Das Gewissen

[501] Wann kommt der Herr der Herrlichkeit

Mit seines Reiches Freuden?

Wann kommt der Richter, Freud' und Leid,

Und Bös und Gut zu scheiden?

Er ist nicht fern, er ist uns nah;

In unserm Herzen ist er da!

Du kannst ihn nicht vermeiden.


In unserm Herzen spricht sein Spruch;

Wer mag den Spruch bestehen?

Frei aufgeschlagen ist sein Buch

Mit jeglichem Vergehen.

Sein Blick wie Feuerflamme fährt

Und theilt wie ein zweischneidig Schwert,

Was keine Augen sehen.


Was keines Feindes Mund erzählt,

Erzählt uns das Gewissen;

Was sich der Heuchler lang' verhehlt,

Wird er sich sagen müssen,

Wenn Gottes Zeit kommt und ihn schilt,

Wenn Gottes Zeit kommt und vergilt

Und läßt den Frevler büßen.
[501]

Wem kam nicht diese Gotteszeit

So oft und oft im Leben?

Wer muß nicht die Gerechtigkeit

Anflehn, ihm zu vergeben?

Und fühlt in seinem Innern noch

Viel stumme Schulden, denen doch

Er einst wird müssen beben!


Du Herzensrichter, auf! erfahr

Und prüfe, wie wir's meinen!

Mach unsre Fehl uns offenbar;

Was nützt es, gut zu scheinen!

Dem Ausspruch des Gewissens treu

Und feind sein jeder Heuchelei,

Dies stellt uns zu den Deinen.


Denn wen sein eignes Herz beschämt

Mit innerstem Beschämen,

Die Schuld, die uns im Innern grämt,

Wer könnt' uns die entnehmen?

Herr, gieb, daß wir der Sünde Schritt

Und Deiner Strafe leisen Tritt,

Eh sie uns naht, vernehmen!


Und wenn die letzte Stunde schlägt,

Der Niemand kann entgehen,

So gieb, Herr, daß wir unbewegt

Auf unser Innres sehen,

Daß unser Leben uns dann klar

Und rein erschein' und offenbar

Das kleineste Vergehen!


Dann sprich in uns, o Richter: »Komm!

Dein Lohn ist Dir beschieden.

Was Du gethan hast gut und fromm

Dem Dürftigsten hienieden,

Das hast der Menschheit Du gethan,

Dem Menschensohne. Komm hinan!

Genieße Himmelsfrieden!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 501-502.
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