Innere Einsamkeit

[167] Seit Er gestorben, den ich liebe,

Ist mir so fremd und leer die Welt,

Und all mein Sinnen, meine Triebe,

Sie ziehn zum blauen Himmelszelt.


Dorthin ist Er vorangegangen,

Um Den mein trübes Auge thränt.

Dort ist's, wo meine Kronen hangen,

Dort ist, wonach mein Herz sich sehnt.


Ich kann nicht mehr hienieden wohnen.

Hier hab' ich keine Liebe mehr.

Der Erde Kränz' und eitle Kronen

Sind meiner heißen Stirn zu schwer.
[168]

O, warum ist aus Seinen Wunden

Das Leben mir nicht auch entflohn?

Ich hätte Ruh' in Ihm gefunden

Und kniete schon an Seinem Thron. –


Nun muß ich mit gebroch'nem Herzen

Zu Spiel und Mahl und Festen gehn

Und muß mit stillverhehlten Schmerzen

Der Menschen eitles Treiben sehn.


Und pflege doch dies bange Beben,

Das tiefe Weh im Herzen gern;

Und würd' ich um die Welt es geben,

Erst dann wär' Er mir todt und fern.


Jetzt ist Er bei mir in den Schmerzen,

Nur wenn ich Sein nicht denke, todt.

Noch dämmert leise mir im Herzen

Der schönsten Tage Abendroth.


Oft wird die Seele mir so muthig,

Schau' ich der sanften Röthe nach.

Und denke, wie für mich so blutig

Sein treues Herz in Liebe brach. –
[169]

Zwar meine Nacht ist kalt und trübe,

Und was mich freute – es ist todt.

Doch, Heil! bald schimmert meiner Liebe

Des Hochzeittages Morgenroth.


Da zieht mit treuen Liebesarmen

Mich der Geliebte himmelwärts,

An Seiner Brust werd' ich erwarmen

Und selig lächeln wird der Schmerz.


O selig, selig, Den zu küssen,

Der aller Liebe Urquell ist!

O schrecklich, schrecklich, Ihn zu missen,

Der alle Wonnen in sich schließt! –


19. März 1820.


Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 167-170.
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Lieder (Ausgabe von 1879)
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