Das Dokument

[32] Es war in der Nacht von einem Montag auf einen Dienstag, als ich im Landhaus meiner Eltern am Finnischen Meerbusen verhaftet wurde. Ich war vom Regiment auf Urlaub heimgekommen und hatte das Haus, von der alten Beschließerin und dem Gärtnerburschen abgesehen, leer gefunden. Durch die Beschließerin erfuhr ich das Folgende. Zwei Tage vorher hatten die Meinigen auf Grund einer Warnung das Haus fluchtartig verlassen. Es handelt sich um meine Eltern, meine beiden Schwestern und um Tania. Tania ist eine Schulfreundin meiner Schwestern Ina und Katja, und zwar, nicht meine Braut, wir hatten es nur untereinander ausgemacht, daß wir uns heiraten wollten. Der Diener Wassilij, der mir persönlich Nachricht bringen sollte, mußte sich mit mir gekreuzt haben. In der Nacht, die auf den Fluchttag folgte, war bei uns Haussuchung gewesen, mit dem Ergebnis, daß die Patrouille sämtliches Silber und eine Menge Kleidungsstücke davongetragen und alle Schubladen und Schränke erbrochen hatte. Auch der ganze Vorrat an Wein und Likören war nicht mehr vorhanden. Es war sehr unvorsichtig von mir, daß ich mich unter so bewandten Umständen entschloß, die Nacht im Hause zu verbringen, denn ich hätte mir sofort sagen müssen, daß das Haus unter Bewachung geblieben war. Wahrscheinlich werde ich dieses Versehen mit meinem Leben bezahlen müssen. Ich[32] machte mir also ein Lager für die Nacht zurecht und beabsichtigte, am nächsten Tag dahin nachzureisen, wo ich sie vermutete ... ich will den Ort hier nicht niederschreiben, weil diese Papiere doch immerhin in die Hände jener Verfluchten geraten könnten. Der Beschließerin und dem Gärtnerburschen hatten die Eltern ihr Fluchtziel mitzuteilen versäumt, und wie wohl das getan war, sollte ich bald genug erfahren. In der Nacht weckte mich das Gekreisch einer Frauenstimme, ich fuhr empor, und als ich gleich darauf ein Geräusch von schweren Tritten und Stimmengewirr vernahm, wußte ich im Augenblick, was mir bevorstand. Ich hatte mich nur halb entkleidet, in wilder Eile riß ich ein Bündel Notizblätter vom Tisch und verbarg sie zwischen Socke und Unterhose, zog die Hosen und Stiefel an, steckte Zigaretten, Streichhölzer, Geld, Bleistift und Uhr in die verschiedenen Taschen, konnte aber in der Hast die letzteren Gegenstände nicht gut genug verbergen, denn ich hatte mir das Uniformhemd noch nicht übergestreift, als die Tür aufgestoßen wurde und im Schein einiger Laternen etwa zehn uniformierte Gestalten sichtbar wurden, unter Anführung eines hochaufgeschossenen pockennarbigen Letten, der sich offenbar durch Höflichkeit ein Relief geben wollte. Wenigstens sagte er im Eintreten: »Guten Abend, Genosse Kornett« und stellte sich darauf mit einer Verbeugung als »Genosse Kristmans« vor. Meine Frage »Was wünschen die Herren?« wurde nur mit einem grinsenden »Genossen, Genossen, es gibt hier keine Herren, Genosse Kornett« beantwortet. Übrigens mußten die Kerle schon große Übung in ihrem Geschäft erworben haben, sie hatten im Handumdrehen alle meine Waffen entdeckt – den Säbel, den Armeerevolver, zwei Taschenbrownings und einen kaukasischen Dolch, auf dessen silberner Scheide die Anfangsbuchstaben meines Namens eingraviert waren. Dann wurde ich einer Leibesvisitation unterworfen und der Genosse Kristmans nahm sogleich Uhr, Geld und Bleistift in seinen Besitz. Wie durch ein Wunder entging mein ledernes Zigarettenetui, vielleicht wegen seiner Leichtigkeit, ihrer Aufmerksamkeit, ebenso die Notizblätter in der Unterhose, dazu mein Füllfederhalter, den eine Klammer in einer inneren[33] Tasche meines Uniformhemdes festhielt, außerdem mochte er sich in einer Falte verfangen haben. Ich erinnere mich deutlich der Blitzesschnelle, mit der ich mich darauf einstellte, diese drei geretteten, an sich doch ziemlich wertlosen Gegenstände als einen unendlich kostbaren Besitz anzusehen, obwohl ich damals durchaus noch nicht wußte, wie ich sie etwa würde verwerten können. Die Burschen sprachen eine Weile miteinander, aber es war lettisch und ich konnte sie nicht verstehen. Darauf setzte sich Genosse Kristmans an den Schreibtisch, bot mir, gut gestimmt durch den billigen Erwerb meines Geldes und meiner Uhr, Stuhl und Zigarette an, was ich beides annahm, um den Genossen keine Unruhe zu verraten, und begann in leidlich korrekter Form ein Protokoll aufzusetzen. (Ich vergaß zu erwähnen, daß mir auch mein Siegelring abgefordert wurde, mein goldener Ring mit dem Hirschwappen in graublauem Onyx.) Kristmans' Hauptfragen drehten sich immer wieder um den gegenwärtigen Aufenthaltsort meiner Familie, ich nannte aber nur unsere Petersburger Wohnung und das Gut in der Nähe von Ssarátow, weil sie beide Adressen ohnehin mit leichter Mühe in Erfahrung bringen konnten, und behauptete im übrigen, nichts zu wissen und nichts zu vermuten.

Über die darauffolgende fürchterliche Episode will ich schnell hinweggehen. Die Beschließerin und der Gärtnerbursche wurden hereingeführt und mit Hilfe von Drohungen und Einschüchterungen einem peinlichen Verhör unterworfen, in dessen Verlauf die alte Frau in Ohnmacht fiel, als ihr ein Revolver allzu lange und allzu drohend vor die Stirn gehalten wurde. In meiner Verzweiflung wurde ich tätlich und mußte gebunden werden. Die Unglücklichen gestanden nichts, außer jenen beiden Adressen, weil sie eben nichts zu gestehen hatten; zuletzt wurden sie in den Garten hinausgeführt, und ich vernahm die kurz darauf erfolgenden zwei Revolverschüsse fast mit einem Gefühl der Erleichterung, weil ihre Leiden nun zu Ende waren, während ich sicher war, einer weit ärgeren und längeren Leidenszeit entgegenzugehen. Als ich später an den Leichen vorübergeführt wurde, beneidete ich die Stillgewordenen[34] um ihre große Ruhe, die fortan nicht einmal mehr von Tschekisten gestört werden konnte.

Schon jetzt sehe ich, daß ich mit meinen Zetteln haushalten muß und somit eine größere Kürze angezeigt ist. Vorläufig will ich an den Übergängen sparen, der Leser wird sich das Verbindende leicht ergänzen können.

Ich wurde per Eisenbahn in einem Gepäckwagen nach Petersburg transportiert. In der Mitte des Waggons stand ein kleiner eiserner Herd, dessen Rohr durch ein in die Decke geschlagenes Loch ins Freie führte. Meine Eskorte briet Kartoffeln auf der glühenden Herdplatte und unterhielt sich damit, daß sie mir vorschlug, die Stiefel auszuziehen und meine Füße auf die Platte zu stellen, dann würde ich bald genug ein Geständnis, den Aufenthaltsort meiner Familie betreffend, ablegen. Es blieb indessen bei der Drohung. Die Eskorte teilte sogar ihre Kartoffeln mit mir und ich nahm an, erstens, um nicht als ängstlich zu er scheinen, zweitens, weil ich meine körperlichen Kräfte um jeden Preis bis zum äußersten aufrechtzuerhalten wünschte.

Es war noch früh am Morgen, als wir auf dem finnländischen Bahnhof eintrafen. In einem leeren Wartesaal dauerte es ziemlich lange, bis uns gemeldet wurde, daß ein Auto zur Weiterbeförderung bereit stehe. In der Wartezeit hatte mir Genosse Kristmans drei Zigaretten und ein Wurstbutterbrot angeboten und ich verrauchte ohne Widerspruch die ersteren und verspeiste das letztere. Dann wurde ich mit verbundenen Augen in ein Auto gesetzt. Ich suchte und fand meinen Puls. Ich zählte 1407 vom Augenblick unserer Abfahrt bis zum Augenblick unserer Ankunft. Ob das Auto einen Umweg gemacht hatte, konnte ich trotz aller Aufmerksamkeit nicht feststellen. Meine Vermutung ging dahin, daß wir uns bei der Ankunft in der Nähe der Erbsenstraße befanden, in der Nähe des Hauptstabes der Tscheká. Sicheres kann ich aber darüber nicht aussagen.

Meine Leser – falls es solche jemals geben sollte – wird es interessieren zu erfahren, auf welche Weise ich meine Erfahrungen zu Papier zu bringen vermochte. Da ich meinen Zettelvorrat[35] nicht verschwenden wollte, habe ich alles Wesentliche meinem Mitgefangenen Márkof mitgeteilt – er wird es, wenn das Glück es will, weitererzählen.


* * *


(Aussage des Soldaten Márkof: Als der Offizier, der sich Wáwa nannte, das Gefängnis betrat, besaß er einen Füllfederhalter, ein Bündel Notizblätter und ein gefülltes ledernes Zigarettenetui. Unter den Mitgefangenen war ein Kaufmann Wawíloff. Dieser Wawíloff hatte kurz vor seiner Verhaftung in der Stadt Besorgungen gemacht, unter anderem für sein Töchterchen einen Teddyfuchs und ein Aquarellmalkästchen eingetauscht. Wáwa, der sich durch große Geistesgegenwart auszeichnete, benutzte diese Tatsache sofort. Er bot Wawíloff sein Zigarettenetui zum Tausch an gegen das Farbenkästchen, worauf Wawíloff, ein leidenschaftlicher Raucher, mit Freude einging. Wáwa, der nun mit Hilfe der Aquarellfarben, die er Stück für Stück im Trinkwasser auflöste, und mit Hilfe seines Füllfederhalters und der Notizblätter imstande war, eine Art Tagebuch zu führen, tat dies denn auch, zum Teil unter unendlichen Schwierigkeiten. Ein Beispiel für diese Schwierigkeiten. Wir wußten, daß sich ein Beamter der Tscheká als Quasi-Mitgefangener unter uns befand. Wer es war, wußten wir nicht. Also mußte Wáwa heimlich schreiben, wobei ihm ein Umstand zu Hilfe kam. Im Gang vor unserer Türe brannte eine ziemlich starke elektrische Birne, deren Licht durch ein über der Tür befindliches Guckfenster schräg in unsere Kammer fiel. Indem Wáwa diesen Schein benutzte, konnte er sich nachts, wenn alles schlief, mit der Herstellung seiner Notizen befassen).


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Quelle:
Henry von Heiseler: Gesammelte Werke. 3 Bände, Band 1, Leipzig 1938 [1937], S. 32-36.
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