1


Ruhelechzend

Laß bluten deine Wunden, laß

Die Tränen fließen unaufhaltsam –

Geheime Wollust schwelgt im Schmerz,

Und Weinen ist ein süßer Balsam.


Verwundet dich nicht fremde Hand,

So mußt du selber dich verletzen;

Auch danke hübsch dem lieben Gott,

Wenn Zähren deine Wangen netzen.


Des Tages Lärm verhallt, es steigt

Die Nacht herab mit langen Flören.

In ihrem Schoße wird kein Schelm,

Kein Tölpel deine Ruhe stören.


Hier bist du sicher vor Musik,

Vor des Pianofortes Folter,

Und vor der großen Oper Pracht

Und schrecklichem Bravourgepolter.


Hier wirst du nicht verfolgt, geplagt

Vom eitlen Virtuosenpacke

Und vom Genie Giacomos

Und seiner Weltberühmtheitsclaque.


O Grab, du bist das Paradies

Für pöbelscheue, zarte Ohren –

Der Tod ist gut, doch besser wär's,

Die Mutter hätt uns nie geboren.
[195]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 195-196.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte 1853 und 1854
Gedichte. 1853 und 1854
Gedichte: 1853 und 1854