6.

[21] Im süßen Traum, bei stiller Nacht,

Da kam zu mir, mit Zaubermacht,

Mit Zaubermacht, die Liebste mein,

Sie kam zu mir ins Kämmerlein.


Ich schau sie an, das holde Bild!

Ich schau sie an, sie lächelt mild,

Und lächelt, bis das Herz mir schwoll,

Und stürmisch kühn das Wort entquoll:


»Nimm hin, nimm alles, was ich hab,

Mein Liebstes tret ich gern dir ab,

Dürft ich dafür dein Buhle sein,

Von Mitternacht bis Hahnenschrein.«


Da staunt' mich an gar seltsamlich,

So lieb, so weh und inniglich,

Und sprach zu mir die schöne Maid:

»Oh, gib mir deine Seligkeit!«
[21]

»Mein Leben süß, mein junges Blut,

Gäb ich, mit Freud' und wohlgemut,

Für dich, o Mädchen, engelgleich –

Doch nimmermehr das Himmelreich.«


Wohl braust hervor mein rasches Wort,

Doch blühet schöner immerfort,

Und immer spricht die schöne Maid:

»Oh, gib mir deine Seligkeit!«


Dumpf dröhnt dies Wort mir ins Gehör,

Und schleudert mir ein Glutenmeer

Wohl in der Seele tiefsten Raum;

Ich atme schwer, ich atme kaum. –


Das waren weiße Engelein,

Umglänzt von goldnem Glorienschein;

Nun aber stürmte wild herauf

Ein gräulich schwarzer Koboldhauf'.


Die rangen mit den Engelein,

Und drängten fort die Engelein;

Und endlich auch die schwarze Schar

In Nebelduft zerronnen war. –


Ich aber wollt in Lust vergehn,

Ich hielt im Arm mein Liebchen schön;

Sie schmiegt sich an mich wie ein Reh,

Doch weint sie auch mit bitterm Weh.


Feins Liebchen weint; ich weiß warum,

Und küß ihr Rosenmündlein stumm. –

»O still, feins Lieb, die Tränenflut,

Ergib dich meiner Liebesglut!
[22]

Ergib dich meiner Liebesglut –«

Da plötzlich starrt zu Eis mein Blut;

Laut bebet auf der Erde Grund,

Und öffnet gähnend sich ein Schlund.


Und aus dem schwarzen Schlunde steigt

Die schwarze Schar; – feins Lieb erbleicht!

Aus meinen Armen schwand feins Lieb;

Ich ganz alleine stehenblieb.


Da tanzt im Kreise wunderbar,

Um mich herum, die schwarze Schar,

Und drängt heran, erfaßt mich bald,

und gellend Hohngelächter schallt.


Und immer enger wird der Kreis,

Und immer summt die Schauerweis':

»Du gabest hin die Seligkeit,

Gehörst uns nun in Ewigkeit!«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 21-23.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Buch der Lieder
Buch der Lieder
Buch der Lieder: Hamburg 1827
Buch der Lieder: Vollständige Ausgabe nach dem Erstdruck von 1827
Buch der Lieder (Fischer Klassik)
Buch der Lieder.

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon