Viertes Naturgesetz

[212] So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das menschliche Geschlecht ein progressives Ganze von einem Ursprunge in einer großen Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung.

Der sonderbare charakteristische Plan ist bemerkt, der über einen Menschen waltet: seine Seele ist gewohnt, immer das, was sie sieht, zu reihen mit dem, was sie sähe, und durch Besonnenheit wird also ein progressives eins aller Zustände des Lebens – mithin Fortbildung der Sprache.

Der sonderbare charakteristische Plan ist bemerkt, der über ein Menschengeschlecht waltet, daß durch die Kette des Unterrichts Eltern und Kinder eins werden und jedes Glied also nur von der Natur zwischen zwei andre hingeschoben wird, um zu empfangen und mitzuteilen – dadurch wird Fortbildung der Sprache.

Endlich geht dieser sonderbare Plan auch aufs ganze Menschengeschlecht fort; und dadurch wird eine Fortbildung im höchsten Verstande, die aus den beiden vorigen unmittelbar folgt.

Jedes Individuum ist Mensch, folglich denkt er die Kette seines Lebens fort. Jedes Individuum ist Sohn oder Tochter: ward durch Unterricht gebildet: folglich bekam es immer einen Teil der Gedankenschätze seiner Vorfahren frühe mit und wird sie nach seiner Art weiterreichen – also ist auf gewisse Weise kein Gedanke, keine Erfindung, keine Vervollkommung, die nicht weiter, fast ins Unendliche reiche. So wie ich keine Handlung tun, keinen Gedanken denken kann, der nicht auf die[212] ganze Unermeßlichkeit meines Daseins natürlich hinwürke, so nicht ich und kein Geschöpf meiner Gattung, was nicht mit jedem auch für die ganze Gattung und für das fortgehende Ganze der ganzen Gattung würke. Jedes treibt immer eine große oder kleine Welle: jedes verändert den Zustand der einzelnen Seele, mithin das Ganze dieser Zustände; würkt immer auf andre; verändert auch in diesen etwas – der erste Gedanke in der ersten menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der letzten menschlichen Seele zusammen.

Wäre Sprache dem Menschen so angeboren als den Bienen der Honigbau, so zerfiele mit einmal dies größeste prächtigste Gebäude in Trümmern! Jeder brächte sich sein wenig Sprache auf die Welt, oder, da doch das Auf-die-Welt-Bringen für eine Vernunft nichts heißt als sie sich gleich erfinden – welch ein trauriges Einzelne wird jeder Mensch! Jeder erfindet seine Rudimente, stirbt über ihnen, und nimmt sie ins Grab, wie die Biene ihren Kunstbau: der Nachfolger kommt, quält sich über denselben Anfängen, kommt ebensoweit oder ebensowenig weit, stirbt – und so geht's ins Unendliche. Man siehet, der Plan, der über die Tiere geht, die nichts erfinden, kann nicht über Geschöpfe gehen, die erfinden müssen, oder es wird ein planloser Plan! Erfindet jedes für sich allein, so wird unnütze Mühe ins Unendliche verdoppelt und der erfindende Verstand seines besten Preises beraubt, zu wachsen.

Was für Grund hätte ich nun, irgendwo in der Kette stillezustehen und nicht, solange ich denselben Plan wahrnehme, auch auf die Sprache hinaufzuschließen? Kam ich auf die Welt, um sogleich in den Unterricht der Meinigen eintreten zu müssen, so mein Vater, so der erste Sohn des ersten Stammvaters auch, und wie ich meine Gedanken um mich und in meine Abfolge breite, so mein Vater, so sein Stammvater; so der erste aller Väter. Die Kette reicht fort und steht nur bei einem, dem ersten, stille: so sind wir alle seine Söhne: von ihm fängt sich Geschlecht, Unterricht, Sprache an. Er hat zu erfinden angefangen; wir alle haben ihm nacherfunden, bilden und mißbilden. Kein Gedanke in einer menschlichen Seele war verloren; nie aber war auch eine Fertigkeit dieses Geschlechts auf einmal ganz da wie bei den Tieren: zufolge der ganzen Ökonomie war sie immer im Fortschritte, im Gange: nichts Erfundnes wie der Bau einer Zelle, sondern alles im Erfinden, im Fortwürken, strebend. In diesem Gesichtspunkt, wie groß wird die Sprache![213] Eine Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art etwas beitrug! eine Summe der Würksamkeit aller menschlichen Seelen.

