Verzicht und Erhebung

1.

[208] Lautlos schweben die Flocken,

Möwen schwinden im Fluß ...

Seele, schwer erschrocken,

Gib dich dem schweigenden Muß!


Was soll dein versagendes Ringen

Mit allem, was ruchlos dich quält?

Schleppst die geplünderten Schwingen

Mühsam weiter und klammerst

Dich an schwaches Geröll, höhnisch vom Schicksal gequält.


Opfre die blutenden Stunden,

Seele, verborgnem Verzicht!

Riesele, Schnee, auf die Wunden,

Mit deinem weißen Bahrtuch

Hülle, verhülle sie dicht!
[209]

2.

Verblutet am Wege? Die Schwingen zerschossen?

Sei Schicksal, Mensch! Schaffe die Flügel dir nach!

Erhebe dich über dich! Blut ist geflossen,

So speise dich frisch aus ursprünglichem Bach!


So tränke dich neu aus unendlichem Borne,

So stähle die Schwingen dir jenseits der Zeit

Und presse sie fest in aufhämmerndem Zorne,

Vom Erzengel Michael selber gefeit!


Daß je du ermattest, sei niedrige Märe,

Vom Maul des Vernichters geheult in dein Ohr!

Kriegt Schicksal dich unter? Erschüttre die Sphäre

Mit Schöpfergewalt – und wirf dich empor!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 208-210.
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