Beim Tiroler

[200] Ein Trinkspruch


Der Wein wuchs in Tirol

Und nicht zu meinem Leide –

Ihn trank mein Ahne wohl,

Der von der Vogelweide.

Herr Walter war daheim

Bei Brixen oder Bozen,

Wo von dem starken Seim

Die blauen Beeren strotzen.

So will ich als Genoß

Ihn freundlich aufbeschwören,

In kühlem Weingeschoß

Soll er mein Prosit hören.

Willkommen, edler Gast!

An diesem Tisch verweile!

Der du »diu mâze« hast

Erwählt zu deinem Heile.

Tief aus dem Weinpokal

Der Welt hast du getrunken,

Nie ward der Trank dir schal,

Zu Asche nie dein Funken.

Der Minne Heidebett,

Die Lust der süßen Frauen,[201]

Des Kampfes Ruhestätt' –

Laß dir ins Auge schauen!

Du warst in wirrer Zeit

Ein lebensweiser Singer,

Mit frommer Innigkeit

Ein tapfrer Freudenbringer.

Du schenkst gewiß auch heut

Bei diesem Trunk, dem stillen,

Mir, was das Herz erfreut,

Und scheuchst die feigen Grillen.

Was uns das Leben bringt

An schmerzlichem Erfahren,

Ein kleiner Vogel singt

Seit vielen hundert Jahren:

»Kommst du in düstern Wald,

Und regnet's rings von Püffen

Aus hohlem Hinterhalt –

Freund, laß dich nicht verblüffen!

Lach in die dickste Nacht

Und schreite unerschrocken

Zum Tort der Niedertracht!

Sie bleibt im Finstern hocken.

Du aber gehst getrost

Mit deines Liedes Segen,

Ob dich der Spuk umtost,

Dem Morgenlicht entgegen.«[202]

In diesem Sinn, stoß an,

Herr Walter von Tirole:

Wenn man drauf pfeifen kann –

Der argen Welt zum Wohle!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 200-203.
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