[305] Die Frau fühlte zu tief, um dem Zuge ihres Herzens zu folgen; sie ließ es Wilhelm daher auf keine Weise merken, daß sie ihm seinen Bruder vorziehe, und der Tag verstrich unter den heitersten Beschäftigungen, in die sie die Knaben einführte. Am Abend wies sie ihnen in einer Kammer ein reinliches Bett zum Schlafen an, sagte ihnen dann gute Nacht und legte sich darauf, nachdem sie vorher noch im ganzen Hause nach den Türen gesehen hatte, selbst zur Ruhe. Kaum aber war es still geworden, als Wilhelm wieder aufstand und sich eilig ankleidete; die Freundlichkeit der Frau erdrückte ihn, weil er sich bewußt war, sie nicht verdient zu haben, und die Nacht, die ohnehin alles Leben, was sie nicht durch Traum und Schlummer zu beschwichtigen vermag, zu gedoppelten Flammen aufregt, reizte ihn unwiderstehlich mit ihren phantastischen Wolkenbildern, die im bleichen Mondlicht am Himmel dahinzogen, und mit den ersten dumpfen Akkorden eines anbrechenden Sturmes. Es gibt körperliche Wunden, aus denen der Mensch zweimal bluten muß, wenn sie nicht tödlich werden sollen, er pflegt dieses zu fühlen und sie in fieberhafter Angst aufzureißen, wenn sie sich eben schließen wollen; dann[305] sinkt er ohnmächtig zurück, aber, wenn er wie der erwacht, fließt das Blut, welches schon vergiftet war, ihm rein und gegeläutert durch die Adern, und frische Lebenskraft hüpft in allen seinen Pulsen. So gibt es auch geistige Wunden, die tödlich sind, weil sie nicht tief genug sind; und wenn Wilhelm, der der Versuchung, den Hageren noch einmal zu sehen, nicht widerstehen konnte, auch wohl ahnte, daß ihm irgendein Ungeheures entgegentreten werde, so mochte doch diese Ahnung von der geheimen Hoffnung, daß größere Krankheit ihn zur Gesundheit führen müsse, begleitet sein. Der Mensch ist oft sein Arzt, wenn er sein Mörder zu sein scheint.
Wilhelm öffnete leise das Fenster der Kammer, welches auf die Landstraße hinausging, und wollte hinaussteigen. Er hatte beschlossen, seinen Bruder nicht zu wecken, da er erkannte, daß dieser in einen Kreis gekommen war, der sich für seine Kräfte und seine Neigungen vollkommen eignete. Schon war er hinausgestiegen und hatte das Fenster wieder angelehnt, als es ihm mit einem Male schwer aufs Herz fiel, daß seine heimliche Entfernung den Bruder im tiefsten verletzen, ja, ihm den heiteren Seelenfrieden, den er sich, wie Wilhelm, nachdem er den seinigen verloren, mit Klarheit fühlte, rein und ungetrübt bewahrt hatte, auf lange Zeit rauben könne. Schnell stieg er wieder hinein und trat zu Theodor ans Bett. Der Mond schien hell in die Kammer.
Es gibt wohl nichts, was das Herz inniger bewegte, als der Anblick eines Schlafenden. Wenn der Mensch schläft, so ist er wieder, was er sein soll, das Meisterstück der Natur, in welchem die Endpunkte der Schöpfung zusammenlaufen. Dann sind es nicht die Schlagschatten der Sorge, die sich auf dem in ruhiger Schönheit dahingegossenen Angesicht abspiegeln, dann ist es nicht der trübe Widerschein verzehrender Leidenschaften, der sich in seinen Zügen bricht; es sind die Gedanken der ewigen Mutter selbst, die sie in geheimer Hieroglyphenschrift an dem Telegraphen, durch den sie mit der Gottheit korrespondiert, ausdrückt; es sind ihre verborgensten Regungen, die Zuckungen, die einer Weltrevolution voraufgehen; sie ist wie ein Musikmeister, der sich eine Harmonika erbaut hat und sie um Mitternacht in einsamer Begeisterung spielt. Wilhelm stand lange in tiefem Schweigen vor dem Bette seines[306] Bruders. Dann war es ihm, als hätte er ihm großes Unrecht getan; er mochte erkennen, wie dies in einzelnen, seltenen Augenblicken geschieht, was sein Bruder sei; der ganze reiche Frühling, der sich in dieser anspruchslosen, schlichten Natur still, aber unaufhaltsam vorbereitete, mochte ihn berühren in magnetischem Gruße. Das Herz floß ihm über, er beugte sich in tiefster Rührung über Theodor hin und sagte: »Leb wohl, lieber Bruder!«
Theodor erwachte; er erstaunte nicht wenig, als er Wilhelm, der sich mit ihm zur Ruhe niedergelegt hatte, völlig angekleidet vor sich stehen sah; er fragte »Was willst du, Wilhelm?«
»Ich will fort«, war Wilhelms Antwort, »es duldet mich hier nicht!«
»Wilhelm«, erwiderte Theodor nach einer langen Pause, »ich zittere für dich. Erinnerst du dich nicht mehr der warnenden Worte unserer freundlichen Wirtin? Sie waren mir dunkel; aber mir ist, als ob ich in diesem Augenblicke ihren Sinn verstehe.«
»Leb wohl, Theodor!« rief Wilhelm unmutig und ging zum Fenster.