Höchstens – tritt hier die vorige Philosophie, die den Menschen gern als ein Land- und Domänengut betrachten möchte, dazwischen –, höchstens dürfte diese Kette doch wohl nur bis an jeden einzelnen ersten Stammvater eines Landes reichen, von dem sich sein Geschlecht wie seine Landsprache erzeugte.32 Ich wüßte nicht, warum sie nur bis dahin und nicht weiter reichen sollte? warum diese Landesväter nicht wieder unter sich einen Erdenvater könnten gehabt haben, da die ganze fortgehende Ähnlichkeit der Haushaltung dieses Geschlechts es so fordert, »Ja«, hörten wir den Einwurf, »als wenn's weise gewesen wäre, ein schwaches, elendes Menschenpaar in einen Winkel der Erde zum Raube der Gefahr auszustellen?« – und als wenn's weiser gewesen wäre, viele solche schwache Menschenpaare einzeln in verschiedene Winkel der Erde zum Raube zehnfach ärgerer Gefahren zu machen? Der Fall wagender Unvorsichtigkeit ist nicht bloß überall derselbe, sondern er wird auch mit jeder Vervielfältigung unendlich vermehrt. Ein Menschenpaar, irgendwo, im besten, bequemsten Klima der Erde, wo die Jahreszeit ihrer Nacktheit am wenigsten strenge ist, wo der fruchtbare Boden den Bedürfnissen ihrer Unerfahrenheit von selbst zustatten kommt, wo gleichsam alles umhergelagert ist wie eine Werkstätte, um der Kindheit ihrer Künste zu Hülfe zu kommen – ist dies Paar nicht weiser versorgt als jedes andre menschliche Landtier, was unter dem unfreundlichsten Himmel in Lappland oder Grönland, mit der ganzen Dürftigkeit der nackten, erfrornen Natur umgeben, den Klauen ebenso dürftiger, hungriger und um so grausamerer Tiere, mithin unendlich mehrern Ungemächlichkeiten ausgesetzt ist? Die Sicherheit der Erhaltung nimmt also ab, je mehr die ursprünglichen Erdemenschen verdoppelt werden. Und denn, wie lange bleibt das Paar im seligem Klima ein Paar? Es wird bald Familie, bald kleines Volk, und wenn es sich nun, als Volk, ausbreitet: es kommt in ein ander Land – es kommt schon als Volk hinein – wie weiser! wie sichrer! Viel an Anzahl, mit gehärteten Körpern, mit versuchten Seelen, ja mit dem ganzen Schatze von Erfahrungen ihrer Vorfahren beerbt – wie vielfach also verstärkte und verdoppelte Seelen! Nun sind sie fähig, sich bald zu Landgeschöpfen[214] dieser Gegend zu vervollkommen! Sie werden in kurzem so eingeboren als die Tiere des Klima mit Lebensart, Denkart und Sprache – beweiset nicht aber ebendies den natürlichen Fortgang des menschlichen Geistes, der sich aus einem gewissen Mittelpunkt zu allem bilden kann? Es kommt nie auf eine Menge bloßer Zahlen, sondern auf die Gültigkeit und Progression ihrer Bedeutung: nie auf eine Menge schwacher Subjekte, sondern auf Kräfte an, mit denen sie würken. Diese würken eben im simpelsten Verhältnis am stärksten; und nur die Bande umfangen also das ganze Geschlecht, die von einem Punkte der Verknüpfung ausgehen.

Ich lasse mich in keine weitere Gründe dieses einstämmigen Ursprungs ein: daß z. E. noch keine wahren Data von neuen Menschengattungen, die diesen Namen, wie die Tiergattungen, verdienten, aufgefunden sind; daß die offenbar allmähliche und fortgehende Bevölkerung der Erde gerade das Gegenteil von eingebornen Landtieren zeige; daß die Kette der Kultur und ähnlicher Gewohnheiten es auch, nur dunkler, zeige usw.; ich bleibe bei der Sprache. Wären die Menschen Nationaltiere, wo jedes die seinige sich ganz unabhängig und abgetrennt von andern selbst erfunden hätte: so müßte diese gewiß eine Verschiedenartigkeit zeigen, als vielleicht die Einwohner des Saturns und der Erde gegeneinander haben mögen – und doch gebt bei uns offenbar alles auf einem Grunde fort. Auf einem Grunde nicht bloß, was die Form, sondern was würklich den Gang, des menschlichen Geistes betrifft: denn unter allen Völkern der Erde ist die Grammatik beinahe auf einerlei Art gebaut. Die einzige chinesische macht, meines Wissens, eine wesentliche Ausnahme, die ich mir aber als Ausnahme sehr zu erklären getraue – wie viel Chinesergrammatiken, und wie viele Arten derselben müßten sein, wenn die Erde voll spracherfindender Landtiere gewesen wäre!

Woher kommt's, daß so viel Völker ein Alphabet haben, und doch fast nur ein Alphabet auf dem Erdboden sei? Der sonderbare, und schwere Gedanke, sich aus den Bestandteilen der willkürlichen Worte, aus Lauten, willkürliche Zeichen zu bilden, ist so springend, so verwickelt, so sonderbar, daß es gewiß unerklärlich wäre, wie viele und so viele auf den einen so entfernten Gedanken, und alle ganz auf eine Art auf ihn gefallen wären. Daß sie alle die weit natürlichem Zeichen, die Bilder von Sachen vorbeiließen und Hauche malten, unter[215] allen möglichen dieselben zwanzig malten und sich gegen die übrigen fehlenden dürftig behalfen, daß zu diesen zwanzig so viele dieselben willkürlichen Zeichen nahmen – wird hier nicht Überlieferung sichtbar? Die morgenländischen Alphabete sind im Grunde eins: das griechische, lateinische, runische, deutsche usw. Ableitungen: das deutsche hat also noch mit dem koptischen Buchstaben gemein, und Irländer sind kühn gnug gewesen, den Homer für eine Übersetzung aus ihrer Sprache zu erklären. Wer kann, so wenig oder viel er drauf rechne, im Grunde der Sprachen Verwandschaft ganz verkennen? Wie eilt Menschenvolk nur auf der Erde wohnet, so auch nur eine Menschensprache: wie aber diese große Gattung sich in so viele kleine Landarten nationalisiert hat: so ihre Sprachen nicht anders.

Viele haben sich mit den Stammlisten dieser Sprachengeschlechter versucht; ich versuche es nicht – denn wie viele, viele Nebenursachen konnten in dieser Abstammung und in der Kenntlichkeit dieser Abstammung Veränderungen machen, auf die der etymologisierende Philosoph nicht rechnen kann und die seinen Stammbaum trügen. Zudem sind unter den Reisebeschreibern und selbst Missionarien so wenig wahre Sprachphilosophen gewesen, die uns von dem Genius und dem charakteristischen Grunde ihrer Völkersprachen hätten Nachricht geben können oder wollen, daß man im allgemeinen hier noch in der Irre gehet. Sie geben Verzeichnisse von Wörtern – und aus dem Schällenkrame soll man schließen! Die Regeln der wahren Sprachdeduktion sind auch so fein, daß wenige – – doch das ist alles nicht mein Werk! Im Ganzen bleibt das Naturgesetz sichtbar: Sprache pflanze und bilde sich mit dem menschlichen Geschlechte fort; in diesem Gesetze zähle ich nur Hauptarten auf, die verschiedne Dimension geben.

I. Jeder Mensch hat freilich alle Fähigkeiten, die sein ganzes Geschlecht, und jede Nation die Fähigkeiten, die alle Nationen haben; es ist indessen doch wahr, daß eine Gesellschaft mehr als ein Mensch und das ganze menschliche Geschlecht mehr als ein einzelnes Volk erfinde; und das zwar nicht bloß nach Menge der Köpfe, sondern nach vielfach- und innigvermehrtern Verhältnissen. Man sollte denken, daß ein einsamer Mensch, ohne drängende Bedürfnisse, mit aller Gemächlichkeit der Lebensart z.E. viel mehr Sprache erfinden, daß seine Muße ihn dazu antreiben werde, seine Seelenkräfte zu üben, mithin immer[216] etwas Neues zu erdenken usw.; allein das Gegenteil ist klar. Er wird ohne Gesellschaft immer auf gewisse Weise verwildern und bald in Untätigkeit ermatten, wenn er sich nur erst in den Mittelpunkt gesetzt hat, seine nötigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er ist immer eine Blume, die, aus ihren Wurzeln gerissen, von ihrem Stamm gebrochen, daliegt und welkt. – – Setzt ihn in Gesellschaft und mehrere Bedürfnisse: er habe für sich und andre zu sorgen; man sollte denken, diese neue Lasten nehmen ihm die Freiheit, sich emporzuheben; dieser Zuwachs von Peinlichkeiten die Muße, zu erfinden; aber gerade umgekehrt. Das Bedürfnis strengt ihn an: die Peinlichkeit weckt ihn: die Rastlosigkeit hält seine Seele in Bewegung: er wird desto mehr tun, je wundersamer es wird, daß er's tue. So wächst also die Fortbildung einer Sprache von einem einzelnen bis zu einem Familienmenschen schon in sehr zusammengesetztem Verhältnis. Alles andre abgerechnet, wie wenig würde doch der Einsame, selbst der einsame Sprachenphilosoph auf seiner wüsten Insel erfinden! wie viel mehr und stärker der Stammvater, der Familienmann: die Natur hat also diese Fortbildung gewählet.

II. Eine einzelne, abgetrennte Familie, denkt man, wird ihre Sprache bei Bequemlichkeit und Muße mehr ausbilden können, als bei Zerstreuungen, Krieg gegen einen andern Stamm usw.; allein nichts weniger. Je mehr sie gegen andre gekehrt ist, desto stärker wird sie in sich zusammengedrängt: desto mehr setzt sie sich auf ihre Wurzel, macht die Taten ihrer Vorfahren zu Liedern, zu Aufrufungen, zu ewigen Denkmalen: erhält dieses Sprachandenken um desto reiner und patriotischer – die Fortbildung der Sprache, als Mundart der Väter, gebt desto stärker fort: darum hat die Natur diese Fortbildung gewählet.

III. Mit der Zeit aber setzt sich dieser Stamm, wenn er in eine kleine Nation angewachsen ist, auch in seinen Zirkel fest. Er hat seinen gemeßnen Kreis von Bedürfnissen und für diese auch Sprache. Weiter gehet er nicht, wie wir an allen kleinen sogenannten barbarischen Nationen sehen. Mit ihren Notwendigkeiten abgeteilt, können sie jahrhundertelang in der sonderbarsten Unwissenheit bleiben, wie jene Inseln ohne Feuer und so viel andre Völker ohne die leichtesten mechanischen Künste. Es ist, als ob sie nicht Augen hätten, zu sehen, was ihnen vorliegt. Daher alsdenn das Geschrei andrer Völker auf solche als auf dumme, unmenschliche Barbaren; da wir alle doch vor weniger Zeit ebendieselben Barbaren waren und diese[217] Kenntnisse nur von andern Völkern bekamen! Daher auch das Geschrei so mancher Philosophen über diese Dummheit als die unbegreiflichste Sache, da doch nach der Analogie der ganzen Haushaltung mit unsrem Geschlecht nichts begreiflicher ist als sie! – Hier hat die Natur eine neue Kette geknüpft, die Überlieferung von Volk zu Volk! So haben sich Künste, Wissenschaften, Kultur und Sprache in einer großen Progression Nationen hin verfeinert – das feinste Band der Fortbildung, was die Natur gewählet.

