Spät-Rosenknösplein

[386] Was willst du noch, du zartes Kind, hienieden?

Der Lenz ist schon zu schön'rer Flur entrückt.

Dann sind die bunten Schwestern auch geschieden,

Ein früher Herbst hat sie im Keim geknickt.


»Ich stand so einsam an der kalten Mauer,

Von allen Freuden war ich fern gebannt,

Und um mich her war Schatten nur und Trauer;

Denn Dornen viel und Steine trägt das Land.


»Da wußt' ich nicht in meinem öden Thale,

Daß auf der Flur die Maiensonne lacht,

Bis mir in einem süßen, sel'gen Strahle

Ein Rosenleben in der Brust erwacht.


»Nun mußt' ich mich in frommer Lust entfalten,

Es brach so morgenroth aus lichtem Grün;

Ich konnte nicht die Blättlein länger halten,

Sie wollten all' dem Licht entgegen blühn.
[387]

»Nun wollt' ich recht in meiner Fülle prangen

Und sah umher, und suchte nun mein Licht;

Da war die milde Sonne weggegangen –

Ein rauher Wind fuhr um mein Angesicht.


»Da hab' ich fest mich wieder eingeschlossen

Und habe still im Herzen fortgeblüht

Und um mich her ist linder Thau geflossen,

Sonst wär' ich wohl erstorben und verglüht.


»Nun will ich mich noch einmal hold erschließen,

Der milden Abendsonne noch mich freu'n,

Will einmal noch den süßen Schimmer grüßen,

Dann still die welken Blättlein nieder streu'n.


»Ade! du mußt noch andern Fluren scheinen;

Mich hat ein früher Nord schon abgeknickt.

Ade! ein Frühling wird uns einst vereinen,

Ein Morgen, der uns ewiglich beglückt.«

Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 386-388.
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