3

[286] Wilhelm erzählte nun seinen Bruder, was sich mit ihm zugetragen habe. Dieser hörte ihm mit immer wachsender Aufmerksamkeit zu. Als Wilhelm geendet hatte, sagte Theodor:

»Bruder, ich will dir nicht verhehlen, daß deine Erzählung mich mit tiefstem Grausen erfüllt hat. Es ist mir, als hättest du in mir die Erinnerung entsetzlicher Träume angefacht, die ich ganz und gar vergessen hatte, obwohl sie mich erst in der Zeit deiner Abwesenheit gefoltert haben. Die seltsamen Gestalten, deren du erwähnst, sind mir im Traume nahegetreten, wie dir im Leben. Du warst nur kaum fortgegangen, als mich ein schwerer, unwiderstehlicher Schlaf befiel; ich konnte die Augen nicht offenhalten, so gern ich es auch, von sonderbarer Angst ergriffen, geht hätte.[286]

Im Traume kam es mir nun vor, als sähe ich dich im Walde auf der Erde liegen; ein kleines, widerwärtiges Männchen, welches du nicht von dir abzuwehren vermochtest, lag über dir und schrie: ›Ich will dein Auge, ich will dein Auge!‹ Ich warf mich vor dem Männchen auf die Knie und hob flehend die Hände auf; das Männchen aber rief mir drohend zu: ›Sei du nur still; er oder du!‹ In diesem Augenblick bemerkte ich einen finsteren, hageren Mann, der schon lange im Gebüsch gestanden zu haben schien, obgleich ich ihn keineswegs gesehen; dieser blickte bald hohnlachend auf mich, bald auf das Männchen; als aber das Männchen dir die Hände vom Gesicht riß, begann der Hagere es heftig zu schelten, und ich hörte dieselben Worte, die du ihn hast ausstoßen hören. Das Männchen stellte sich, als ob es weine; es schnitt mir aber, sowie der Hagere einmal wegsah, die abscheulichsten Gesichter zu und stürzte sich, sowie jener sich mit dir entfernt hatte, über mich. Es dauerte nicht lange, so kam der Hagere zurück. Ich freute mich und hoffte, er werde mich aus der Gewalt des Männchens retten; er aber warf dem Männchen einen freundlichen Blick zu und ging vorüber. Da fühlte ich einen stechenden Schmerz; zugleich aber ließ das Männchen mich los. Es jubelte und hüpfte fröhlich umher; dann stand es vor mir still und zeigte mir etwas Glänzendes. Das war mein Auge; es funkelte wunderbar im Strahl der Sonne, und, so sehr es dich befremden mag, ich sah nicht ohne Vergnügen hinein. Plötzlich kletterte oder sprang vielmehr das Männchen in einen Baum, dann entfaltete es Flügel und schwang sich auf in die Lüfte. Es war schon ganz verschwunden, da hörte ich seine heisere Stimme, ich vernahm die Worte: ›Dein Auge hab ich, jetzt mußt du mir nach!‹ Und wirklich erwachte in mir ein rasender Trieb, dem Männchen nachzueilen; ich heulte, ich schrie, ich versuchte in die Bäume zu steigen, und eine gräßliche Angst befiel mich, als es mir anfangs gar nicht gelingen wollte, hineinzukommen. Endlich gelang es mir, eine hohe Tanne zu erklettern; noch aber hatte ich den Wipfel derselben nicht erreicht, als du mit dem Hageren vorbeigingst. Der Hagere sah zu mir hinauf; dann fragte er dich, ob du hungrig seiest. Als du seine Frage mit Ja beantwortetest, zeigte er auf mich und sagte: ›Dort sitzt ein Eichhorn, das wollen wir braten.‹ Er riß mich vom Baume herunter; du betastetest mich[287] und sagtest: ›Das Tier ist fett.‹ Ich konnte lange vor Angst kein Wort hervorbringen; dann stöhnte ich: ›Wilhelm! Wilhelm!‹ ›Willst du beißen, giftiges Ding?‹ riefst du und schlugst mich auf den Mund. Jetzt zündete der Hagere ein Feuer an, du trugst selbst hurtig dürres Holz hinzu. Da kam es mir in den Sinn, ich mußte beten; laut wollte ich rufen: ›Gott im Himmel, verlaß mich nicht!‹ Aber, sowie ich die Lippen bewegte, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß ich wirklich unverständliche Töne, wie die eines Eichhorns, von mir gab und keineswegs auf meinen Füßen stand, sondern vielmehr auf behaarten Pfoten herumkroch. Nun schwanden mir die Sinne.«

Wilhelm stand nachdenklich; dann antwortete er: »Ich weiß nicht, worüber ich mich am meisten verwundern soll, ob über das unbegreifliche Zusammen treffen deines Traumes mit demjenigen, was mir mit dem Männchen begegnet ist, oder vielmehr darüber, daß es mir in diesem Augenblick vorkommen will, als müßte ich auch von einem Eichhorn etwas wissen, welches der Hagere mir gebraten und mit mir verzehrt habe.«

»Höre, Bruder«, sagte Theodor, »laß uns aus diesem Walde fliehen! So große Scheu ich ehemals vor Menschen hatte, so sehr ich vor der Möglichkeit, mit ihnen zusammenzukommen, zitterte, so groß ist jetzt mein Verlangen, mich zu ihnen zu flüchten.«

»Ging da nicht der hagere Mann vorbei,« rief Wilhelm. Da hörte er auf dem Hausflur ein Gewinsel und tiefes Seufzen.