»Nein, Bruder«, versetzte Theodor, indem er aus dem Bette sprang und sich ankleidete, »wohin du auch gehst, ich begleite dich. Aber, warum sagtest du es der Frau nicht sogleich, daß du nicht bei ihr bleiben wolltest?«
Wilhelm verstummte und errötete. Nach einigen Minuten sagte Theodor: »Jetzt bin ich fertig, wir können gehen!« »Wohlan!« erwiderte Wilhelm und stieg aus dem Fenster. Theodor folgte, aber nicht, ohne einen letzten, wehmütigen Blick auf das Haus, welchem sie so liebreich aufgenommen worden waren, zu werfen.
Trotz ihrer Unbekanntschaft mit den Landstraßen, trotz der großen Ungemächlichkeiten des Winters kamen die Knaben dennoch in verhältnismäßig kurzer Zeit in Hamburg an. Wie war ihnen, als sie in diese Stadt, in welcher der Handel eines Weltteils sich konzentriert, eintraten! Jeder Mensch ein Zauberer, jedes Haus ein Wunder; alles blendend und unbegreiflich. Und doch fanden sie bald einen Verknüpfungspunkt zwischen ihrer ehemaligen und ihrer jetzigen Umgebung; die ungeheure Stadt, von der sie weder Anfang noch Ende sahen, wirkte ganz auf sie, wie der große, undurchdringliche Wald, in welchem sie aufgewachsen[307] waren; die schwindelndhohen Häuser erinnerten sie unwillkürlich an die majestätischen Bäume mit ihren dunkeln, geheimnisvollen Kronen, und die unendliche Menschenmasse in ihrem Auf- und Abfluten und ihrem ewigen Geräusch an das Gewühl des Laubes und an den brausenden Wind, der es unaufhörlich bewegt und verändert.
Sie durchwanderten die Straßen ohne Plan und Zweck; plötzlich standen sie vor der Petrikirche. Staunend sahen sie zu dem in die Wolken hineinragenden, schlanken Turm hinauf Ein ältlicher Herr ging eben über den Kirchhof, Wilhelm trat auf ihn zu und fragte ihn nach der Bedeutung des gewaltigen Gebäudes.
»Es ist«, antwortete der Herr mit Freundlichkeit, während er die Knaben aufmerksam betrachtete, »das älteste Gotteshaus in dieser Stadt und vor mehr als tausend Jahren erbaut!«
»Ein Gotteshaus!« wiederholte Wilhelm verwundert, und gab durch den Ausruf zu erkennen, daß er zum ersten Male von einem Gotteshause höre und keinen Begriff damit zu verbinden wisse.
»Dies ist das Haus«, fuhr der Herr fort, »in welchem wir alle, arm oder reich, jung oder alt, uns versammeln, um demjenigen, von dem wir alles haben, was uns auf Erden zuteil geworden ist, für seine Güte und Liebe zu danken.«
»O, wie gern möchte ich einmal hineintreten!« sagte Theodor schüchtern.
»Das kann heute«, erwiderte der Herr und klopfte Theodor auf die Wange, »nicht geschehen; aber morgen feiern wir das Geburtsfest unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, dann ist es jedem geöffnet.«
Wilhelm zuckte zusammen. »So ist ja heute Weihnachtsabend!« versetzte er hastig.
»Ja, freilich«, erwiderte der Herr; »aber wer seid ihr, liebe Kinder, daß ihr das nicht wißt, was man in eurem Alter niemals zu vergessen pflegt?«
»Wir kommen aus der Fremde«, entgegnete Wilhelm, »und sind hier unbekannt.«
»Arme Kinder!« versetzte der Herr, »was wollt ihr denn in Hamburg anfangen? Ich wollte, daß ich euch –«[308]
Er unterbrach sich, langte aber in die Tasche und drückte Theodor ein großes Stück Geld in die Hand. Dann ging er fort.
»Gott verläßt uns nicht, Wilhelm«, sagte Theodor, tief gerührt, »weißt du noch, wie unser Vater sich freute, wenn er zuweilen solch einen Taler nach Hause brachte?«
Wilhelm antwortete ihm nicht; er hatte sich an die Mauer der Kirche gelehnt und war in Gedanken versunken.
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