6

[301] Als am andern Morgen die Sonne aufging, standen die beiden Knaben unter einem Baume, der schauerlich öde über ihnen rauschte. Theodor hauchte sich auf die Fingerspitzen, um diese zu erwärmen; Wilhelm starrte mit trüben, ausgebrannten Augen in den Himmel hinein. Der Baum stand an einer Landstraße, Menschen gingen vorüber, die sie mit neugierigen Augen betrachteten; in der Ferne lag ein einsames Haus.

»Ach, Wilhelm«, sagte Theodor, »wie freu ich mich, daß diese Nacht vorüber ist.« »Alles wird vorübergehen«, antwortete Wilhelm mit matter Stimme, und Tränen flossen ihm über die Wangen; »alles, alles!«

»Gottlob!« entgegnete Theodor, »daß du einmal wieder sprichst; seit den entsetzlichen Worten, in welchen du den Bösen anriefst, hast du den Mund nicht wieder geöffnet. Ach, Wilhelm, warum tatest du das! Ich glaubte schon, daß Gott dir für deine entsetzliche Lästerung die Zunge gelähmt hätte und wenn ich dir ins Auge sehe, so fürchte ich mich vor dir!«

»Geh von mir, Bruder!« sagte Wilhelm, »geh! geh!«

»Niemals, niemals, teurer Bruder!« erwiderte Theodor und umschlang ihn.

»Tu es!« rief Wilhelm und entwand sich seinen leidenschaftlichen[301] Umarmungen, »verlaß mich auch, wie Gott mich verlassen hat.«

»Das hat er nicht«, versetzte Theodor lebhaft, und höhere Glut färbte seine Wangen; »weißt du nicht mehr, was Mutter uns sagte, daß die heiligen Engel uns auf allen unseren Wegen umschweben?«

»Sie haben mich in dieser Nacht nicht umschwebt!« antwortete Wilhelm und schauderte zusammen.

»Nein, nein!« fuhr er nach einer Pause fort, »ich bin von Gott verlassen!«

»Das kannst du nicht sein«, entgegnete Theodor, »ich fühl es.«

In diesem Augenblicke öffnete sich in dem oben erwähnten Hause eine Tür, eine Frau trat heraus und ging auf die Knaben zu. Sie war in den mittleren Jahren, sah freundlich, aber sehr traurig aus, und bot den Knaben mit wohlklingender Stimme einen guten Morgen. Sie betrachtete sie einige Minuten; dann sagte sie:

»Wer seid ihr, liebe Kinder, und wo wollt ihr hin?«

»Wir haben unsere Eltern verloren und sind auf der Reise nach Hamburg«, versetzte Wilhelm.

»Gerechter Gott!« entgegnete die Frau mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens, »ihr wollt nach Hamburg, welches über acht Meilen von hier entfernt ist,«

»So weit?« fragte Theodor, der erst scheu und ängstlich sich zurückgetreten war, den das herzliche Entgegenkommen der freundlichen Frau aber bald vertraulich gemacht hatte.

»Liebe Kinder«, versetzte die Frau, »wie wollt ihr nach Hamburg kommen in dieser rauhen Jahreszeit! Habt ihr denn keinen Freund, keinen Verwandten, der euch begleiten könnte, oder er wartet euch in Hamburg ein liebender, teilnehmender Kreis?«

Wilhelm wollte antworten, doch die Frau unterbrach ihn, in dem sie sagte:

»Es ist unrecht, daß ich euch hier draußen so lange stehenlasse in der strengen Kälte; kommt mit herein in mein Haus, die Stube ist warm, und ein Frühstück soll euch schmecken, wie ich denke. Ich habe schon eine Weile euch von meinem Fenster aus betrachtet, und das innige Mitleid, welches ich mit euch und hauptsächlich mir dir (dies sagte sie zu Theodor), der du meinem[302] kürzlich verstorbenen Sohne so ähnlich siehst, empfand, trieb mich heraus. Drinnen könnt ihr mir auch erzählen!«

Sie ging voraus, und die Knaben folgten ihr in ihr Haus. Die Frau bereitete ihnen ein Frühstück; Wilhelm genoß nur wenig davon, Theodor ließ es sich desto besser schmecken.