»Wilhelm, was war das,« sagte Theodor ängstlich.

»Laß uns hinausgehen und zusehen!« entgegnete Wilhelm.

»Nein, um keinen Preis!« erwiderte Theodor.

»So gehe ich allein!« versetzte Wilhelm; »es ist ja noch hell.«

Er öffnete die Tür. Ein altes, sieches Weib, welches an Krücken ging und sich kaum aufrechterhalten konnte, streckte ihm die ausgedörrte Knochenhand entgegen und bat ihn um Speise und Trank. Dies war die zweite Bettlerin, die Wilhelm in seinem Leben sah; einmal, vor vielen Jahren, hatten seine Eltern eine Zigeunerin beherbergt und wohl bewirtet. Ihn jammerte das alte Weib, und mit großem Schmerz erinnerte er sich seiner grenzenlosen Dürftigkeit; sie wiederholte ihre Bitte, da antwortete er ihr:[288] »Ich habe nichts als einen Trunk Wasser; den könnt Ihr bekommen!«

»Keinen Bissen Brot? kein Stücklein Fleisch;« fragte sie unter jämmerlichen Gebärden.

»Nichts, nichts!« erwiderte er.

»Willst du mir geben, was du hast;« fuhr sie fort.

»Ich sage dir, daß ich nichts habe!« versetzte er.

»Du hast doch einen Bruder«, entgegnete sie, »überlaß mir den Bruder!«

»Weib, entsetzliches Weib, was willst du mit meinem Bruder;« rief Wilhelm und trat einen Schritt zurück.

»Menschenfleisch schmeckt süß!« antwortete die Alte und wollte in die Stube. Wilhelm aber ergriff den im Winkel stehenden ehemaligen Handstock seines Vaters, der mit Eisen beschlagen war, und versetzte dem häßlichen Weibe damit einen heftigen Schlag auf den Kopf. Das Weib fiel mit einem dumpfen Schrei zu Boden; sie lag unbeweglich. Kalte Schauder durchrieselten Wilhelm, er hoffte, sie sollte wieder aufstehen, er warf den unseligen Stock von sich, er kauerte sich neben die Alte hin, er beugte sich über sie, und als er bemerkte, daß sie keinen Atem mehr hatte, daß ihre Gesichtszüge sich mehr und mehr verzerrten, ergriff ihn eine entsetzliche Angst, er fühlte, daß er einen Menschen getötet habe, und vermochte kaum, sich wieder vom Boden zu erheben. Plötzlich klopfte ihm jemand von hinten auf die Schultern; als er sich umsah, bemerkte er den hageren Mann, der sich an die Wand gelehnt und, wie es schien, ihn schon lange betrachtet hatte. Da erinnerte sich Wilhelm jenes Tranks, durch den sein Bruder genesen war, und dringend bat er den Hageren um den Becher. Der aber lachte und meinte, Wilhelm sei ein gar zu großer Tor, wenn er glaube, daß er den Becher beständig bei sich führe.

»So hole ihn«, schrie Wilhelm, »du mußt ihn holen!«

»Ich habe keine Zeit« entgegnete der Hagere, »ich muß Steine sammeln. Du siehst, dem Bruder zu Gefallen bist du ein Mörder geworden; nun, was tuts? Einem Mörder schmeckt Fleisch und Brot so gut, wie jedem anderen!«

»Ein Mörder, ja ein Mörder!« wiederholte Wilhelm dumpf und schwieg dann lange. Der Rabenstein, von welchem die Mutter[289] ihm oft in langen Winterabenden erzählt hatte, wenn er den Bruder in heftigem Jähzorn gescholten oder geschlagen, schwankte in schaurigen Umrissen an seiner Seele vorüber.

»Du kannst ja die Toten auferwecken«, sagte er darauf furchtsam zu dem Hageren, »wecke diese auf!«

»Über diese hab ich keine Macht«, antwortete der Hagere, »bloß Menschen kann ich ins Leben zurückrufen, diese ist kein Mensch.«

In demselben Augenblick kam es Wilhelm, der einen trostlosen Blick auf die Alte warf, vor, als ob sie sich bewegte. Er sah abermals hin und hatte sich nicht getäuscht, sie bewegte sich wirklich. Doch, ihre Augen hatten sich in Vogelaugen verwandelt, ihre Arme waren zu Flügeln geworden, und mit einem häßlichen Geschrei schwang sie sich auf in die Lüfte.

»Nun muß sie tausend Jahre in Sturm und Regen, in Hagel und Schnee durch die Wolken irren«, sagte der Hagere, »eh sie ihre vorige Gestalt wieder annehmen darf Knabe, du hast viel an ihr verschuldet!«

Wilhelm aber antwortete: »Diesen großen Vogel, der eben an uns vorbeihuschte, habe ich schon einmal im Traume gesehen!«

»Ich weiß, ich weiß«, versetzte der Hagere, »das war vor acht Tagen!«

»Du weißt?« fragte Wilhelm, »du weißt, was ich träume? Wer bist du denn?«

Der Hagere berührte unter seltsamem Lächeln mit seiner Hand die Wand. Da tat diese sich auf, und Wilhelm sah in eine Welt hinein, die sich von derjenigen, die einst an ihm vorübergezogen war, aufs bestimmteste unterschied, und die dennoch seine Seele ergriff. Einst waren es harmlose Erscheinungen und phantastische Gestalten, die ihn mehr neckten als angezogen, und vor denen er in ihrer Ungeheuerlichkeit zurückbebte; jetzt aber waren es Menschen, verwandte, aber glücklichere Wesen, in deren Verhältnisse er einen Blick tat, und die er beneidete. Da sah er Könige in ihrer Pracht und rotwangige Pagen, von welchen sie bedient wurden; tapfere Krieger auf ihren mutigen Rossen, die sich in den Kampf stürzten; ernste Gelehrte in ihrer einsamen Kammer, mit Augen wie Blitze und Worten wie Donner; Kaufleute, Reisende,[290] Künstler, und in seiner Brust erwachte zum ersten Male das schlummernde Selbstbewußtsein, er fühlte die Kraft in sich, zu werden, was jene waren; auch begriff, er wieviel er in den Jahren, die ihm im Walde nutzlos verschwanden, für ein glänzendes Ziel, welches ihm in weiter Ferne vor der Seele stand, hätte tun können, und der tiefste Unmut erfüllte ihn. Auf einmal erblickte er eine Jungfrau; leuchtend in prangender Schönheit, siegend, wo sie erschien, schritt sie daher. Könige und Fürsten neigten sich vor ihr; das Geräusch des Kampfes verstummte, wo sie sich nahte. Wilhelm war es, als hätte er jetzt den Zusammenhang aller Dinge erfaßt; die Schönheit erschien ihm als der ewige Pol, um den alle Erscheinungen des Lebens sich in rastlosem Kreislauf bewegten; jetzt wußte er, warum die Blume nur dann duftet, wenn sie im vollen Glanz ihrer Farben dasteht, warum der Vogel nur dann singt, wenn sein Gefieder sich entfaltet hat; er ahnte eine tiefe, innige Verbindung zwischen Sein und Gestalt; er war überzeugt, daß in dem Augenblicke, wo die Jungfrau sich niederlegen würde zum ewigen Schlaf, Himmel und Erde zusammenstürzen und alles, was lebt, mit ihr zugleich den Tod erleiden müsse; er selbst aber, glaubte er, würde sterben, sobald er sein Auge von der Herrlichen verwandte. Da trat ein Maler hervor mit Pinsel und Palette und zeichnete ihr Bild auf ausgespannter Leinwand; die Jungfrau belohnte ihn mit einem Blumenkranz. Ein Dichter sang seine Liebe in feurigen Gesängen; sie belohnte ihn mit einer Träne. »Und ich? und ich? was kann ich für sie tun?« schrie Wilhelm in rasender Verzweiflung.

»Du könntest sie aus einer Todesgefahr erretten«, sagte der Hagere, »und das würde sie mit einem Kusse belohnen; aber du wirst es nicht tun!«

»Ich werde es tun, ich muß es tun!« wollte Wilhelm antworten, aber er stieß bloß einen unverständlichen Schrei aus, denn er sah wie ein schöner Jüngling auf die Jungfrau zuschritt, wie sie die Arme gegen ihn ausbreitete und an ihre Brust zog. Einen Augenblick stand Wilhelm bewegungslos da, dann ballte er die Hand und wollte sich auf den Jüngling stürzen. Doch, sobald er einen Schritt vorwärts tat, rannte er heftig mit dem Kopf gegen die Wand, die sich auf einmal wieder zwischen ihm und jener bunten Welt auftürmte. Sprachlos schaute Wilhelm sich nach dem[291] hageren Manne um, der ihm durch ein Gelächter zu erkennen gab, daß er noch anwesend sei.

»Wo ist sie geblieben?« rief er dann aus.

»Bei dem Jünglinge, hasts ja gesehen!« versetzte der Hagere, noch immer lachend.

»Ich muß aber zu ihr!« rief Wilhelm aus.

»Das geht nicht sogleich«, antwortete der Hagere, »dazu bedarfs noch einer Kleinigkeit!«

»Wessen bedarf es?« fragte Wilhelm heftig.

»Du hast nicht länger Zeit«, entgegnete der Hagere, »dein Bruder wartet; er hat dir etwas zu sagen. In der Christnacht sehen wir uns wieder in der Stadt Hamburg.«

»Wo liegt Hamburg?« fuhr Wilhelm fort.

»Du wirst den Weg schon finden!« sagte der Hagere und schritt aus der Tür, die er hinter sich zuwarf, daß alle Pfosten der Hütte erzitterten.

Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 3, München 1963, S. 286-292.
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