7.

Unvollkommenheit

[112] Nichts ist vollkommen hier auf dieser Welt.

Der Rose ist der Stachel beigesellt;

Ich glaube gar, die lieben holden Engel

Im Himmel droben sind nicht ohne Mängel.


Der Tulpe fehlt der Duft. Es heißt am Rhein:

Auch Ehrlich stahl einmal ein Ferkelschwein.

Hätte Lucretia sich nicht erstochen,

Sie wär vielleicht gekommen in die Wochen.


Häßliche Füße hat der stolze Pfau.

Uns kann die amüsant geistreichste Frau

Manchmal langweilen wie die Henriade

Voltaires, sogar wie Klopstocks Messiade.


Die bravste, klügste Kuh kein Spanisch weiß,

Wie Maßmann kein Latein – Der Marmorsteiß

Der Venus von Canova ist zu glatte,

Wie Maßmanus Nase viel zu ärschig platte.


Im süßen Lied ist oft ein saurer Reim,

Wie Bienenstachel steckt im Honigseim.

Am Fuß verwundbar war der Sohn der Thetis,

Und Alexander Dumas ist ein Metis.
[112]

Der strahlenreinste Stern am Himmelzelt,

Wenn er den Schnupfen kriegt, herunterfällt.

Der beste Äpfelwein schmeckt nach der Tonne,

Und schwarze Flecken sieht man in der Sonne.


Du bist, verehrte Frau, du selbst sogar

Nicht fehlerfrei, nicht aller Mängel bar.

Du schaust mich an – du fragst mich, was dir fehle?

Ein Busen, und im Busen eine Seele.


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 112-113.
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