Ein Rosengrab

[363] Ein Kindlein war geboren,

Ein Mägdlein zart und licht;

Ach, ist es denn verloren?

Ich such', und find' es nicht.


Die blauen Augen blickten

Mich an so fromm und mild,

Und goldne Locken schmückten

Das liebe klare Bild.


Es saß so lieb und sinnig

Auf grüner Frühlingsau

Und lächelte so innig

Hinauf in's Himmelsblau.
[364]

Ich sah es wol im Garten,

Wenn hell der Lenz erschien,

Der Maienblumen warten

Und selbst wie Blümlein blühn.


Es ging so gern alleine

Im frühen Morgenroth;

Wo ist das Kindlein reine?

Sagt, Blumen, ist es todt?


»Wie man so pflegt zu sagen,

Du fremder Wandersmann;

Doch laß Dein ängstlich Fragen

Und sieh uns Rosen an.


Wir weißen Rosen scheinen

Von einem Hügel klein,

Da legten sie mit Weinen

Ein Mägdlein jüngst hinein,


Das schlief auf Maienglocken

So still, unschuldig, fein,

Das schmückten goldne Locken

Fast wie ein Engelein.
[365]

Wir weißen Rosen blühen

Gern über seiner Brust;

Doch was wir aus ihm blühen,

Das ist uns unbewußt.


Hast Du nach ihm Verlangen,

So sieh zum Himmel auf;

Es ist nur heimgegangen;

Willst Du nicht auch hinauf?


Wir Rosen müssen stehen

Hier als des Todes Zier,

Und wenn wir welk vergehen,

Mein Freund, dann sprechen wir:


Staub wird dies Lustgewimmel

Der Blumen Glanz und Gluth.

Der Vater in dem Himmel

Allein ist schön und gut.«


Berlin, 1815.


Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 363-366.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lieder (Ausgabe von 1879)
Lieder: Ausgabe von 1879
Lieder aus dem Nachlaß

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon