12. Frieden

[194] Hoch am Himmel stand die Sonne,

Von weißen Wolken umwogt,

Das Meer war still,

Und sinnend lag ich am Steuer des Schiffes,

Träumerisch sinnend – und, halb im Wachen

Und halb im Schlummer, schaute ich Christus,

Den Heiland der Welt.

Im wallend weißen Gewande

Wandelt' er riesengroß

Über Land und Meer;

Es ragte sein Haupt in den Himmel,

Die Hände streckte er segnend

Über Land und Meer;

Und als ein Herz in der Brust

Trug er die Sonne,

Die rote, flammende Sonne,

Und das rote, flammende Sonnenherz

Goß seine Gnadenstrahlen

Und sein holdes, liebseliges Licht,

Erleuchtend und wärmend,

Über Land und Meer.


Glockenklänge zogen feierlich

Hin und her, zogen wie Schwäne,

An Rosenbändern, das gleitende Schiff,

Und zogen es spielend ans grüne Ufer,[194]

Wo Menschen wohnen, in hochgetürmter,

Ragender Stadt.


O Friedenswunder! Wie still die Stadt!

Es ruhte das dumpfe Geräusch

Der schwatzenden, schwülen Gewerbe,

Und durch die reinen, hallenden Straßen

Wandelten Menschen, weißgekleidete,

Palmzweigtragende,

Und wo sich zwei begegneten,

Sahn sie sich an, verständnisinnig,

Und schauernd, in Liebe und süßer Entsagung,

Küßten sie sich auf die Stirne,

Und schauten hinauf

Nach des Heilands Sonnenherzen,

Das freudig versöhnend sein rotes Blut

Hinunterstrahlte,

Und dreimalselig sprachen sie:

»Gelobt sei Jesu Christ!«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 194-195.
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