Stimme des Berges

[318] Zerflatternd schwanden schwere Nebelschuppen

Vom Antlitz des Gebirges langsam hin.

Weiß schweben Wolken um befreite Kuppen –

So weht Allvaters Bart seit Urbeginn.

Der Himmel sandte seine Säubertruppen,

Die frischen Morgenwinde. Siegerin

Wird Sonne. Ihre tausend Strahlenhände

Ergreifen hell die finstern Felsenwände.


Von diesem Gipfel, wo die Geister thronen

Der überwindend schöpfertrunkenen Lust,

Schau ich die Welt gemarterter Millionen,

Der unerhörten Daseinsqual bewußt.

Schau ich die Völker, die auf Erden wohnen,

Wie sie sich selbst zerfleischen Brust an Brust,

Schau ich der Menschheit Leib vom blutigen Kleide

Geschändet bis ins tiefste Eingeweide.


Von diesem Gipfel, wo die Geister lauschen

Des Sonnenlichtes seliger Symphonie,

Hör ich den Schreckensstrom der Leiden rauschen,

Ein wimmernd Heulen wie von Schlächtervieh.[319]

Hör ich Gebet mit wildem Fluche tauschen

Und Todesschrei, wie er aus Jesus schrie,

Hör ich des Lebens mildere Akkorde

Zerschelln im wüsten Lärm der Massenmorde.


Und von den Schreien, die gen Himmel branden,

Fühl ich erbeben dieses Berges Mark,

Was Menschen jemals Menschliches empfanden,

Rührt an der Erde Festen riesenstark.

Ich fühle, wie ein Herz aus allen Landen

Zusammenpocht hier in Prometheus Park;

Ich fühle sich der Seelen Seele spannen

Im Kerne des Granits – den Fluch zu bannen:


»Zu viel Entsetzen trug der Erde Rücken,

Die Mutter Gäa trug zu viel des Wehs,

O bräche der Zerstörerstern zu Stücken,

Versinkend in dem Pfuhl des Höllensees!

Mir graut, mich jung mit grünem Laub zu schmücken,

Befleckt vom Mal des mordgetränkten Schnees.

Besudelt und verpestet Wälder, Auen!

Mein Sinn vergeht vor Grauen, Grauen, Grauen.


Schuf Er mich nicht zum ewigen Paradiese,

Der den Gestirnen ihre Bahnen weist,

Und will Er, daß in stetem Kampf erkiese

Der Erdensohn, was er sein Schicksal heißt,[320]

Daß er im Ringen nur sich glücklich priese,

Erlöser seiner selbst durch Tatengeist –

So mög' Er ihm, der heldisch sich erhoben,

Auch Kraft verleihn, den höchsten Kampf zu proben.


Und meiner Stimme zürnend Ungewittern

Dröhnt dir, o Mensch, die letzte Warnung zu:

Verblendeter! Die Heiligtümer zittern.

Wie lange noch, wie lange rasest du?

Die Säulen bersten, und die Balken splittern,

Der Bau des Lebens bricht. O lasest du

So blind im Buch der Dichter und der Weisen?

Nie wird die Welt geheilt durch Blut und Eisen.


Aus rohen Banden gieriger Gewalten

Entkette dich zu menschenwürdigem Bund!

Dein Völkerschicksal mußt du neu gestalten

Durch Recht und Ordnung! spricht der Erde Mund.

Die Tigertatzen, die dein Hirn umkrallten,

Beschneide kühn! Sie reißen todeswund.

Zu edlern Kämpfen deine Kraft zu stählen,

Sollst du, o Mensch, den Bund der Freiheit wählen!«


So mächtig klang der Erde Klag' und Mahnen

Mit weher Mutterstimme mir ans Ohr. –

Nun sei mir Losungswort, den Weg zu bahnen,

Der uns erschließt des künftigen Lebens Tor![321]

Zieht hell voran, ihr weißen Wolkenfahnen,

Weltfriedenszeichen zart im Rosenflor:

Muß sich die irre Zeit in Krämpfen winden,

Die Binde fällt. Der Wahn muß Heilung finden.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 318-322.
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