Wir Deutsche würden noch ruhig, wie die Amerikaner, in unsern Wäldern leben, oder vielmehr noch in ihnen rauh kriegen und Helden sein, wenn die Kette fremder Kultur nicht so nah an uns gedrängt und mit der Gewalt ganzer Jahrhunderte uns genötigt hätte, mit einzugreifen. Der Römer holte so seine Bildung aus Griechenland, der Grieche bekam sie aus Asien und Ägypten, Ägypten aus Asien, China vielleicht aus Ägypten – so geht die Kette von einem ersten Ringe fort und wird vielleicht einmal über die Erde reichen. Die Kunst, die einen griechischen Palast bauete, zeigt sich bei dem Wilden schon im Bau einer Waldhütte; wie die Malerei Mengs' und Dietrichs schon im rohesten Grunde auf dem rotbemalten Schilde Hermanns glänzte. Der Eskimo vor seinem Kriegsheere hat schon alle Keime zu einem künftigen Demosthen und jene Nation von Bildhauern am Amazonenstrome33 vielleicht tausend künftige Phidias. Lasset nur andre Nationen vor- und jene umrücken: so ist alles, wenigstens in den gemäßigten Zonen, wie in der alten Welt. Ägypter und Griechen, und Römer und Neuere taten nichts als fortbauen; Perser, Tartaren, Goten und Pfaffen kommen dazwischen und machen Trümmern; desto frischer bauet sich's aus und nach und auf solchen alten Trümmern weiter. Die Kette einer gewissen Vervollkommung der Kunst geht über alles fort (obgleich andre Eigenschaften der Natur wiederum dagegen leiden) und so auch über die Sprache. Die arabische ist ohne Zweifel hundertmal feiner als ihre Mutter im ersten rohen Anfange: unser Deutsch ohne Zweifel feiner als das alte Keltische: die Grammatik der Griechen konnte besser sein und werden als die morgenländische, denn sie war Tochter: die römische philosophischer als die griechische, die französische als die römische: – ist der Zwerg auf den Schultern des Riesen nicht immer größer als der Riese selbst?[218]

Nun sieht man auf einmal, wie trüglich der Beweis für die Göttlichkeit der Sprache aus ihrer Ordnung und Schönheit werde – Ordnung und Schönheit sind da, aber wenn, wie und woher gekommen? Ist denn diese so bewunderte Sprache die Sprache des Ursprungs? oder nicht schon das Kind ganzer Jahrhunderte und vieler Nationen? Siehe! an diesem großen Gebäude haben Nationen und Weltteile und Zeitalter gebauet; und darum konnte jene arme Hütte nicht der Ursprung der Baukunst sein? darum mußte gleich ein Gott die Menschen solchen Palast bauen lehren? weil Menschen gleich solchen Palast nicht hätten bauen können – welch ein Schluß! und welch ein Schluß überhaupt ist's: diese große Brücke zwischen zwo Bergen begreife ich nicht ganz, wie sie gebauet sei – folglich hat sie der Teufel gebauet! Es gehört ein großer Grad Kühnheit oder Unwissenheit dazu, zu leugnen, daß sich nicht die Sprache mit dem menschlichen Geschlecht nach allen Stufen und Veränderungen fortgebildet: das zeigt Geschichte und Dichtkunst, Beredsamkeit und Grammatik, ja, wenn alles nicht, so Vernunft. Hat sie sich nun ewig so fortgebildet und nie zu bilden angefangen? oder immer menschlich gebildet, so daß Vernunft nicht ohne sie, und sie ohne Vernunft nicht gehen konnte – und mit einmal ist ihr Anfang anders? und das so ohne Sinn und Grund anders, wie wir anfangs gezeigt? In allen Fällen wird die Hypothese eines göttlichen Ursprungs in der Sprache – versteckter, feiner Unsinn!

Ich wiederhole das mit Bedacht gesagte, harte Wort Unsinn! und will mich zum Schluß erklären. Was heißt ein göttlicher Ursprung der Sprache als entweder: ich kam die Sprache aus der menschlichen Natur nicht erklären: folglich ist sie göttlich – ist Sinn in dem Schlusse? Der Gegner sagt: ich kann sie aus der menschlichen Natur und aus ihr vollständig erklären – wer hat mehr gesagt? Jener versteckt sich hinter eine Decke und ruft hervor: Hier ist Gott! Dieser stellt sich sichtbar auf den Schauplatz, handelt – »sehet! ich bin ein Mensch!«

oder ein höherer Ursprung sagt: weil ich die menschliche Sprache nicht aus der menschlichen Natur erklären kann: so kann durchaus keiner sie erklären – sie ist durchaus unerklärbar: ist in dem Schlusse Folge? Der Gegner sagt: mir ist kein Element der Sprache in ihrem Beginn und in jeder ihrer Progression aus der[219] menschlichen Seele unbegreiflich: ja die ganze menschliche Seele wird mir unerklärbar, wenn ich in ihr nicht Sprache setze, das ganze menschliche Geschlecht bleibt nicht das Naturgeschlecht mehr, wenn's nicht die Sprache fortbildet – wer hat mehr gesagt? – wer sagt Sinn?

oder endlich die höhere Hypothese sagt gar: nicht bloß keiner kann die Sprache aus der menschlichen Seele begreifen: sondern ich sehe auch deutlich die Ursache, warum sie ihrer Natur und der Analogie ihres Geschlechts nach durchaus für Menschen unerfindbar war. Ja ich sehe in der Sprache und im Wesen der Gottheit die Ursache deutlich, warum keiner als Gott sie erfinden konnte. Nun bekäme zwar der Schluß Folge; aber nun wird er auch der gräßlichste Unsinn. Er wird so beweisbar, als jener Beweis der Türken von der Göttlichkeit des Korans: »wer anders, als der Prophet Gottes konnte so schreiben?« Und wer anders als ein Prophet Gottes kann auch wissen, daß nur der Prophet Gottes so schreiben konnte? Niemand als Gott konnte die Sprache erfinden! Niemand als Gott kann aber auch einsehen, daß niemand als Gott sie erfinden konnte! Und welche Hand kann es wagen, nicht bloß etwa Sprache und die menschliche Seele, sondern Sprache und Gottheit auszumessen?

Ein höherer Ursprung hat nichts für sich, selbst nicht das Zeugnis der morgenländischen Schrift, auf die er sich beruft : denn diese gibt offenbar der Sprache einen menschlichen Anfang durch Namennennung der Tiere. Die menschliche Erfindung hat alles für und durchaus nichts gegen sich: Wesen der menschlichen Seele und Element der Sprache; Analogie des menschlichen Geschlechts und Analogie der Fortgänge der Sprache – das große Beispiel aller Völker, Zeiten und Teile der Welt!

Der höhere Ursprung ist, so fromm er scheine, durchaus ungöttlich: Bei jedem Schritte verkleinert er Gott durch die niedrigsten, unvollkommensten Anthropomorphien. Der menschliche zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, sofern er menschlich ist.

Der höhere Ursprung ist zu nichts nütze, und äußerst schädlich. Er zerstört alle Würksamkeit der menschlichen Seele, erklärt[220] nichts und macht alles, alle Psychologie und alle Wissenschaften unerklärlich – denn mit der Sprache haben ja die Menschen alle Samen von Kenntnissen von Gott empfangen? Nichts ist also aus der menschlichen Seele? Der Anfang jeder Kunst, Wissenschaft und Kenntnis also ist immer unbegreiflich? Der menschliche läßt keinen Schritt tun ohne Aussichten und die fruchtbarsten Erklärungen in allen Teilen der Philosophie und in allen Gattungen und Vorträgen der Sprache. Der Verfasser hat einige hier geliefert und kann davon eine Menge liefern. – – – –

Wie würde er sich freuen, wenn er mit dieser Abhandlung eine Hypothese verdränge, die, von allen Seiten betrachtet, dem menschlichen Geist nur zum Nebel und zur Unehre ist, und es zu lange dazu gewesen! Er hat eben deswegen das Gebot der Akademie übertreten und keine Hypothese geliefert: denn was wär's, wenn eine Hypothese die andre auf- oder gleichwöge? und wie pflegt man, was die Form einer Hypothese hat, zu betrachten als wie philosophischen Roman – Rousseaus, Condillacs und andrer? Er befliß sich lieber, feste Data aus der menschlichen Seele, der menschlichen Organisation, dem Bau aller alten und wilden Sprachen und der ganzen Haushaltung des menschlichen Geschlechts zu sammlen und seinen Satz so zu beweisen, wie die festeste philosophische Wahrheit bewiesen werden kann. Er glaubt also mit seinem Ungehorsam den Willen der Akademie eher erreicht zu haben, als er sich sonst erreichen ließ – – –

32

Philosophie de l'historie etc., etc.

33

de la Condamine.

Quelle:
Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. Band 1, Berlin und Weimar 1978.
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