Die arme Näherin

[266] »Die Sonne scheint heiter am Himmelszelt,

Ich will hinaus gehn in's weite Feld.

Ich schreite wohl über den klaren Schnee,

Im Herzen doch trag' ich manch dunkeles Weh.


Die Sonne winkt mir so freundlich zu,

Als frage sie, was ich denn weinen thu'.

O liebe Sonne, o herrliches Licht,

Du verstehst ja die Schmerzen der Menschen nicht!


Daheim die Mutter liegt bleich und krank,

Ist Wittwe schon zwei Jahre lang,

O ja, daheim ist bittere Noth,

Ist für den kleinen Bruder kein Brod.


Ich nähe und stricke wol Nacht wie Tag

Und schaue, was ich erwerben mag;

Ich sticke die Blumen so bunt und fein;

Mir selber doch blühet kein Blümelein.
[267]

Was scheinst du denn, Sonne, so hell und warm?

Mich weckest du nicht aus meinem Harm.

O, läg' ich tief unter dem kühlen Schnee,

Da wüßt' ich doch nichts von Jammer und Weh!«–


Und weiter wandert Margareth;

Da steht ein Kreuz am Weg erhöht,

Das spricht zu ihr von Schuld und Huld

Und mahnt an heilige Geduld.


Fromm grüßet sie das Leidensbild,

Das blickt auf sie so ernst, so mild,

Da fühlt sie Scham und Reueschmerz,

Und Friede kehrt in's kranke Herz.


»O Vater, vergieb mir die schwere Schuld,

Verzeihe mein Zagen und gieb Geduld!

Ich weiß ja, Du bist nimmer fern;

Nun will ich Alles tragen gern.


Nun will ich still nach Hause geh'n,

Will herzlich beten und fleißig näh'n,

Die Mutter pflegen mit sanftem Muth;

Ich weiß ja, Du machst Alles gut.«

Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 266-268.
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