Der Sperling am Fenster
1

[176] Zeig, Chind! Wie het sel Spätzli gseit?

Weisch's nümme recht? Was luegsch mi a?

»'s het gseit: ›I bi der Vogt im Dorf,

i mueß von allem d'Vorles ha‹.«

Und wo der Spötlig seit: ›'s isch gnueg!‹

Was tut mi Spatz, wo d'Vorles het?

»Er liest am Bode d'Brösli uf,

sust müeßt er hungerig ins Bett.«

Und wo der Winter d'Felder deckt,

was tut mi Spatz in siner Not?

»Er pöpperlet am Fenster a

und bettlet um e Stückli Brot.

Gang, gib em, Muetter! 's friert en sust.«

Zeig, sag mer z'erst, 's pressiert nit so,

wie chunnt's der mit dem Spätzli vor?

Meinsch nit, es chönnt eim au so goh?

Chind, wird's der wohl, und 's goht der guet,

sag nit: ›I bi ne riche Her‹,

und iß nit Brotis alli Tag!

's chönnt anders werde, handumcher.

Iß nit der chrosplig Ranft vom Brot,

und loß die weiche Brosme stoh!

– De hesch's im Bruuch – es chunnt e Zit,

und wenn de's hättsch, wie wärsch so froh!

Ne blaue Mentig währt nit lang,

und d'Wuche het no mengi Stund,

und mengi Wuche lauft durs Dorf,

bis jedem au si lezti chunnt.

Und was men in sim Früehlig lehrt,

me treit nit schwer, und het's emol,

und was men in sim Summer spart,

das chunnt eim in sim Spötlig wohl.[177]

Chind, denk mer dra, und halt di guet!

»O Muetter lueg, der Spatz will goh!«

Se gang er! Leng die Hirse dört,

und streu em! Er wird wieder cho!


2

Wie het im Summer 's Spätzli gseit?

Chind, bsinn di, – fallt's der nümmen i?

»'s het gseit: ›I bi ne riche Bur,

die Garbe do sin alli mi.‹

Es isch gar sölli semper gsi,

es het vo allem 's Fürnehmst gno,

's het jedwed Chörnli dreimol bschaut

und hinterher erst liege lo.«

Und wo der Spötlig ufgruumt het,

mi riche Burst, was het er to?

»Am Bode Gsöm und Brösli gsucht

und ebe nit viel übercho.«

Und jez, wo's schneit, was schneie mag,

was tut mi Spatz in siner Not?

»Er pöpperlet am Fenster a:

›He, numme au ne Stückli Brot!‹

Gang, gib em Muetter! 's friert en sust!«

Chumm, sag mer z'erst, 's pressiert nit so:

wie chunnt's der mit dem Spätzli für?

Meinsch nit, es chönnt der au so goh?

Chind, wird's der wohl, und 's goht der guet,

sag nit: ›I bi ne riche Ma!‹

und iß nit Brotis Tag für Tag,

und schaff nit gli ne Sackuhr a!

Schel nit der chrosplig Ranft vom Brot!

Loß nit die weiche Brosme stoh!

(De hesch's im Bruuch), es chunnt e Zit,

o wenn de's hetsch, wie wärsch so froh.[178]

Und wenn der's nümme schmecke will,

se gang ins Feld, schaff druf und dra!

Der Hunger isch e gute Choch,

er sträut eim Gwürz und Zucker dra.

Ne blaue Mentig währt nit lang,

und d'Wuche het no mengi Stund,

und mengi Wuche lauft durs Dorf,

und niemes weiß, wie's witers chunnt.

Und was men in sim Früehlig lehrt,

me treit nit schwer, und het's emol,

und was men in sim Summer spart,

das chunnt eim in sim Spötlig wohl.

Chind, denk mer dra, und halt die guet!

»O Muetter lueg, der Spatz will goh!«

Se gang er! Leng die Hirse dört,

und streu em! Er wird wieder cho.

Quelle:
Johann Peter Hebel: Gesamtausgabe, Band 3, Karlsruhe 1972, S. 176-179.
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