XXXVIII.
Die Grazien.

[253] Als an einem Frühlingsabende sich die drey Grazien neben einem Walde in acidalischen Quellen belustigten, verlor sich plötzlich Aglaja, die schönste der Grazien. Wie erschracken die Töchter der Anmuth, als sie Aglajen vermißten! Wie liefen sie durch die Bäume und riefen!


So ängstlich bebt auf Cremonesersaiten

Der zärtste Silberton.

Aglaja! – rief der Silberton.

Aglaja! – half der Nachhall sanft verbreiten.

Umsonst, Aglaja war entflohn.

»Ach Pan schlich längst ihr nach! Der Frevler hat sie schon!

Ach, Alcidalia, blick her von deinem Thron!

Soll sie nach langen Ewigkeiten

Nur jetzt nicht länger uns begleiten?

Zwo Grazien sind aller Welt zum Hohn,

Und ach! die dritte hat er schon! –«

So klagten sie. Umsonst! Aglaja war entflohn.


Nun schlichen sie an den Büschen herum, und schlugen leise[254] an die Blätter, und flohen nach jedem Schlage furchtsam zurück.


Denn stellten sie sich gleich, den Räuber auszuspähen,

So zitterten sie doch vor Furcht, ihn nur zu sehen.


Endlich kamen sie an ein Rosengebüsche, das meine Chloe versteckte – und mich. Chloe saß vor mir, ich hinter Chloen.


Jetzt bog ich schlau an ihrem Hals mich langsam über,

Und stahl ihr schnell ein Mäulchen ab;

Jetzt bog sie unvermerkt den Hals zu mir herüber,

Und Jedes nahm den Kuß auf halbem Weg' sich ab,

Den Jedes nahm und Jedes gab.


In diesem Spiel überraschten uns die Grazien, und sie lachten laut, da sie uns küssen sahen, und hüpften fröhlich zu uns herbey. Da ist Aglaja! – riefen sie. Die Schalkhafte! – Du küssest, da wir unruhig herumirren, und dich nicht finden können? – und jetzt lief man mit meiner Chloe davon.


Was? rief ich, lose Räuberinnen!

Wie sollte sie Aglaja seyn?

Ihr irrt euch sehr, ihr Huldgöttinnen!

Für Grazien ist das nicht fein!

Gebt Chloen mir zurück! Betrogne, sie ist mein!


Doch die Grazien hörten mich nicht, und liefen mit meiner Chloe davon. Zornig wollt' ich ihnen nacheilen, als[255] plötzlich Aglaja hinter einer Buche hervortrat, und mir winkte, und freundlich lächelnd also zu mir sprach:


Warum willst du zu Chloen eilen?

Beglückter Sterblicher, Aglaja liebet dich.

Küss' itzt einmal statt Chloen mich;

Wünsch nicht dein Mädchen zu ereilen;

Ich, eine Göttinn, liebe dich.


Schüchtern sah ich die Huldgöttinn an.


Auf ihren Wangen sprach Entzücken,

Und Jugend und Gefühl aus den verschönten Blicken.


Gefährliche Reizungen! Aber mit dreister Hand ergriff ich die Huldgöttinn, führte sie zu ihren Schwestern, und sprach: Hier ist Aglaja, ihr Grazien! –


O Chloe, meine Lust, mein Glück! –

Gebt meine Chloe mir zurück!

Ist dies Aglajens Mund und Blick?

Da, nehmt die Huldgöttinn zurück.


von Gerstenberg.

Quelle:
Wilhelm Heinse: Erzählungen für junge Damen und Dichter gesammelt und mit Anmerkungen begleitet, Lemgo 1775, S. 253-256.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon