16. Ulrich und Aennchen
Deutsch

[42] Es ritt einst Ulrich spazieren aus,

Er ritt wohl vor lieb Aennchens Haus:

Lieb Aennch'n, willt mit in grünen Wald?

Ich will dir lernen den Vogelsang.


Sie giengen wohl mit einander fort;

Sie kamen an eine Hasel dort;

Sie kamen ein Fleckchen weiter hin;

Sie kamen auf eine Wiese grün.


Er führte sie ins grüne Gras,

Er bat, lieb Aennchen niedersaß,

Er legt' seinen Kopf in ihren Schoos,

Mit heissen Thränen sie ihn begoß.


»Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,

Warum weinst du denn so sehr um ein'n?

Weinst irgend um deines Vaters Gut?

Oder weinest um dein junges Blut?


Oder bin ich dir nicht schön genug?«

»Ich weine nicht um meines Vaters Gut,

Ich wein auch nicht um mein junges Blut,

Und, Ulrich, bist mir auch schön genug.
[42]

Da droben auf jener Tannen,

Eilf Jungfraun sah ich hangen.«

»Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,

Wie bald sollst du die zwölfte seyn!«


»Soll ich denn nun die zwölfte seyn?

Ich bitt, ihr wollt mir drey Schrey verleihn.«

Den ersten Schrey und den sie that,

Sie rufte ihren Vater an.


Den andern Schrey und den sie that,

Sie ruft ihren lieben Herr Gott an.

Den dritten Schrey und den sie that,

Sie ruft ihren jüngsten Bruder an.


Ihr Bruder saß beim rothen kühlen Wein,

Der Schall der fuhr zum Fenster hinein:

»Höret ihr, Brüder alle,

Meine Schwester schreit aus dem Walde.


Ach Ulrich, lieber Ulrich mein,

Wo hast du die jüngste Schwester mein?«

»Dort droben auf jener Linde,

Schwarzbraune Seide thut sie spinnen.«


»Warum sind deine Schuh so blutroth?«

– –– –– –– –– –– –– –

»Warum sollten sie nicht blutroth seyn?

Ich schoß ein Turteltäubelein.«


»Das Turteltäublein, das du erschoßt,

Das trug meine Mutter unter ihrer Brust.«

– –– –– –– –– –– –– –

– –– –– –– –– –– –– –


Lieb Aennchen kam ins tiefe Grab,

Schwager Ulrich auf das hohe Rad,

Um Aennchen sungen die Engelein,

Um Ulrich schrien die Raben klein.[43]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart 1975, S. 42-44.
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