4. Die Nacht am Strande

[181] Sternlos und kalt ist die Nacht,

Es gärt das Meer;

Und über dem Meer, platt auf dem Bauch,

Liegt der ungestaltete Nordwind,

Und heimlich, mit ächzend gedämpfter Stimme,

Wie 'n störriger Griesgram, der gut gelaunt wird,

Schwatzt er ins Wasser hinein,

Und erzählt viel tolle Geschichten,

Riesenmärchen, totschlaglaunig,

Uralte Sagen aus Norweg,

Und dazwischen, weitschallend, lacht er und heult er

Beschwörungslieder der Edda,

Auch Runensprüche,

So dunkeltrotzig und zaubergewaltig,

Daß die weißen Meerkinder

Hoch aufspringen und jauchzen,

Übermutberauscht.


Derweilen, am flachen Gestade,

Über den flutbefeuchteten Sand,

Schreitet ein Fremdling, mit einem Herzen,

Das wilder noch als Wind und Wellen.

Wo er hintritt,

Sprühen Funken und knistern die Muscheln;

Und er hüllt sich fest in den grauen Mantel,

Und schreitet rasch durch die wehende Nacht; –

Sicher geleitet vom kleinen Lichte,

Das lockend und lieblich schimmert

Aus einsamer Fischerhütte.


Vater und Bruder sind auf der See,

Und mutterseelenallein blieb dort

In der Hütte die Fischertochter,[181]

Die wunderschöne Fischertochter.

Am Herde sitzt sie,

Und horcht auf des Wasserkessels

Ahnungssüßes, heimliches Summen,

Und schüttet knisterndes Reisig ins Feuer,

Und bläst hinein,

Daß die flackernd roten Lichter

Zauberlieblich widerstrahlen

Auf das blühende Antlitz,

Auf die zarte, weiße Schulter,

Die rührend hervorlauscht

Aus dem groben, grauen Hemde,

Und auf die kleine, sorgsame Hand,

Die das Unterröckchen fester bindet

Um die feine Hüfte.


Aber plötzlich, die Tür springt auf,

Und es tritt herein der nächtige Fremdling;

Liebesicher ruht sein Auge

Auf dem weißen, schlanken Mädchen,

Das schauernd vor ihm steht,

Gleich einer erschrockenen Lilie;

Und er wirft den Mantel zur Erde,

Und lacht und spricht:


»Siehst du, mein Kind, ich halte Wort,

Und ich komme, und mit mir kommt

Die alte Zeit, wo die Götter des Himmels

Niederstiegen zu Töchtern der Menschen,

Und die Töchter der Menschen umarmten

Und mit ihnen zeugten

Zeptertragende Königsgeschlechter

Und Helden, Wunder der Welt.

Doch staune, mein Kind, nicht länger

Ob meiner Göttlichkeit,

Und, ich bitte dich, koche mir Tee mit Rum;[182]

Denn draußen war's kalt,

Und bei solcher Nachtluft

Frieren auch wir, wir ewigen Götter,

Und kriegen wir leicht den göttlichsten Schnupfen

Und einen unsterblichen Husten.«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 181-183.
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