Jetzt erzählte Wilhelm alles, was sich seit dem Tode seiner Eltern mit ihm und seinem Bruder zugetragen hatte. Die Frau hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn durch voreiliges Bezeugen von Beifall oder Mißfallen zu unterbrechen oder auch nur durch eine Miene, die ihr Urteil im voraus hätte erraten lassen, zu stören. Sie befolgte hierin ein Gebot der Humanität, welches am häufigsten übertreten wird und dennoch das heiligste von allen ist, so daß es auch gegen den Sünder niemals vernachlässigt werden sollte. Das Leben ist wie eine Freskomalerei, in seinen Einzelheiten leer, widerwärtig und unharmonisch; wer es nicht als Ganzes in sich aufzunehmen strebt, wird es schwerlich begreifen. Es ist so unendlich leicht, den Menschen zu vergöttern oder zu verdammen, wenn man ihn als das Produkt der Stunde betrachtet; man bedenke, daß auch die Seele ihre Jahreszeiten hat, die sich bloß dadurch von den äußeren Jahreszeiten unterscheiden, daß jeder wiederkehrende Winter die geheimnisvolle Geburtsnacht eines schöneren Sommers ist. Welch ein Unglück für den Baum, wenn man ihn nach seiner Armut im Winter beurteilen wollte! Was aber im allgemeinen über das Leben gilt, das gilt auch über seine einzelnen Momente, insofern diese wieder als Resultate einer langen Kette von mehr oder minder gewichtigen Augenblicken ein Ganzes ausmachen. Jede wirkliche Tat ist die Wiege oder der Leichenstein einer geistigen Epoche; unser Auge aber dringt nicht in Wiegen und Särge. Das freie Bekenntnis, wie es einer edlen Brust in Stunden der Rührung oder der Liebe entströmt, ist der Auferstehungsengel für die geistigen Toten und der Wahrsager für die geistigen Säuglinge; o, wie grausam, den Menschen in diesem reinsten Ergusse seiner Individualität, der ihm oft das tiefste Bedürfnis sein kann, zu stören!

Als Wilhelm geendet hatte, schwieg die Frau, in Nachdenken verloren, noch eine ganze Weile still. Dann sah sie den Knaben ernst an und fragte ihn, was er über sich denke.

»Ich denke«, entgegnete Wilhelm, »daß ich der unglücklichste[303] aller Menschen bin. Mir ist, als ob ich mich in einer einsamen Wüste befände, die keinen Ausgang hat.«

Ach, er hatte recht! Die tollen Zauberkreise, in die er geraten war, hatten ihm alles, alles geraubt. Der Gedanke an seine Eltern war ihm peinlich; er konnte die kalten, gleichgültigen Blicke, welche sie, als luftige Phantome der Gespensterwelt, auf ihn geworfen hatten, nicht vergessen, und durch diese Blicke war die schmerzliche Erinnerung an den Vorzug, der seinem Bruder bei ihren Lebzeiten immer von ihnen erteilt wurde, lebhafter als jemals in ihm aufgeregt worden. Er liebte seinen Bruder nur noch deswegen, weil er ihn nicht zu hassen vermochte; er konnte sich eines Grolls gegen ihn nicht erwehren, wenn er sich es gleich nicht verhehlte, daß dieser Groll ein völlig ungerechter sei. Hieraus entsprang wieder eine grenzenlose Verachtung seiner selbst, und aus dieser jene gänzliche Erschlaffung, die sich vorzugsweise einer starken, kräftigen Natur bemeistert und sie bis in ihre innersten Tiefen hinein zerstört. Hätte nicht ein solcher Zwiespalt seine Brust zerrissen, so würden die Schauer der letzten Nacht, die an jedem Grundpfeiler seines Wesens gerüttelt und das Band, welches zwischen Leib und Seele besteht, fast gelöst hatten, elektrisch auf seine Kräfte gewirkt und ihn nur darum zerschmetternd durchzuckt haben, um ihn zu erheben. Jetzt aber ging es ihm, wie dem Scharbockkranken; träumend, schlafend, taumelte er dem Abgrunde entgegen; Wonne war es für ihn, hineinzustürzen; er strengte sich an, das Bild des Mädchens, welches durch die Verbindung, worin es zu dem Hageren, der sich als Teufel offenbart hatte, zu stehen schien, in dunkle Nebel verhüllt war und nur noch wetterleuchtete, in der alten, verlockenden Gestalt hervorzurufen; kurz, er verübte jene gräßlichste Art des Selbstmords, die aus jeder Minute eine Pistole und aus jedem Gedanken oder Gefühl eine vergiftete Kugel macht.

»Du bist unglücklich, ja«, versetzte die Frau, »wohl dir, daß du nicht ebenso schuldig bist! Aber dieser Augenblick wird dich lossprechen oder verdammen; fasse ihn wohl in seiner Bedeutung für dich! Du bist zur Erkenntnis gekommen, deine Erzählung zeigt es mir; was bisher geschehen ist, kann und muß vergeben werden; doch von jetzt an bist du für jeden deiner Schritte verantwortlich, und jeder ist entscheidend!«[304]

Wilhelm schwieg lange Zeit; endlich sagte er:

»Ich verstehe nicht, was du meinst!«

»Du wirst es fühlen«, entgegnete die Frau, »wenigstens in derselben Stunde, die dir den Zweifel bringt. Dein Herz sei deine Wünschelrute!«

Die Frau ging in die Küche; als sie nach einer Weile wieder hereinkam, nahm sie den kleinen Theodor auf den Schoß und fragte ihn, ob er wohl bei ihr bleiben möge?

»Du bist«, erwiderte der Knabe, »so freundlich gegen mich, daß ich mich fast fürchte, dich wieder zu verlassen.«

Wilhelm sah ihn von der Seite mit einem finsteren Blicke an. Die Frau bemerkte dieses nicht, sondern sagte:

»In der Tat, liebe Kinder, ich habe so viel, daß ich euch zu essen geben kann, und will euch Mutter sein!«

Wilhelm antwortete ihr nicht; Theodor streichelte ihr die Wangen.

Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 3, München 1963, S. 301-305.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon