Caput XIII

[380] In dem schwarzen Felsenkessel

Ruht der See, das tiefe Wasser.

Melancholisch bleiche Sterne

Schaun vom Himmel. Nacht und Stille.


Nacht und Stille. Ruderschläge.

Wie ein plätscherndes Geheimnis

Schwimmt der Kahn. Des Fährmanns Rolle

Übernahmen seine Nichten.


Rudern flink und froh. Im Dunkeln

Leuchten manchmal ihre stämmig

Nackten Arme, sternbeglänzt,

Und die großen blauen Augen.


Mir zur Seite sitzt Laskaro,

Wie gewöhnlich blaß und schweigsam.

Mich durchschauert der Gedanke:

Ist er wirklich nur ein Toter?


Bin ich etwa selbst gestorben,

Und ich schiffe jetzt hinunter,

Mit gespenstischen Gefährten,

In das kalte Reich der Schatten?


Dieser See, ist er des Styxes

Düstre Flut? Läßt Proserpine,

In Errnangelung des Charon,

Mich durch ihre Zofen holen?
[380]

Nein, ich bin noch nicht gestorben

Und erloschen – in der Seele

Glüht mir noch und jauchzt und lodert

Die lebend'ge Lebensflamme.


Diese Mädchen, die das Ruder

Lustig schwingen und auch manchmal

Mit dem Wasser, das herabträuft,

Mich bespritzen, lachend, schäkernd –


Diese frischen, drallen Dirnen

Sind fürwahr nicht geisterhafte

Kammerkatzen aus der Hölle,

Nicht die Zofen Proserpinens!


Daß ich ganz mich überzeuge

Ihrer Oberweltlichkeit,

Und der eignen Lebensfülle

Auch tatsächlich mich versichre,


Drückt ich hastig meine Lippen

Auf die roten Wangengrübchen,

Und ich machte den Vernunftschluß:

Ja, ich küsse, also leb ich!


Angelangt ans Ufer, küßt ich

Noch einmal die guten Mädchen;

Nur in dieser Münze ließen

Sie das Fährgeld sich bezahlen.


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 380-381.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Atta Troll
Gedichte Von Heinrich Heine, Vierter Band. Deutschland. Atta Troll
Atta Troll. Ein Sommernachtstraum
Atta Troll - Ein Sommernachtstraum Deutschland - Ein Wintermärchen
Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe / Atta Troll Ein Sommernachtstraum. Deutschland Ein Wintermärchen
Neue Gedichte: Deutschland. Ein Wintermärchen. Atta Troll (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon