Zweiter Akt

[530] Dasselbe Gemach. Es ist Morgen. Ksénja und Irína warten ungeduldig.


KSÉNIA.

Irína, Rínuschka, hörst du noch nichts?

IRÍNA.

Er kann ja noch nicht kommen.

KSÉNIA.

Daß er uns

Nur nicht entgeht! sie sagen immer nichts,

Die Ärzte, reden klug und gehen fort,

Eh man sie fragen kann. Paß auf, du mußt

Dich vor die Türe stellen.

IRÍNA.

Unbesorgt,

Wir halten ihn schon fest.

KSÉNIA.

Irína, hörst du,

Wenn er nicht Antwort gibt, so weiß ich nicht,

Was ich ihm antun könnte.

IRÍNA.

Still, man kommt.

KSÉNIA.

Dort steh und rühr dich nicht.


Der Arzt von rechts, bleibt stehen.


Ich muß Euch sprechen.


Der Arzt verneigt sich.


Jetzt muß ich etwas wissen, seht, ich muß.

Ihr wart bei meinem Vater; wissen muß ich,

Ob meine Sorge kindisch ist um ihn:

Ich sehe daß er müde ist, ich sah

Zuweilen seine Hände zittern und

Ihn friert im warmen Rock ... ich will nicht hören,

Daß über Tod und Leben Gott entscheidet,[530]

Und andre Ausflucht – sagt mir frei heraus,

Was wahr und wirklich ist und dann kein Wort mehr!

Sagt mir das Ärgste ruhig und ich will

Nicht weinen, will den Vater nicht mit Furcht

Und Bitten quälen, helfen will ich Euch,

Nur sagt mir alles – wollt Ihr das? seid gut

Und sprecht.

ARZT.

Ich will's, Zaréwna.

KSÉNIA.

Sagt es rasch.

ARZT.

Der Zar ist nicht mehr jung, doch voller Kraft,

Man dürfte ruhig sein, wär Eines nicht –

KSÉNIA.

Nennt mir das Eine –

ARZT.

Nur sein Herz ist nicht

So stark und jung wie sonst. Ich fürchte nichts

Als Leidenschaften, starke Regungen

Des Blutes, großen Zorn und wild Erschrecken

Und alles Jähe, Heftige ... bewahrt

Ihn nur davor, daß seines Blutes Kraft

Sich überschlägt – versteht Ihr das? – ins Kranke,

Ins Ungezügelte, wenn ihr so wollt.

Die großen Stürme trägt dies Herz nicht mehr,

So viel ich sehen kann.

KSÉNIA.

Er könnte – sterben?

Sprecht es nur aus.

ARZT.

Er könnte dahin kommen,

Wo all mein Wissen machtlos wie Gestammel

Von Kindern ist und Gott nur helfen kann.

KSÉNIA.

Was aber kann ich tun?

ARZT.

Ich sag es Euch.

Ich brauche Heiterkeit für ihn, auch Ruhe,

Gelaßnen Gang der Zeit – versteht mich wohl,

Nicht müßig soll er gehn, die Herrscherpflicht

Ist schönstes Glück und stärkste Arzenei

Für solche Männer, wie ich ihn erfasse,

Sonst aber soll das Frohe, Unbeschwerte

Euch Ziel und Merkwort sein.


Er grüßt und geht ab. Ksénja steht noch einen Augenblick still, dann horcht sie auf und zieht Irína mit sich fort durch die Tür links. Zar Borís von rechts mit Simeon Godunóf und dem Fürsten Wassíli Schuiski. Dieser ist mager und stattlich, ein zäher, graubärtiger Bojar mit klugem Gesicht und scharfen unruhigen Augen.
[531]

BORÍS.

Den Mann zu treffen

An seinen Wurzeln liegt mir ob. Er baut

Sein Glück auf einen Traum, ich muß der Welt

Verkünden, daß der Traum ein Gaukelspiel,

Das Glück ein Schatten ist. Sie wird es glauben,

Wenn ich Beweise bringe. Setz dich, Fürst,

Bezeugen sollst du –

SCHUISKI.

Was ich weiß.

BORÍS.

Du weißt

Genug, so muß ich denken. Sieben Jahre

Sind hingegangen, seit der junge Prinz

Beim Spiel aufs Messer fiel.

SCHUISKI.

Dies ward verbreitet.

BORÍS.

Verbreitet, ja! so ward es uns erzählt.

Du sahst das Kind im Sarg und sahst die Wunde.

SCHUISKI.

Ich sag den Sarg, die Wunde, und ich sah

Ein Kind im Sarg.

BORÍS.

Das Kind, des Zaren Sohn,

Der spielend auf das Messer fiel und starb.

Ich fragte dich, du hast es mir erzählt,

Als du nach Moskau kamst.

SCHUISKI.

Es fand sich einer,

Der mir am Sarg des toten Kindes sagte,

Dies sei des Zaren Sohn.

BORÍS.

Ich will nicht wissen,

Was der sagt noch ein anderer – dich Fürst

Wassíli Schuiski, meinen Diener, frag ich

Nach diesem Kind. In meinem Herzen blieb

Aus jener Zeit verwirrende Erzählung:

In Aufruhr die geringe Stadt, von Türmen

Weithallend Glocken, Menschen und Geschrei

Und auf den Fliesen vor der Mauer blutig

Das Kind – und klagend Frauen – und das Messer –

Und mein Befehl entsandte dich, Bojar,

Zur Klärung des Geschehens. Dein Bericht

Gab solchen Sinn: dem Zarensohn Dmitri

Beim Spiel der Aufsicht seiner Wärterin

Entlaufen, gab ein böses Glück die Waffe,

Die unheilvolle, in die Kinderhand,

Der Prinz glitt aus und stieß im Fall das Messer

Sich in die Brust und starb an seiner Wunde.

Entsinnst du dich?[532]

SCHUISKI.

Ich kannte das Gesicht

Des Kindes nicht.

BORÍS.

Du sahst es nie vorher?

SCHUISKI.

Nur wie man Kinder sieht, die Milchgesichter,

Die keinen Stempel tragen.

BORÍS.

Und du sagst,

Ein fremdes Kind? wo blieb des Kindes Mutter?

SCHUISKI.

Die Zarin Marfa, wirst du dich entsinnen,

Lag zwischen Tod und Leben krank.

BORÍS.

So ist

Ein Zweifel möglich?

SCHUISKI.

Möglich allerdings.

SIMEON.

Laß ihn und hör auf mich. Nimm dieses Blatt.

BORÍS.

Was soll es mir?

SIMEON.

Die Namen deiner Feinde –

BORÍS.

Gott kennt sie. Fort. Ins Feuer mit dem Wisch.

SIMEON.

– die vom Tataren flüstern, der die Krone

Durch einen Mord gewann –

BORÍS.

Gib her!


Er reißt das Blatt aus Simeons Händen und liest mit wachsendem Zorn.


der da

Ward groß durch mich ... dem gab ich Geld ... und der,

Brautwerber war ich ihm – wer noch? wer noch?

Steht wer, den zu beschenken ich vergaß,

Auf diesem Blatt? ... nicht einer ... und sie treten

Aus ihrem schmutzigen Winkel nicht hervor,

Sie rufen nicht das Volk, den Kindesmörder

Zu richten mit der Waffe ...

SIMEON.

Das geschieht,

Wenn du nicht schneller bist.

BORÍS.

Ich will sie treffen

In ihren Häusern, in den Kirchen – nimm

Die Wache – greife sie –

SIMEON.

Gib den Befehl.


Borís setzt seinen Namen auf die Liste und reicht sie ihm hin mit einer heftigen Bewegung.


BORÍS.

Da wieder – doch sie wollen's!

SCHUISKI.

Was auch liegt

An einem Dutzend Schurken!


Die Zarin Maria tritt ein und kommt leise nach vorn.


BORÍS.

Weißt du's nicht?[533]

Auch du nicht, Godunóf? wie leicht ward euch

Der harte Weg vom Kinderbett zum Grab,

Wie kühn, wie mühelos, wenn euch das Wesen,

Der wahre Saft und Herzenskern der Welt

Wie eine hergewehte Flocke nur

An eurem Ärmel dünkt und nur ein Hauch

Im großen Sturm der Luft!

SCHUISKI.

Die Träume sind

Nur eben Träume, Herr. Ich hab damit,

Weiß Gott, nicht viel zu schaffen.

BORÍS.

Glaubst du das?

Hier – siebzehn Köpfe – siebzehn Leben – was?

Das nennst du Träume? Köpfe, Herzen, Glieder,

Wie meine sind, wie deine – Träume, wie? ...

Du, weiß ich, klatschtest sie gleich Fliegen tot

Und gingst getrost zu Tische –

SCHUISKI.

Das mag sein.


Borís sieht ihn stumm an, wendet sich dann rasch zu Simeon.


Besorge dies. Nichts weiter will ich hören

Als die drei Worte nur: s'ist abgetan.


Zur Zarin, während Schuiski und Simeon abgehen.


Was bringst du mir?

MARIA.

Mein alter Schreiber hat

Ihn aufgespürt, den du zu sehen wünschtest,

Als Mönch im Kloster fand er ihn.

BORÍS.

Der Mann,

Der meinem Tun die Henkershände lieh –

Er ist im Schloß?

MARIA.

Er wartet vor der Tür.

BORÍS.

Laß ihn zu mir. Und – halte Ksénja fern.

Sie soll – sie darf ihn – du verstehst –

MARIA.

Sei ruhig.


Sie geht ab durch die Tür links hinten. Borís sieht auf die Tür, als erwarte er ein Gespenst. Ein Mönch tritt ein, bleibt demütig stehen. Sehr hager, mittelgroß, ein häßliches, blasses, verwüstetes Gesicht, dünner, grauschwarzer Bart.


BORÍS stockend.

Hat keiner – sprich – hat keiner dich gesehn?

MÖNCH.

Ich scheue mich vor keinem. Mag die Welt

Mich sehen. Ich bedarf der Winkel nicht.

Verstecke sucht nur, wer sie nötig hat,

Ich gehe frei.[534]

BORÍS.

Du – du gehst frei?

MÖNCH.

Ich legte,

Was hinter mir an Qual und Sünden liegt,

In Gottes Hände.

BORÍS.

Und du nennst dich rein?

Erlöst? entsühnt?

MÖNCH demütig.

Nein, nein, ich bin voll Schmutz,

Noch muß ich beten, fasten, mich entsühnen,

Jetzt aber weiß ich schon, bei Gott ist Gnade,

Gott wird mich reinigen.

BORÍS.

Wie leicht! wie leicht!

Die Lösung liegt für jeden auf der Straße

Und ich nur tappe wie ein Blinder hin

Und finde nichts im Dunkel.

MÖNCH.

Schwer und leicht

Sind Worte nur vor Gott.

BORÍS.

Kannst du's ertragen

Von jenem Tag zu sprechen, der –

MÖNCH.

Ich kann es

Mit Heiterkeit.

BORÍS.

Was bist du für ein Mensch?

Ein faules Wasser, das den stürzenden

Felsblock empfängt und keine Kreise zieht,

Reglos die Last verschluckend! oder starr,

Ein frostiges Ungeheuer, fühllos wandernd,

Sie mästend von den Leichen, die es tritt!

MÖNCH.

Ein Sünder, der das helle Tor der Gnade

Schon offen sieht – sonst nichts. Sonst nichts.


Er tritt näher an den Zaren heran.


Mein Auge

Sieht aus dem dunklen Raum zwei Wege kommen

Und sich verlieren in den dunklen Raum,

Auf halben Weg jedoch sich überschneidend

Und dann, geknickt, fortlaufend in den Raum:

Dein Leben und mein Leben, Zar Borís.

Die Kreuzung ist der Tag, von dem du sprichst,

Da bogen sich die Wege, liefen hin,

Hinauf der meine zum erhellten Tor

Und du – wohin?, zu welchen Helligkeiten?

Zur Finsternis? – die Antwort steht bei dir.

BORÍS.

Ein Werkzeug warst du, das mein Wille dang,

Und willst dich mir vergleichen.[535]

MÖNCH.

Das war einst

Und ging vorüber. Heute sind wir Brüder,

Was meine Demut mich zu sagen zwingt,

Nicht stolze Einbildung. Denn, Zar Borís,

Ich tauschte nicht mir dir.

BORÍS.

Du Tor, du Tor,

Der wie das Haustier nur die Krippe kennt

Und nicht der Fluren kraftgenährte Wellen,

Die Ferne, noch die Luft! was denkst du, Mönch,

In deiner armen Seele? du begingst

So wie ein Tier die Tat, ein Segel warst du,

Von meinem Sturm geschwellt, ein Schächerarm,

Bewehrt mit meinem Willen. Und du kehrtest

Den Rücken allem Tun und hast gebetet

Und hast gewartet und die Kirchenschwelle

Mit deiner Stirn gescheuert allenfalls!


Dicht vor dem Mönch stehend.


Ich habe mich verschenkt! ganz fortgegeben

An jeden, der mich brauchte, ich hab nichts

Für mich getan und alles fortgegeben

Und ...

MÖNCH scharf.

Alles? auch die Tat?

BORÍS heftig.

Der Mord blieb mein

Und er verlor sein Schweres. Mächtig war

Nur noch das andre –

MÖNCH.

Und du fühlst dich rein?

Entsühnt? erlöst?

BORÍS nach einem Schweigen.

Nein, Mönch.

MÖNCH sanft.

Mir ist manchmal,

Als läge alles nur in uns. Gefühl

Ist mächtiger als alle Tat und muß

Zuletzt entscheiden.

BORÍS.

Laß das. Du erschlugst

An jenem Tag ein Kind, Hast du das Kind

Gekannt?

MÖNCH.

Den Prinzen Dmitri? wie du fragst!

BORÍS.

So war es der Zaréwitsch, dem dein Messer

Die Todes wunde schlug?

MÖNCH.

Wer sonst?

BORÍS.

Man sagt,

Ein fremdes Kind, vertauscht, erlag dem Dolch,

Den du geführt – wer also war's?[536]

MÖNCH.

Kein andrer

Als der Zaréwitsch.

BORÍS.

Gib mir Bürgschaft, Mönch,

Daß du nicht lügst.

MÖNCH.

Wer ohne Zwecke lebt,

Bedarf des Lügens nicht.

BORÍS.

So ist kein Zweifel?

MÖNCH.

So wahr ich meiner Tat Vergebung hoffe:

Kein fremdes Kind – Prinz Dmitri.

BORÍS.

Dann, beim Himmel,

Soll den Betrüger seine Falschheit würgen,

Bis er das bange Leben von sich speit

So wie ein Gift aus seinem Leib –

MÖNCH.

Du sprichst

Von jenem fremden Mann im Polenland?

Wer sagt dir, daß er lügt?

BORÍS.

Du – sagtest mir –

Du hast geschworen –

MÖNCH mit versteckter Bosheit.

Warfen Tote nie

Den schütteren Haufen Erde von sich ab?

BORÍS.

Nie, Mönch.

MÖNCH.

Und wenn des Prinzen Leib zerfiel,

Kann er im Leben jenes Fremden nicht

Erstehen, königlich, und neu geweckt

Zu Kampf und Strafe?

BORÍS.

Laß mich, laß mich, Mönch!

MÖNCH.

Gefühl ist stark, ich sprach dir schon davon.

Wenn jener Fremde in des Herzens Tiefe

Die Seele des erschlagnen Kindes fühlt,

Wer straft ihn Lügen?

BORÍS.

Wer? – Nun weiß ich endlich,

Daß du dich rächen willst. Mit grauem Spuk

Die Nächte mir zu füllen mühst du dich,

Den Schlaf mir stehlen möchtest du, mich schrecken

Mit Ammenscherzen. Allzulistig, Mönch,

Ist allzudumm. Ich lache solcher Fallen,

Du Jäger in der Kutte, denn mein Schlaf

Ist sanft und friedlich und vor Angstgebilden

Schützt mich die Müdigkeit. Ich darf so müde

Sein wie der Bauer, der das Feld bestellt,

Vom Aufgang bis zum Abend hart sich mühend

Mit Beil und Karst und Sichel: dann befällt[537]

Ihn rasch der Schlaf im Schatten eines Baums

Am Wegesrand und wie ein Daunenlager

Ist ihm die Ackerfurche –

MÖNCH.

Solcher Schlaf

Befiel mich einst: ich trat in meine Kammer,

Noch fiebernd von der Tat –

BORÍS.

Vom Kindesmord.

MÖNCH.

– im Auge noch das Blut, ein blutiger Dunst

An meinem Ärmel noch, da fiel ich hin

Und schlief – und schlief zwei Tage lang, zwei Nächte,

Traumlos und sanft, bis mich ein Fremder weckte.

BORÍS.

Berauscht vom Blut so wie ein Wolf ... du sollst

Nicht länger bleiben, suche deine Zelle

Und wälze dich in Wohlsein. Geh denn. Geh.

MÖNCH.

So war auch dies vergeblich, Zar Borís.

Dein Hoffen krampfte sich an mich – und ich

Versagte. Und du wirst nach vielen Händen

In deiner Angst noch greifen und sie alle

Versagen dir die Rettung. Du versinkst.

Ein Auferstandner streitet wider dich

Und trägt den Sieg im Herzen. Großer König,

Du mit der Furcht im Herzen, geh hinaus

Und siege, wenn da kannst.


Er geht. Borís hat unbeweglich vor sich hingesehen, finster in sich versunken.


BORÍS.

Kain schlug den Abel.

Der Mord ist älter als der Tod. Weg da!

Was heißt der Tod! wie sieht er aus! ich kenne

Viel nächtigere Schatten.


Die Tür wird aufgerissen und Fiódor stürmt herein mit dem Fürsten Galízin und noch zwei Bojaren.


GALÍZIN.

Zar Borís!

FIÓDOR.

Es darf nicht sein, du widerrufst es, Vater,

Nicht wahr, es wird nicht sein –

BORÍS.

Was darf nicht sein?

Was muß ich widerrufen? wem zu Leid

Und wem zu Liebe soll ich mich denn wandeln?

Ein jeder kennt die Richtung und nur ich

Soll überall den Weg erfragen, zaudern

Und so die Zeit verspielen, die entläuft?

Ich frage nur mich selbst fortan und lasse

Die Antwort mir aus eignem Brunnen steigen[538]

Und was geschieht, soll euch nur Schauspiel sein,

Das ihr nicht ändern könnt.

FIÓDOR.

Die häßliche

Verleumdung, Vater, schaffst du spielend auch

Mit andern Waffen fort. Warum den Henker

Zu neuen Ehren bringen?

GALÍZIN.

Herr, sie werden

Durch dich bestätigt glauben das Gerücht –

Schon flüstern etliche –

1. BOJAR.

Wir raten gut –

BORÍS.

Laßt mich, Bojaren, laß mich, Fiódor, geht,

Geht alle, laßt mich, geht, ich will nichts hören –

Es bleibt, wie ich befahl –

GALÍZIN.

Ich diente dir

In Treue, Herr, so gut ich es vermochte,

Laß mich nicht denken, daß mein Dienst verschwendet –

BORÍS.

Was wagst du?

GALÍZIN.

– daß mein Dienst Verbrechen war.

Ich gehe sonst –

BORÍS.

Geht alle –

1. BOJAR.

Herr, wir könnten

Dir dieses Mal gehorchen und –

2. BOJAR.

Und dann,

Borís, nie mehr –

BORÍS wirft ihnen die Worte wie Steine ins Gesicht.

Ihr seid entlassen! fort!

GALÍZIN.

So kommt. Zu Pferd!

FIÓDOR.

Wohin?

2. BOJAR wendet sich in der Tür um.

In Dmitris Lager!


Die Tür fällt hinter den drei Bojaren zu. Borís ist im Sessel zusammengesunken.


BORÍS.

Laßt mich. Wer steht noch hinter mir? bist du's?

Was willst du noch?

FIÓDOR.

Die Stadt schreit deinen Namen,

Als wär's ein Fluch – wir aber glauben dir –

BORÍS.

Was heißt das: wir?

FIÓDOR.

Die Mutter, Ksénja, Christian

Und ich, wir glauben dir –

BORÍS verzweifelt spottend.

Ja, glaubt mir nur!

FIÓDOR.

Was willst du sagen, Vater? – du bist krank –

BORÍS.

Ich bin der Kranke, ja – die Welt ist heil –[539]

Und alle sind gesund – ich bin der Kranke –

Der Tote hat, weiß Gott, mich krank gemacht –

Als ich ihn schlug, da war mir wohl – und heute –

FIÓDOR entsetzt.

Was redest du?

BORÍS.

Sei du ein Mann, ein Mann,

Ich brauche Männer, die es tragen können,

Wenn man vom Töten spricht.

FIÓDOR dicht bei ihm.

Du hast es nicht

Getan! sag, daß du's nicht getan! ich will

Jetzt von dir hören, daß du's nicht getan –

BORÍS.

Du sollst mich lassen – ja, ich habe das

Getan, um das die Welt mir flucht –

FIÓDOR.

Du hast –

BORÍS.

Der alte Zar war tot – und seine Söhne

Ein Schwächling und ein Kind – da griff ich zu –

Und ist die Krone blutig, wie man spricht,

Du trägst sie ohne Schuld – du wirst sie tragen

Und dann ist alles gut. So findet Untat

Doch endlich eine Gruft, darin sie ruht,

Wenn ich gestorben bin, denn du bist rein –

FIÓDOR.

Dein Erbe, Vater!

BORÍS.

Du bist ohne Schuld.

Du warst ein Kind, als ich es tat. Ich tat es,

Ich, ich allein. Wenn ich gestorben bin

Sind alle Toten tot. Man wartet nur,

Daß wieder Ordnung kehre in die Welt,

Dann rauscht das Leben friedlich.

FIÓDOR.

Deine Krone

Ist mir zu weit um meine Stirn. Ich nehme

Sie jetzt nicht mehr.

BORÍS.

Du nimmst die Krone nicht?

FIÓDOR.

Fürst Schuiski nehme sie, dem steht sie an,

Er ist der Älteste.

BORÍS.

Das kannst du mir –

Das kannst du mir nicht tun –

FIÓDOR.

Glaub mir, ich muß –

BORÍS.

Du gehst doch jetzt nicht fort – wenn du jetzt gehst,

Zerfällt mir alles – platzt mir wie ein Pilz –

Das richtet mich – es ist ein Urteil – hör,

Das mußt du doch verstehn, du kannst nicht fort –

FIÓDOR.

Ich muß –

BORÍS.

Denn was ich tränkte – nährte – hör –[540]

Mit meinem Leben – Werk von Jahren – Blut –

Für dich – die Nächte – du – du bleibst –

FIÓDOR.

Ich kann nicht –

BORÍS.

Mit was für Augen siehst du jetzt mich an?

Bist du mein Sohn? du bist – es sind die Augen

Des Anderen, des Toten – hör mich, Sohn,

Mag sein, ich bin verdammt – so hilf du mir –

Mag sein, ich sinke – hilf mir! meine Diener

Verlassen mich, die Schar der Feinde schwillt,

Die Mutter ist ganz ich – sie hilft mir nicht –

Und Ksénja – Ksénja darf nichts wissen – nichts –

Ich habe keinen, der es weiß, als dich –

Und der ein Mann ist und mir helfen kann,

Wenn meine Kraft zerbricht, mir auf der Straße

So wie ein Pferd, ein abgetriebnes, fällt

Und dann vielleicht nicht aufsteht – doch du bist

Mein Sohn, ich darf in deine Hände geben,

Was ich nicht länger meistern kann, ich werde

Dann wieder hoffen dürfen und mit Lust

Den Kampf erwarten und mit Seligkeit

Nachher den Tod – o, den mit solcher Lust

Wie der Verhungernde die Frucht erblickt,

Die süße Frucht am Baum, und sie vom Zweig

In seine Hände zieht und an den Mund,

Vom Duft allein schon selig –

FIÓDOR steht schon vor der Tür, streckt die Hände aus.

Nicht – nicht mehr –

BORÍS.

Du gehst nicht fort – du bleibst bei mir –

FIÓDOR kann es nicht aushaken, reißt die Tür auf und flieht mit dem Schrei.

Ich kann nicht –

BORÍS fährt auf, taumelt.

Fiódor!


Dann mit durchdringender Stimme.


Fiódor!

Quelle:
Henry von Heiseler: Sämtliche Werke. Heidelberg 1965, S. 530-541.
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