hadern, und dadurch zeigen, daß sie sich das Schaffen, dessen erstes Stadium, das empfangende, doch tief unter dem Bewußtsein liegt und zuweilen in die dunkelste Ferne der Kindheit zurückfällt, immer als ein, wenn auch veredeltes, Machen vorstellen, und daß sie in das geistige Gebären eine Willkür verlegen, die sie dem leiblichen, dessen Gebundensein an die Natur freilich heller in die Augen springt, gewiß nicht zusprechen würden. Den Gevatter Handwerker, dessen ich oben gedachte, mag man schelten, wenn er etwas bringt, was dem gnädigen Herrn mit vielen Köpfen nicht behagt, denn der wackere Mann kann das eine so gut liefern, als das andere, er hat sich, als er seine Anekdote auswählte, bloß im Effekt verrechnet, und für Rechenfehler ist jedermann verantwortlich; dem Dichter dagegen muß man verzeihen, wenn er es nicht trifft, er hat keine Wahl, er hat nicht einmal die Wahl, ob er ein Werk überhaupt hervorbringen will, oder nicht, denn das einmal lebendig Gewordene läßt sich nicht zurückverdauen, es läßt sich nicht wieder in Blut verwandeln, sondern muß in freier Selbständigkeit hervortreten, und eine unterdrückte oder unmögliche[313] geistige Entbindung kann ebenso gut, wie eine leibliche, die Vernichtung, sei es nun durch den Tod, oder durch den Wahnsinn, nach sich ziehen. Man denke an Goethes Jugend-Genossen Lenz, an Hölderlin, an Grabbe.
Ich sagte: die dramatische Kunst soll den welthistorischen Prozeß, der in unseren Tagen vor sich geht, und der die vorhandenen Institutionen des menschlichen Geschlechts, die politischen, religiösen und sittlichen, nicht umstürzen, sondern tiefer begründen, sie also vor dem Umsturz sichern will, beendigen helfen. In diesem Sinne soll sie, wie alle Poesie, die sich nicht auf Superfötation und Arabeskenwesen beschränkt, zeitgemäß sein, in diesem Sinn, und in keinem andern, ist es jede echte, in diesem Sinn habe auch ich im Vorwort zur Genoveva meine Dramen als künstlerische Opfer der Zeit bezeichnet, denn ich bin mir bewußt, daß die individuellen Lebens-Prozesse, die ich darstellte und noch darstellen werde, mit den jetzt obschwebenden allgemeinen Prinzipien-Fragen in engster Verbindung stehen, und obgleich es mich nicht unangenehm berühren konnte, daß die Kritik bisher fast ausschließlich meine Gestalten ins Auge faßte, und die Ideen, die sie repräsentieren, unberücksichtigt ließ, indem ich hierin wohl nicht mit Unrecht den besten Beweis für die wirkliche Lebendigkeit dieser Gestalten erblickte, so muß ich nun doch wünschen, daß dies ein Ende nehmen, und daß man auch dem zweiten Faktor meiner Dichtungen einige Würdigung widerfahren lassen möge, da sich natürlich ein ganz anderes Urteil über Anlage und Ausführung ergibt, wenn man sie bloß in Bezug auf die behandelte Anekdote betrachtet, als wenn man sie nach dem zu bewältigenden Ideen-Kern, der manches notwendig machen kann, was für jene überflüssig ist, bemißt. Der erste Rezensent, den meine Genoveva fand, glaubte in jener Bezeichnung meiner Dramen eine der Majestät der Poesie nicht würdige Konzession an die Zeitungspoetik unserer Tage zu erblicken und fragte mich, wo denn in meinen Stücken jene Epigrammatie und Bezüglichkeit, die man jetzt zeitgemäß nenne, anzutreffen sei. Ich habe ihm hierauf nichts zu antworten, als daß ich die Begriffe der Zeit und des Zeitungsblatts nicht so identisch finde, wie er zu tun scheint, falls sein sonderbarer Einwurf anders ernst gemeint und nicht bloß darauf gerichtet war, mir die hier[314] gegebene nähere Entwickelung meiner vielleicht zu lakonisch hingestellten Gedanken abzudringen. Ich weiß übrigens recht gut, daß sich heutzutage eine ganz andere Zeitpoesie in Deutschland geltend macht, eine Zeitpoesie, die sich an den Augenblick hingibt, und die, obgleich sie eigentlich das Fieber mit der Hitzblatter, die Gärung im Blut mit dem Hautsymptom, wodurch sie sich ankündigt, verwechselt, doch, insofern sie dem Augenblick wirklich dient, nicht zu schelten wäre, wenn nur sie selbst sich des Scheltens enthalten wollte. Aber, nicht zufrieden, in ihrer zweifelhaften epigrammatisch-rhetorischen Existenz toleriert, ja gehegt und gepflegt zu werden, will sie allein existieren, und gibt sich, polternd und eifernd, das Ansehen, als ob sie Dinge verschmähte, von denen sie wenigstens erst beweisen sollte, daß sie ihr erreichbar sind. Man kann in keinem Band Gedichte, denn gerade in der Lyrik hat sie das Quartier aufgeschlagen, mehr blättern, ohne auf heftige Kontroversen gegen die Sänger des Weins, der Liebe, des Frühlings usw., die toten, wie die lebendigen, zu stoßen, aber die Herren halten ihre eigenen Frühlings- und Liebeslieder zurück, oder produzieren, wenn sie damit auftreten, solche Nichtigkeiten, daß man unwillkürlich an den Wilden denken muß, der ein Klavier mit der Axt zertrümmerte, weil er sich lächerlich gemacht hatte, als er es zu spielen versuchte. Lieben Leute, wenn einer die Feuerglocke zieht, so brechen wir alle aus dem Konzert auf und eilen auf den Markt, um zu erfahren, wo es brennt, aber der Mann muß sich darum nicht einbilden, er habe über Mozart und Beethoven triumphiert. Auch daraus, daß die Epigramme, die ihr bekannten Personen mit Kreide auf den Rücken schreibt, schneller verstanden werden und rascher in Umlauf kommen, als Juvenalsche Satiren, müßt ihr nicht schließen, daß ihr den Juvenal übertroffen habt; sie sind dafür auch vergessen, sobald die Personen den Rücken wenden oder auch nur den Rock wechseln, während Juvenal hier nicht angeführt werden könnte, wenn er nicht noch nach Jahrtausenden gelesen würde. Als Goethe der schönsten Lieder-Poesie, die uns nach der seinigen geschenkt worden ist, der Uhlandschen, in einer übellaunigen Minute vorwarf, es werde daraus nichts »Menschen-Geschick Aufregendes und Bezwingendes« hervorgehen, so hatte er freilich recht, denn Lilien-Duft ist kein Schießpulver,[315] und auch der Erl-König und der Fischer, obgleich sie Millionen Trommelschläger-Stückchen aufwiegen, würden im Krieg so wenig den Trompeter- als einen anderen Dienst versehen können. Die Poesie hat Formen, in denen der Geist seine Schlachten schlägt, die epischen und dramatischen, sie hat Formen, worin das Herz seine Schätze niederlegt, die lyrischen, und das Genie zeigt sich eben dadurch, daß es jede auf die rechte Weise ausfüllt, indes das Halb-Talent, das für die größeren nicht Gehalt genug hat, die engeren gern zu zersprengen sucht, um trotz seiner Armut reich zu erscheinen. Ein solcher, von einem total verkehrt gewählten Gesichtspunkt aus gefällter Ausspruch, den Goethe selbst in den Gesprächen mit Eckermann schon modifizierte, hätte der Kritik zu nichts Veranlassung geben sollen, als zu einer gründlichen Auseinandersetzung, worin sich Uhland und der piepsende Ratten- und Mäusekönig, der sich ihm angehängt hat, die »schwäbische Schule«, voneinander unterscheiden, da ja nicht Uhland, sondern ein von Goethe unbesehens für ein Mitglied dieser Schule gehaltener schwäbischer Dichter den Ausspruch hervorrief. Es ist hier zu dieser Auseinandersetzung, die sich übrigens um so eher der Mühe verlohnte, als sich, wenn man bis zum Prinzip hinabstiege, wahrscheinlich ergäbe, daß eine gemeine Gemüts- und eine gemeine Reflexions-Lyrik gleich nullenhaft sind und daß ein Einfall über den »Baum« der »Menschheit«, an dem die »Blüte« der »Freiheit« unter dem »Sonnenkuß« des »Völkerlenzes« aufbricht, wirklich nicht mehr besagen will, als ein Hausvater-Gefühl unterm blühenden Apfelbaum, nicht der Ort, aber ich kann nicht umhin, auf den Unterschied selbst dringend aufmerksam zu machen, um mich nicht in den Verdacht zu bringen, als ob ich die melodielose Nüchternheit, die zu dichten glaubt, wenn sie ihre Werkeltags-Empfindungen oder eine hinter dem Zaun aufgelesene Alte-Weiber-Sage in platte Verse zwängt, einer Rhetorik vorziehe, die zwar, schon der spröden Einseitigkeit wegen, niemals zur Poesie, aber doch vielleicht zur Gedanken- und, wenn dies gelingt, auch zur Charakterbildung führt. Mann soll die Flöte nicht nach dem Brennholz, das sich allenfalls für den prophezeiten Weltbrand aus ihr gewinnen ließe, abschätzen, aber das gemeine Brennholz soll noch weniger auf seine eingebildete Verwandtschaft mit der Flöte dicke tun. Es versteht sich von[316] selbst, daß ich nicht alle Schwaben, und noch weniger bloß die Schwaben, zur schwäbischen Schule rechne, denn auch Kerner etc. ist ein Schwabe.
Vielleicht sagt der eine oder der andere: dies sind ja alte, bekannte, längst festgestellte Dinge. Allerdings. Ja, ich würde erschrecken, wenn es sich anders verhielte, denn wir sollen im Ästhetischen, wie im Sittlichen, nach meiner Überzeugung nicht das elfte Gebot erfinden, sondern die zehn vorhandenen erfüllen. Bei alledem bleibt demjenigen, der die alten Gesetztafeln einmal wieder mit dem Schwamm abwäscht und den frechen Kreide-Kommentar, mit dem allerlei unlautre Hände den Grundtext übermalt haben, vertilgt, immer noch sein bescheidenes Verdienst. Es hat sich ein gar zu verdächtiges Glossarium angesammelt. Die Poesie soll nicht bleiben, was sie war und ist: Spiegel des Jahrhunderts und der Bewegung der Menschheit im allgemeinen, sie soll Spiegel des Tags, ja der Stunde werden. Am allerschlimmsten aber kommt das Drama weg, und nicht, weil man zu viel, oder das Verkehrte von ihm verlangt, sondern weil man gar nichts von ihm verlangt. Es soll bloß amüsieren, es soll uns eine spannende Anekdote, allenfalls, der Pikantheit wegen, von psychologisch-merkwürdigen Charakteren getragen, vorführen, aber es soll beileibe nicht mehr tun: was im Shakespeare (man wagt, sich auf ihn zu berufen) nicht amüsiert, das ist vom Übel, ja es ist, näher besehen, auch nur durch den Enthusiasmus seiner Ausleger in ihn hinein phantasiert, er selbst hat nicht daran gedacht, er war ein guter Junge, der sich freute, wenn er durch seine wilden Schnurren mehr Volk, wie gewöhnlich, zusammen trommelte, denn dann erhielt er vom Theater-Direktor einen Schilling über die Wochen-Gage und wurde wohl gar freundlich ins Ohr gekniffen. Ein berühmter Schauspieler, jetzt verstorben, hat, wie ihm von seinen Freunden nachgesagt wird, dem neuen Evangelium die praktische Nutzanwendung hinzugefügt, er hat alles Ernstes behauptet, daß der »Poet« dem »Künstler« nur ein Szenarium zu liefern habe, welches dann durch diesen extemporierend anzufüllen sei. Die Konsequenz ist hier, wie allenthalben, zu loben, denn man sieht doch, wohin das Amüsement-Prinzip führt, aber das Sach-Verhältnis ist dies. Eine Dichtung, die sich für eine dramatische gibt, muß darstellbar sein, jedoch nur deshalb,[317] weil, was der Künstler nicht darzustellen vermag, von dem Dichter selbst nicht dargestellt wurde, sondern Embryo und Gedanken-Schemen blieb. Darstellbar ist nun nur das Handeln, nicht das Denken und Empfinden; Gedanken und Empfindungen gehören also nicht an sich, sondern immer nur so weit, als sie sich unmittelbar zur Handlung umbilden, ins Drama hinein; dagegen sind aber auch Handlungen keine Handlungen, wenigstens keine dramatische, wenn sie sich ohne die sie vorbereitenden Gedanken und die sie begleitenden Empfindungen, in nackter Abgerissenheit, wie Natur-Vorfälle, hinstellen, sonst wäre ein stillschweigend gezogener Degen der Höhepunkt aller Aktion. Auch ist nicht zu übersehen, daß die Kluft zwischen Handeln und Leiden keineswegs so groß ist, als die Sprache sie macht, denn alles Handeln löst sich dem Schicksal, d.h. dem Welt-Willen gegenüber, in ein Leiden auf, und gerade dies wird in der Tragödie veranschaulicht, alles Leiden aber ist im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln, und wie unser Interesse mit ebenso großer Befriedigung auf dem Menschen ruht, wenn er sich auf sich selbst, auf das Ewige und Unvergängliche im zerschmetterten Individuum besinnt und sich dadurch wieder herstellt, was im Leiden geschieht, als wenn er dem Ewigen und Unvergänglichen in individueller Gebundenheit Trotz bietet, und dafür von diesem, das über alle Manifestation hinausgeht, wie z.B. unser Gedanke über die Hand, die er in Tätigkeit setzt, und das selbst dann, wenn ihm der Wille nicht entgegentritt, noch im Ich auf eine hemmende Schranke stoßen kann, die strenge Zurechtweisung empfängt, so ist das eine auch ebenso gut darstellbar, wie das andere, und erfordert höchstens den größeren Künstler. Ich wiederhole es: eine Dichtung, die sich für eine dramatische gibt, muß darstellbar sein, weil, was der Künstler nicht darzustellen vermag, von dem Dichter selbst nicht dargestellt wurde, sondern Embryo und Gedanken-Schemen blieb. Dieser innere Grund ist zugleich der einzige, die mimische Darstellbarkeit ist das allein untrügliche Kriterium der poetischen Darstellung, darum darf der Dichter sie nie aus den Augen verlieren. Aber diese Darstellbarkeit ist nicht nach der Konvenienz und den in »steter Wandlung« begriffenen Mode-Vorurteilen zu bemessen, und wenn sie ihr Maß von dem realen Theater entlehnen will, so hat sie nach dem Theater aller[318] Zeiten, nicht aber nach dieser oder jener speziellen Bühne, worin ja, wer kann es wissen, wie jetzt die jungen Mädchen, vielleicht noch einmal die Kinder das Präsidium führen, und dann, ihren unschuldigen Bedürfnissen gemäß, darauf bestehen werden, daß die Ideen der Stücke nicht über das Niveau von: quäle nie ein Tier zum Scherz usw. oder: Schwarzbeerchen, bist du noch so schön usw. hinausgehen sollen, zu fragen. Es ergibt sich bei einigem Nachdenken von selbst, daß der Dichter nicht, wie es ein seichter Geschmack, und auch ein unvollständiger und frühreifer Schönheits-Begriff, der, um sich bequemer und schneller abschließen zu können, die volle Wahrheit nicht in sich aufzunehmen wagt, von ihm verlangen, zugleich ein Bild der Welt geben und doch von den Elementen, woraus die Welt besteht, die widerspenstigen ausscheiden kann, sondern daß er alle gerechten Ansprüche befriedigt, wenn er jedem dieser Elemente die rechte Stelle anweist, und die untergeordneten, die sich nun einmal, wie querlaufende Nerven und Adern, mit im Organismus vorfinden, nur hervortreten läßt, damit die höhern sie verzehren. Davon, daß der Wert und die Bedeutung eines Dramas von dem durch hundert und tausend Zufälligkeiten bedingten Umstand, ob es zur Aufführung kommt oder nicht, also von seinem äußern Schicksal, abhange, kann ich mich nicht überzeugen, denn, wenn das Theater, das als vermittelndes Organ zwischen der Poesie und dem Publikum sehr hoch zu schätzen ist, eine solche Wunderkraft besäße, so müßte es zunächst doch das lebendig erhalten, was sich ihm mit Leib und Seele ergibt; wo bleiben sie aber, die hundert und tausend »bühnengerechten« Stücke, die »mit verdientem Beifall« unter »zahlreichen Wiederholungen« über die Bretter gehen? Und um von der Fabrik-Ware abzusehen, werden Shakespeare und Calderon, die ja doch nicht bloß große dramatische Dichter, sondern auch wahre Theater-Schriftsteller gewesen sein sollen, gespielt, hat das Theater sie nicht längst fallen lassen und dadurch bewiesen, daß es so wenig das Vortreffliche, als das Nichtige, fest hält, geht daraus aber nicht mit Evidenz hervor, daß nicht, wie diejenigen, die nur halb wissen, worauf es ankommt, meinen, das faktische Dargestelltwerden, das früher oder später auf hört, ohne darum der Wirkung des Dichters eine Grenze zu setzen, sondern die von mir aus der Form als unbedingt notwendig[319] abgeleitete und ihrem wahren Wesen nach bestimmte Darstellbarkeit über Wert und Bedeutung eines Dramas entscheidet? Hiermit ist nun nicht bloß die naive Seidelmannsche Behauptung beseitigt, von der ich zunächst ausging, und die eigentlich darauf hinausläuft, daß ein poetisches Nichts, das sich in jeder Façon, die der Künstler ihm aufzudrücken beliebt, noch besser ausnimmt, als in der von Haus aus mitgebrachten, der Willkür des genialen Schauspielers freieren Spielraum verstattet, als das zähe poetische Etwas, an das er sich hingeben muß; sondern es ist damit auch all das übrige Gerede, dessen ich gedachte, auf sein Körnlein Wahrheit reduziert, es ist gezeigt, daß der echte dramatische Darstellungs-Prozeß ganz von selbst und ohne nach der Bühne zu blinzeln, alles Geistige verleiblichen, daß er die dualistischen Ideen-Faktoren, aus deren Aneinanderprallen der das ganze Kunstwerk entzündende schöpferische Funke hervorspringt, zu Charakteren verdichten, daß er das innere Ereignis nach allen seinen Entwickelungsstadien in einer äußeren Geschichte, einer Anekdote, auseinander fallen und diese Anekdote, dem Steigerungs-Gesetz der Form gemäß, zur Spitze auslaufen lassen, also spannend und Interesse erweckend gestalten, und so auch denjenigen Teil der Leser- und Zuschauerschaft, der die wahre Handlung gar nicht ahnt, amüsieren und zufrieden stellen wird.
Kann aber, ich darf diese Frage nicht umgehen, die so weit fortgeschrittene Philosophie die große Aufgabe der Zeit nicht allein lösen, und ist der Standpunkt der Kunst nicht als ein überwundener oder ein doch zu überwindender zu betrachten? Wenn die Kunst nichts weiter wäre, als was die meisten in ihr erblicken, ein träumerisches, hin und wieder durch einen sogenannten ironischen Einfall über sich selbst unterbrochenes Fortspinnen der Erscheinungswelt, eine gleichsam von dem äußeren Theater aufs innere versetzte Gestalten-Komödie, worin die verhüllte Idee, nach wie vor, mit sich selbst Versteckens spielt, so müßte man darauf unbedingt mit ja antworten, und ihr auflegen, die viertausendjährige Sünde einer angemaßten Existenz mit einem freiwilligen Tode zu büßen, ja selbst die ewige Ruhe nicht als einen, durch ihre erst jetzt überflüssig gewordene Tätigkeit verdienten Lohn, sondern nur als ein ihr aus Rücksicht auf den von ihr der Menschheit in ihren Kinderjahren durch ihre nicht ganz sinnlosen[320] Bilder und Hieroglyphen verschafften nützlichen Zeitvertreib bewilligtes Gnadengeschenk hinzunehmen. Aber die Kunst ist nicht bloß unendlich viel mehr, sie ist etwas ganz anderes, sie ist die realisierte Philosophie, wie die Welt die realisierte Idee, und eine Philosophie, die nicht mit ihr schließen, die nicht selbst in ihr zur Erscheinung werden, und dadurch den höchsten Beweis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht mit der Welt anzufangen, es ist gleichgültig, ob sie das erste oder das letzte Stadium des Lebensprozesses, von dem sie sich ausgeschlossen wähnen muß, wenn sie ohne Darstellung auskommen zu können glaubt, negiert, denn auf die Welt kann sie sich, als auf eine solche Darstellung, nicht zurückbeziehen, ohne sich zugleich mit auf die Kunst zu beziehen, da die Welt eben erst in der Kunst zur Totalität zusammengeht. Eine schöpferische und ursprüngliche Philosophie hat dies auch noch nie getan, sie hat immer gewußt, daß sie sich eine Probe, die die von ihr nackt reproduzierte Idee selbst sich nicht ersparen konnte, nicht unterschlagen darf, und deshalb in der Kunst niemals einen bloßen Stand-, sondern ihren eigenen Ziel- und Gipfelpunkt erblickt; dagegen ist es charakteristisch für jede formale, und aus nahe liegenden Gründen auch für die Jüngerschaft jeder anderen, daß sie selbst da, wo sie lebendige Gestalt geworden ist, oder doch werden sollte, nicht aufhören kann, zu zersetzen, und, gleich einem Menschen, der, um sich zu überzeugen, ob er auch alles das, was, wie er aus der Anthropologie weiß, zum Menschen gehört, wirklich besitze, sich Kopf-, Brust- und Bauchhöhle öffnen wollte, die Spitze aller Erscheinung, in der Geist und Natur sich umarmen, durch einen zugleich barbarischen und selbstmörderischen Akt zerstört. Eine solche Philosophie erkennt sich selbst in der höheren Chiffre der Kunst nicht wieder, es kommt ihr schon verdächtig vor, daß sie dieselbe aus der von ihr mit so viel Mühe und Anstrengung zerrissenen Chiffre der Natur zusammengesetzt findet, und sie weiß nicht, woran sie sich halten soll; da stößt sie aber zu ihrem Glück im Kunstwerk auf einzelne Partieen, die (solltens unter einem Gemälde auch nur die Unterschriften des Registrators sein!) in der ihr allein geläufigen Ausdrucksweise des Gedankens und der Reflexion abgefaßt sind, weil entweder der Geist des Ganzen dort wirklich nicht zur Form durchdrang, oder weil nur eine, der[321] Form nicht bedürftige, Kopula hinzustellen war; die hält sie nun für die Hauptsache, für das Resultat der Darstellung, um das sich das übrige Schnörkelwesen von Figuren und Gestalten ungefähr so herumschlinge, wie auf einem kaufmännischen Wechsel die Arabesken, Merkur und seine Sippschaft, um die reelle Zahl, mit Eifer und Ehrlichkeit reiht sie diese Perlen, Sentenzen und Gnomen genannt, am Faden auf und schätzt sie ab; da das Resultat nun aber natürlich ebenso kläglich ausfällt, als wenn man die Philosophie nach ihrem Reichtum an Leben und Gestalt messen wollte, so spricht sie mit voller Überzeugung ihr endliches Urteil dahin aus, daß die Kunst eine kindische Spielerei sei, wobei ja wohl auch, man habe Exempel, zuweilen ein von einem reichen Mann auf der Straße verlornes Goldstück gefunden und wieder in Kurs gesetzt werde. Wer diese Schilderung für übertrieben hält, der erinnere sich an Kants famosen Ausspruch in der Anthropologie, wo der Alte vom Berge alles Ernstes erklärt, das poetische Vermögen, von Homer an, beweise nichts, als eine Unfähigkeit zum reinen Denken, ohne jedoch die sich mit Notwendigkeit ergebende Konsequenz hinzuzufügen, daß auch die Welt in ihrer stammelnden Mannigfaltigkeit nichts beweise, als die Unfähigkeit Gottes, einen Monolog zu halten.
Wenn nun aber das Drama keine geringere, als die weltgeschichtliche Aufgabe selbst lösen helfen, wenn es zwischen der Idee und dem Welt- und Menschen-Zustand vermitteln soll, folgt nicht daraus, daß es sich ganz an die Geschichte hingeben, daß es historisch sein muß? Ich habe mich über diesen wichtigen Punkt an einem andern Ort, in der Schrift: Ein Wort über das Drama, Hamburg bei Hoffmann und Campe, 1843, auf die ich hier wohl verweisen darf, dahin ausgesprochen, daß das Drama schon an und für sich und ohne spezielle Tendenz (die eigentlich, um recht geschichtlich zu werden, aus der Geschichte heraustritt, und die Nabelschnur, die jede Kraft mit der lebendigen Gegenwart verknüpft, durchschneidet, um sie an die tote Vergangenheit mit einem Zwirnsfaden festzubinden) historisch und daß die Kunst die höchste Geschichtschreibung sei. Diesen Ausspruch wird keiner, der rückwärts und vorwärts zu schauen versteht, anfechten, denn er wird sich erinnern, daß uns nur von denjenigen Völkern der alten Welt, die es zur Kunst gebracht, die ihr Dasein[322] und Wirken in einer unzerbrechlichen Form niedergelegt haben, ein Bild geblieben ist, und hierin liegt zunächst der nie zu verachtende faktische Beweis; er wird aber auch erkennen, daß der sich schon jetzt verstrengernde historische Ausscheidungsprozeß, der das Bedeutende vom Unbedeutenden, das uns völlig Abgestorbene, wenn auch in sich noch so Gewichtige, von dem noch in den Geschichtsorganismus hinüber greifenden sondert, sich immer steigern, daß er die Nomenklatur dereinst einmal bis auf die Alexander und Napoleone lichten, daß er noch später nur noch die Völker-Physiognomieen und dann wohl gar nur noch die durch die Phasen der Religion und Philosophie bedingten allgemeinsten Entwickelungs-Epochen der Menschheit festhalten, ja sogar, der Humor kommt hier von selbst, darum verzeihe man ihn, die deutschen Lyrici, die mit niemand anstoßen, der ihnen nicht vorher die Unsterblichkeit einräumt, lieblos fallen lassen wird; da nun aber die großen Taten der Kunst noch viel seltener sind als die übrigen, aus dem einfachen Grunde, weil sie eben erst aus diesen resultieren, und da sie sich deshalb langsamer häufen, so leuchtet ein, daß die Kunst in dem ungeheuren Meer, worin Welle Welle verschlingt, noch lange Baken stecken, und der Nachwelt den allgemeinen und allerdings an sich unverlierbaren, weil unmittelbar im Leben aufgehenden, Gehalt der Geschichte in der Schale der speziellen Perioden, deren Spitze sie in ihren verschiedenen Gliederungen bildet, überliefern, ihr also, wenn auch nicht das weitläuftige und gleichgültige Register der Gärtner, die den Baum pflanzten und düngten, so doch die Frucht mit Fleisch und Kern, auf die es allein ankommt, und außerdem noch den Duft der Atmosphäre, in der sie reifte, darbieten kann. Endlich freilich wird auch hier der Punkt der Unübersehbarkeit erreicht werden, Shakespeare wird die Griechen, und was nach Shakespeare hervortritt, wird ihn verzehren, und ein neuer Kreislauf wird beginnen, oder Kunst und Geschichte werden versanden, die Welt wird für das Gewesene das Verständnis verlieren, ohne etwas Neues zu erzeugen, wenn sich nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit annehmen ließe, daß dem Planeten mit dem Geschlecht, das er trägt, die schöpferische Kraft zugleich ausgehen wird. Die Konsequenzen dieses Gesichtspunktes ergeben sich von selbst, die Geschichte, insofern sie nicht bloß das[323] allmählige Fortrücken der Menschheit in der Lösung ihrer Aufgabe darstellen, sondern auch den Anteil, den die hervorragendern Individuen daran hatten, mit Haushälterin-Genauigkeit spezifizieren will, ist wirklich nicht viel mehr, als ein großer Kirchhof mit seinem Immortalitäts-Apparat, den Leichensteinen und Kreuzen und ihren Inschriften, die dem Tod, statt ihm zu trotzen, höchstens neue Arbeit machen, und wer weiß, wie unentwirrbar sich im Menschen die unbewußten und bewußten Motive seiner Handlungen zum Knoten verschlingen, der wird die Wahrheit dieser Inschriften selbst dann noch in Zweifel ziehen müssen, wenn der Tote sie sich selbst gesetzt und den guten Willen zur Aufrichtigkeit dargelegt hat. Ist nun aber solchem nach das materielle Fundament der Geschichte ein von vornherein nach allen Seiten durchlöchertes und durchlöcherbares, so kann die Aufgabe des Dramas doch unmöglich darin bestehen, mit eben diesem Fundament, diesem verdächtigen Konglomerat von Begebenheiten-Skizzen und Gestalten-Schemen, einen zweifelhaften Galvanisierungs-Versuch anzustellen, und der nüchterne Lessingsche Ausspruch in der Dramaturgie, wornach der dramatische Dichter die Geschichte, je nach Befund der Umstände, benutzen oder unbenutzt lassen darf, ohne in dem letzten Fall einen Tadel, oder in dem ersten ein spezielles Lob zu verdienen, wird, wenn man ihn nur über die Negation hinaus dahin erweitert, daß das Drama dessenungeachtet den höchsten Gehalt der Geschichte in sich aufnehmen kann und soll, in voller Kraft verbleiben, am wenigsten aber durch Shakespeares Beispiel, in dessen historischen Dramen die auf das Aparte zuweilen etwas versessene romantische Schule plötzlich mehr finden wollte, als in seinen übrigen, des größeren Gesichtskreises wegen unzweifelhaft höher stehenden Stücken, umgestoßen werden, denn Shakespeare scheuerte nicht etwa die »alten Schaumünzen« mit dem Kopf Wilhelms des Eroberers oder König Ethelreds wieder blank, sondern mit jenem großartigen Blick in das wahrhaft Lebendige, der diesen einzigen Mann nicht sowohl auszeichnet, als ihn macht, stellte er dar, was noch im Bewußtsein seines Volkes lebte, weil es noch daran zu tragen und zu zehren hatte, den Krieg der roten Rose mit der weißen, die Höllen-Ausgeburten des Kampfes und die, in der deshalb so »fromm und maßvoll« gehaltenen Person Richmonds[324] aufdämmernden Segnungen des endlichen Friedens. Wenn dies von aller Geschichte gilt, wie es denn der Fall ist, so gilt es noch, ganz besonders von der deutschen; es betrübt mich daher aufrichtig, daß bei uns, ungeachtet so viel schlimmer Erfahrungen, das Dramatisieren unserer ausgangs- und darum sogar im untergeordneten Sinn gehaltlosen Kaiser-Historien immer wieder in die Mode kommt. Ist es denn so schwer, zu erkennen, daß die deutsche Nation bis jetzt überall keine Lebens-, sondern nur eine Krankheits-Geschichte aufzuzeigen hat, oder glaubt man alles Ernstes, durch das In Spiritus Setzen der Hohenstaufen-Bandwürmer, die ihr die Eingeweide zerfressen haben, die Krankheit heilen zu können? Wenn ich die Talente, die ihre Kraft an einem auf diesem Wege nicht zu erreichenden, obgleich an sich hochwichtigen und realisierbaren Zweck vergeuden, nicht achtete, so würde ich die Frage nicht aufwerfen. Es gibt hiefür eine andere, freilich sekundäre Form, die nicht so sehr, wie die dramatische, auf Konzentration und Progression angewiesen ist, und die durch die ihr verstattete Detailmalerei ein Interesse, das sie im Volk nicht vorfindet, ohne daß das Volk darum zu schelten wäre, erwecken kann, die von Walter Scott geschaffene Form des historischen Romans, die in Deutschland keiner so vollständig ausgefüllt, ja erweitert hat, als Willibald Alexis in seinem letzten Roman: der falsche Woldemar. Auf diesen Roman, der, an Brandenburg anknüpfend, alle deutschen Verhältnisse der dargestellten wichtigen Epoche zur Anschauung bringt und Geschichte gibt, ohne sie auf der einen Seite in Geschichten aufzulösen oder auf der anderen einem sogenannten historischen Pragmatismus die Fülle des Lebens und der Gestalten zu opfern, nehme ich hier zur Verdeutlichung meiner Gedanken gern Bezug.
So viel im allgemeinen. Nun noch ein Wort in Beziehung auf das Drama, das ich dem Publikum jetzt vorlege. Der Bänkelsängerstab, vor dem Immermann so gerechte Scheu trug, widert auch mich an, ich werde daher nicht über mein Stück und dessen Ökonomie (obgleich ich einige Ursache, und vielleicht auch einiges Recht dazu hätte, denn man hat mir die Judith und die Genoveva fast auf den Kopf gestellt, man hat mir in der ersteren namentlich das Moment, worin ihr ganzes Verdienst liegt, die Verwirrung der Motive in der Heldin, ohne die sie eine Katze,[325] wenn man will, eine heroische, geworden oder geblieben wäre, und die Ableitung der Tat aus eben dieser Verwirrung, die nur dadurch eine tragische, d.h. eine in sich, des welthistorischen Zwecks wegen notwendige, zugleich aber das mit der Vollbringung beauftragte Individuum wegen seiner partiellen Verletzung des sittlichen Gesetzes vernichtende, werden konnte, zum Vorwurf gemacht, mir also geradezu die Tugend als Sünde angerechnet), ich werde nur über die Gattung, zu der es gehört, reden. Es ist ein bürgerliches Trauerspiel. Das bürgerliche Trauerspiel ist in Deutschland in Mißkredit geraten, und hauptsächlich durch zwei Übelstände. Vornehmlich dadurch, daß man es nicht aus seinen inneren, ihm allein eigenen, Elementen, aus der schroffen Geschlossenheit, womit die aller Dialektik unfähigen Individuen sich in dem beschränktesten Kreis gegenüberstehen, und aus der hieraus entspringenden schrecklichen Gebundenheit des Lebens in der Einseitigkeit aufgebaut, sondern es aus allerlei Äußerlichkeiten, z.B. aus dem Mangel an Geld bei Überfluß an Hunger, vor allem aber aus dem Zusammenstoßen des dritten Standes mit dem zweiten und ersten in Liebes-Affären, zusammengeflickt hat. Daraus geht nun unleugbar viel Trauriges, aber nichts Tragisches, hervor, denn das Tragische muß als ein von vornherein mit Notwendigkeit Bedingtes, als ein, wie der Tod, mit dem Leben selbst Gesetztes und gar nicht zu Umgehendes auftreten; sobald man sich mit einem: Hätte er (dreißig Taler gehabt, dem die gerührte Sentimentalität wohl gar noch ein: wäre er doch zu mir gekommen, ich wohne ja Nr. 32 hinzufügt) oder einem: Wäre sie (ein Fräulein gewesen usw.) helfen kann, wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial, und die Wirkung, wenn sie nicht ganz verpufft, besteht darin, daß die Zuschauer am nächsten Tag mit größerer Bereitwilligkeit, wie sonst, ihre Armensteuer bezahlen oder ihre Töchter nachsichtiger behandeln, dafür haben sich aber die resp. Armen-Vorsteher und Töchter zu bedanken, nicht die dramatische Kunst. Dann auch dadurch, daß unsere Poeten, wenn sie sich einmal zum Volk hernieder ließen, weil ihnen einfiel, daß man doch vielleicht bloß ein Mensch sein dürfe, um ein Schicksal, und unter Umständen ein ungeheures Schicksal haben zu können, die gemeinen Menschen, mit denen sie sich in solchen verlorenen Stunden befaßten, immer erst durch schöne Reden,[326] die sie ihnen aus ihrem eigenen Schatz vorstreckten, adeln, oder auch durch stöckige Borniertheit noch unter ihren wirklichen Standpunkt in der Welt hinabdrücken zu müssen glaubten, so daß ihre Personen uns zum Teil als verwunschene Prinzen und Prinzessinnen vorkamen, die der Zauberer aus Malice nicht einmal in Drachen und Löwen und andere respektable Notabilitäten der Tierwelt, sondern in schnöde Bäckermädchen und Schneidergesellen verwandelt hatte, zum Teil aber auch als belebte Klötze, an denen es uns schon Wunder nehmen mußte, daß sie ja und nein sagen konnten. Dies war nun, wo möglich, noch schlimmer, es fügte dem Trivialen das Absurde und Lächerliche hinzu, und obendrein auf eine sehr in die Augen fallende Weise, denn jeder weiß, daß Bürger und Bauern ihre Tropen, deren sie sich ebensogut bedienen, wie die Helden des Salons und der Promenaden, nicht am Sternenhimmel pflücken und nicht aus dem Meer fischen, sondern daß der Handwerker sie sich in seiner Werkstatt, der Pflüger sie hinter seinem Pflug zusammen liest, und mancher macht wohl auch die Erfahrung, daß diese simplen Leute sich, wenn auch nicht aufs Konversieren, so doch recht gut aufs lebendige Reden, auf das Mischen und Veranschaulichen ihrer Gedanken, verstehen. Diese beiden Übelstände machen das Vorurteil gegen das bürgerliche Trauerspiel begreiflich, aber sie können es nicht rechtfertigen, denn sie fallen augenscheinlich nicht der Gattung, sondern nur den Pfuschern, die in ihr gestümpert haben, zur Last. Es ist an und für sich gleichgültig, ob der Zeiger der Uhr von Gold oder von Messing ist, und es kommt nicht darauf an, ob eine in sich bedeutende, d.h. symbolische, Handlung sich in einer niederen, oder einer gesellschaftlich höheren Sphäre ereignet. Aber freilich, wenn in der heroischen Tragödie die Schwere des Stoffs, das Gewicht der sich unmittelbar daran knüpfenden Reflexionen eher bis auf einen gewissen Grad für die Mängel der tragischen Form entschädigt, so hängt im bürgerlichen Trauerspiel alles davon ab, ob der Ring der tragischen Form geschlossen, d.h. ob der Punkt erreicht wurde, wo uns einesteils nicht mehr die kümmerliche Teilnahme an dem Einzel-Geschick einer von dem Dichter willkürlich aufgegriffenen Person zugemutet, sondern dieses in ein allgemein menschliches, wenn auch mir in extremen Fällen so schneidend hervortretendes, aufgelöst wird,[327] und wo uns andernteils neben dem, von der sogenannten Versöhnung unserer Aesthetici, welche sie in einem in der wahren Tragödie – die es mit dem durchaus Unauflöslichen und nur durch ein unfruchtbares Hinwegdenken des von vornherein zuzugebenden Faktums zu Beseitigenden zu tun hat – unmöglichen, in der auf konventionelle Verwirrungen gebauten aber leicht herbeizuführenden schließlichen Embrassement der anfangs auf Tod und Leben entzweiten Gegensätze zu erblicken pflegen, aufs strengste zu unterscheidenden Resultat des Kampfes, zugleich auch die Notwendigkeit, es gerade auf diesem und keinem andern Wege zu erreichen, entgegen tritt. In dem letzten Punkt, der Erläuterung wegen werde es bemerkt, ist die Ottilie der Wahlverwandtschaften ein vielleicht für alle Zeiten unerreichbares Meisterstück, und gerade hierin, hierin aber auch allein, lag Goethes künstlerisches Recht, ein so ungeheures Schicksal aus einer an den Oedip erinnernden Willenlosigkeit abzuleiten, da die himmlische Schönheit einer so ganz innerlichen Natur sich nicht in einem ruhigen, sondern nur im allergewaltsamsten Zustande aufdecken konnte. Hiernach, zu allernächst z.B. nach dem Verhältnis der Anekdote zu den im Hintergrund derselben sich mit ihren positiven und negativen Seiten bewegenden sittlichen Mächten der Familie, der Ehre und der Moral, wäre denn auch bei meinem Stück allein zu fragen, nicht aber nach der sogenannten »blühenden Diktion«, diesem jammervollen bunten Kattun, worin die Marionetten sich spreizen, oder nach der Zahl der hübschen Bilder, der Pracht-Sentenzen und Beschreibungen, und anderen Unter-Schönheiten, an denen arm zu sein, die erste Folge des Reichtums ist. Die Erbfehler des bürgerlichen Trauerspiels, deren ich oben gedachte, habe ich vermieden, das weiß ich, unstreitig habe ich andere dafür begangen. Welche? Das mögte ich am liebsten von den einsichtsvollen Beurteilern meiner Genoveva im Vaterland und in den Blättern für literarische Unterhaltung, denen ich hier für ihre gründlichen und geistreichen Rezensionen öffentlich meinen Dank ausspreche, erfahren.
Paris, den 4. März 1844
Ausgewählte Ausgaben von
Maria Magdalene
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