[298] Theodor erholte sich bald wieder und stand früher vom Boden auf als Wilhelm, der sich neben ihm hingekauert hatte und tief in die tolle Zauberwelt versunken war, die ihn auf jedem seiner Schritte zu verfolgen schien. Er dachte sich, durch die gespenstische Stimme im Innersten erschüttert, lebhaft, wie es sein müsse, wenn er nun plötzlich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in einen Vogel verwandelt würde und die unendlichen Räume des Himmels, die er jetzt nicht ansehen konnte, ohne zu schwindeln, in rastlosem Fluge durcheilen müßte; ihm war, als sähe er schon aus den Wolken auf steile Felsen und brausende Meere hinunter; Entsetzen ergriff ihn, wenn er hinabsah, und größeres Entsetzen, wenn er den Blick in die ewige Höhe erhob; ein Adler rauschte mit raubgierigen Fängen auf ihn hernieder, und wie er, um diesem gefährlichen Feinde zu entgehen, sich auf einen Baum herniedersenkte, gewahrte er die mörderische Flinte eines Jägers, die auf ihn gerichtet war. Je größer die Angst war, mit welcher diese ungeheuren Bilder seiner Phantasie ihn erfüllten, um so fluchwürdiger erschien ihm der Mord, den er an der Alten begangen hatte. Er rief sich verzweifelnd zu: »Du hast die Gebote des Herrn übertreten und bist verflucht auf immerdar!« Er schlug sich mit der geballten Faust ins Gesicht und zerraufte sich das Haar.
»Mein Gott, Bruder, was fehlt dir:« rief Theodor, indem er den Arm um Wilhelms Nacken schlang und ihn zu beruhigen suchte, »träumst du?«
Wilhelm wurde durch diese Worte einigermaßen wieder zur Besinnung gebracht; er stand auf und strich sich, wie man zu[298] tun pflegt, wenn man aus einem ängstlichen Traume erwacht, die Haare aus dem Gesicht.
»Siehst du«, fragte ihn Theodor nach einer Pause, »jenes sonderbare, dreibeinige Ding und den dunklen Gegenstand, der darin hängt, und mit dem der Wind zu spielen scheint?«
Wilhelm verfolgte mit seinem Auge die Richtung, welche Theodor ihm angab.
»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, entgegnete er nach langem Stillschweigen, »wir wollen näher darauf zugehen.«
Dies geschah; sie hatten aber kaum einige Schritte getan, als ihnen ein Mann begegnete. Wilhelm faßte sich ein Herz und fragte diesen, indem er auf das seltsame Gebäude, welches aus drei zusammengestellten Bäumen zu bestehen schien, zeigte, was es vorstelle.
»Das ist der Galgen«, war die Antwort, »an den sie den Wilddieb gehängt haben, von dem die Rede geht, daß die Krähen ihn nicht anrühren, daß er nicht verwest, und daß, sooft sie ihn auch abnehmen und verscharren, er in der nächsten Nacht immer wieder aus dem Grabe hervorsteigt und seinen alten Platz ein nimmt.«
»Der Galgen!« wiederholte Wilhelm und starrte den Mann an.
»Hüte dich, daß du nicht daran gehängt wirst!« sagte dieser, den es verdroß, daß die Knaben ihn mit ihren Fragen aufhielten, und ging vorüber.
»Wilhelm, Wilhelm!« sagte Theodor, »wie konntest du den fremden Menschen anreden!«
»Daran müssen wir uns wohl gewöhnen!« entgegnete Wilhelm und schwieg dann wieder. Ohne zu wissen, was er tat, näherte er sich dem Galgen mehr und mehr, und Theodor folgte ihm, obgleich er sich sehr fürchtete.
Nun standen sie am Fuße des Galgens. Wilhelm sah hinauf und wäre vor Entsetzen fast zu Boden gesunken, als er bemerkte, daß es der Körper des langen, hageren Mannes war, der schaurig im Winde hin und her schwankte. In diesem Augenblicke setzte sich der Vogel, in den die Alte sich verwandelt hatte, auf den Galgen und schrie herunter: »Mörder! Mörder!« Da reckte der Tote seinen Arm aus und berührte mit den steifen, ungelenken Fingern den häßlichen Vogel. Der Vogel dockte sich und gab Wehlaute von[299] sich, die Wilhelm das Herz zerrissen; dann erhob er sich, laut schreiend, in die Lüfte. Der Arm des Toten fiel schlaff am Körper nieder, nachdem dieses geschehen war, und der Mond schien hell in das blasse Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem blauen, zusammengebissenen Munde.
Wilhelm stand regungslos. So sehr hatte ihn nicht der plötzliche Tod der Alten, nicht die heisere Stimme des Vogels durchschauert, als dieser Anblick. Also auch der Hagere war tot. Ihm war, als wären Himmel und Erde vergangen, und als wäre er allein von allen Menschen übriggeblieben, das letzte Leben in einer unendlichen Einsamkeit. Und wie er sich in diesen Gedanken mehr und mehr vertiefte, verwechselten sich in ihm die Begriffe von Tod und Leben wunderbar; er glaubte in einem dumpfen Traume vor der Geburt zu liegen; noch hatten die Elemente Macht über ihn, von denen er genommen war: die Erde, das Feuer, die Luft und das Wasser; auch war er nicht ganz getrennt von der Masse, dem ungeheuren Inbegriff alles Entstehens und Vergehens, er fühlte an sich das Rauschen des Windes, die Glut der Sonne, das Brausen des Meeres und die geheimen Wehen der Erde; ihn drückte das All, weil er des elektrischen Schlages harrte, der ihn, als abgesondertes Wesen, davon losreißen sollte. Da hörte er einen süßen Klang, der immer heller und heller wurde und sich zuletzt in den sanften Ruf einer melodischen Mädchenstimme: »Wach auf, Wilhelm!« auflöste, und das Bild jenes Mädchens, welches der Hagere ihn in der Hütte hatte sehen lassen, ging wieder vor ihm auf in strahlendem Liebreiz. »O, wo bist du! wo bist du!« rief er aus; da faßte ihn Theodor, der bisher starr gestanden hatte, bei der Hand und sagte leise: »Hier bin ich, lieber Bruder!« Wilhelm aber stieß ihn zurück, und rief: »Ich muß sie sehen, ich muß zu ihr!«; in demselben Augenblick fiel sein Blick auf den Galgen, und sein Blut gerann wieder zu Eis.
»Du wirst sie niemals wiedersehen«, sagte er dumpf vor sich hin, »denn der hagere Mann ist tot.«
Da fiel ihm ein, daß seine Mutter ihm oft von Menschen erzählt hatte, die ein Bündnis mit dem Teufel gemacht und dadurch alles erlangt hätten, was ihr Herz begehrt habe, und er wünschte sehnlichst, daß der Teufel ihm erscheinen möchte. Zwar erbebte seine Seele in ihren innersten Tiefen, als er sich[300] diesen Wunsch zum ersten Male zu gestehen wagte; doch er dachte an seinen Mord und daran, daß er von Gott ja doch verstoßen sei; das Bild des Mädchens trat immer deutlicher vor seine Phantasie und erfüllte ihn mit Vergessen seiner selbst, und, zitternd vor Wonne, unfähig, länger zu widerstehen, faltete er rückwärts die Hände und rief dreimal mit lauter Stimme: »Teufel, erscheine!«
Theodor, als er dieses hörte, fiel bewußtlos zu Boden; von dem Galgen herunter scholl es aber: »Ich habe dir gesagt, daß du mich vor Weihnachten nicht siehst!«
Die Stimme kam von dem Toten, obgleich er die Augen nicht aufschlug und die Lippen nicht bewegte; Wilhelm stürzte ohnmächtig neben seinem Bruder hin, als er dieses bemerkte.