IV

Sitten- und Staatenweisheit der Griechen

[119] Die Sitten der Griechen waren so verschieden, als die Art ihrer Stämme, ihrer Gegenden und Lebensweise nach den Graden ihrer Kultur und einer Reihe von Glücks- und Unglücksfällen war, in welche sie der Zufall setzte. Der Arkadier und Athener, der Ionier und Epirote, der Spartaner und Sybarit waren nach Zeiten, Lage und Lebensweisen einander so unähnlich, daß mir die Kunst mangelt, ein trügerisches Gemälde von ihnen allen im ganzen zu entwerfen, dessen Züge widersprechender ausfallen müßten als das Bild jenes athenischen Demus, das Parrhasius malte221. Also bleibet uns[119] nichts übrig, als den Gang zu bemerken, den im ganzen die Sittenbildung der Griechen nahm, und die Art, wie sie sich mit ihrer Staateneinrichtung gesellte.

Wie bei allen Völkern der Erde ging ihre älteste Sittenkultur vorzüglich von der Religion aus, und sie hat sich lange in diesem Gleise gehalten. Die gottesdienstlichen Gebräuche, die sich in den verschiedenen Mysterien bis auf sehr politische Zeiten fortpflanzten, jene heiligen Rechte der Gastfreiheit und des Schutzes flehender Unglücklichen, ihre Sicherheit an heiligen Ortern, der Glaube an Furien und Strafen, die auch den unvorsätzlichen Mörder Geschlechter hinab verfolgten und mit dem ungerächten Blut über ein ganzes Land den Fluch brächten, die Gebräuche der Entsündigung und Götterversöhnung, die Stimme der Orakel, die Heiligkeit des Eides, des Herdes, der Tempel, Gräber u. f. waren in Gang gebrachte Meinungen und Anstalten, die ein rohes Volk bändigen und halbwilde Menschen allmählich zur Humanität bilden sollten.222 Daß sie ihr Geschäft glücklich bewirket, sehen wir, wenn wir die Griechen mit andern Nationen vergleichen; denn es ist unleugbar, daß sie durch diese Anstalten nicht nur bis an die Pforte der Philosophie und politischen Kultur, sondern tief ins Heiligtum derselben geführt wurden. Das einzige Delphische Orakel, wie großen Nutzen hat es in Griechenland gestiftet! So manchen Tyrannen und Bösewicht zeichnete[120] seine Götterstimme aus, indem sie ihm abweisend sein Schicksal sagte; nicht minder hat es viele Unglückliche gerettet, so manchen Ratlosen beraten, manche gute Anstalt mit göttlichem Ansehen bekräftigt, so manches Werk der Kunst oder der Muse, das zu ihm gelangte, bekannt gemacht und Sittensprüche sowohl als Staatsmaximen geheiligt. Die rohen Verse des Orakels haben also mehr gewirkt als die glattesten Gedichte späterer Dichter; ja den größesten Einfluß hatte es dadurch, daß es die hohen Staaten und Rechtsprecher Griechenlands, die Amphiktyonen, in seinen Schutz nahm und ihre Aussprüche gewissermaße zu Gesetzen der Religion machte. Was in spätem Jahrhunderten als ein einziges Mittel zum ewigen Frieden Europas vorgeschlagen ist, ein Gericht der Amphiktyonen223, war bei den Griechen schon da, und zwar nahe dem Thron des Gottes der Weisheit und Wahrheit, der durch sein Ansehen es heiligen sollte.

Nebst der Religion gehören alle Gebräuche hieher, die, aus Anstalten der Väter erwachsen, ihr Andenken den Nachkommen bewahrten; sie haben auf die Sittenbildung der Griechen fortdaurend gewirket. So z.B. gaben die mancherlei öffentlichen Spiele der griechischen Erziehung eine sehr eigentümliche Richtung, indem sie Leibesübungen zum Hauptstück derselben und die dadurch erlangten Vorzüge zum Augenmerk der ganzen Nation machten. Nie hat ein Zweig schönere Früchte getragen als der kleine Öl-, Efeu- und Fichtenzweig, der die griechischen Sieger kränzte. Er machte die Jünglinge schön, gesund, munter; ihren Gliedern gab er Gelenkigkeit, Ebenmaß und Wohlstand; in ihrer Seele fachte er die ersten Funken der Liebe für den Ruhm, selbst für den Nachruhm an und prägte ihnen die unzerstörbare Form ein, für ihre Stadt und für ihr Land öffentlich zu leben; was endlich[121] das schätzbarste ist, er gründete in ihrem Gemüt jenen Geschmack für Männerumgang und Männerfreundschaft, der die Griechen ausnehmend unterscheidet. Nicht war das Weib in Griechenland der ganze Kampfpreis des Lebens, auf den es ein Jüngling anlegte; die schönste Helena könnte immer doch nur einen Paris bilden, wenn ihr Genuß oder Besitz das Ziel der ganzen Mannestugend wäre. Das Geschlecht der Weiber, so schöne Muster jeder Tugend es auch in Griechenland hervorgebracht hat, blieb nur ein untergeordneter Zweck des männlichen Lebens; die Gedanken edler Jünglinge gingen auf etwas Höheres hinaus: das Band der Freundschaft, das sie unter sich oder mit erfahrnen Männern knüpften, zog sie in eine Schule, die ihnen eine Aspasia schwerlich gewähren konnte. Daher in mehreren Staaten die männliche Liebe der Griechen, mit jener Nacheiferung, jenem Unterricht, jener Dauer und Aufopferung begleitet, deren Empfindungen und Folgen wir im Plato beinah wie den Roman aus einem fremden Planeten lesen. Männliche Herzen banden sich aneinander in Liebe und Freundschaft, oft bis auf den Tod: der Liebhaber verfolgte den Geliebten mit einer Art Eitersucht, die auch den kleinsten Flecken an ihm aufspähete, und der Geliebte scheuete das Auge seines Liebhabers als eine läuternde Flamme der geheimesten Neigungen seiner Seele. Wie uns nun die Freundschaft der Jugend, die süßeste und keine Empfindung daurender ist als die Liebe derer, mit denen wir uns in den schönsten Jahren unsrer erwachenden Kräfte auf einer Laufbahn der Vollkommenheit übten, so war den Griechen diese Laufbahn in ihren Gymnasien, bei ihren Geschäften des Krieges und der Staatsverwaltung öffentlich bestimmt und jene heilige Schar der Liebenden davon die natürliche Folge. Ich bin weit entfernt, die Sittenverderbnisse zu verhehlen, die aus dem Mißbrauch dieser Anstalten, insonderheit wo sich unbekleidete Jünglinge übten, mit der Zeit erwuchsen; allein auch dieser Mißbrauch lag leider im Charakter der Nation, deren warme Einbildungskraft, deren fast wahnsinnige Liebe für alles Schöne, in welches sie den höchsten[122] Genuß der Götter setzten, Unordnungen solcher Art unumgänglich machte. Im geheimen geübt, würden diese nur desto verderblicher worden sein, wie die Geschichte fast aller Völker des warmen Erdstrichs oder einer üppigen Kultur beweiset. Daher ward der Flamme, die sich im Innern nährte, durch öffentliche rühmliche Zwecke und Anstalten zwar freiere Luft geschafft, sie kam damit aber auch unter die einschränkende Aufsicht der Gesetze, die sie als eine wirksame Triebfeder für den Staat brauchten.

Endlich. Da das dreifache Griechenland beider Weltteile in viele Stämme und Staaten geteilt war, so mußte die Sittenkultur, die sich hie und da erhob, jedem Stamme genetisch, mithin auf so mancherlei Weise politisch werden, daß eben dieser Umstand uns die glücklichen Fortschritte der griechischen Sittenbildung allein schon erkläret. Nur durch die leichtesten Bande einer gemeinschaftlichen Sprache und Religion, der Orakel, der Spiele, des Gerichts der Amphiktyonen u. f. oder durch Abstammung und Kolonien, endlich durch das Andenken alter gemeinschaftlichen Taten, durch Poesie und Nationalruhm waren die griechischen Staaten miteinander verbunden; weiter verband sie kein Despot; denn auch ihre gemeinschaftlichen Gefahren gingen lange Zeit glücklich vorüber. Also kam es darauf an, was aus dem Quell der Kultur jeder Stamm schöpfen, welche Bäche daraus er für sich ableiten wollte. Dies tat jeder nach Umständen seines Bedürfnisses, vorzüglich aber nach der Denkart einiger großen Männer, die ihm die bildende Natur sandte. Schon unter den Königen Griechenlandes gab es edle Söhne der alten Helden, die mit dem Wechsel der Zeit fortgingen und ihren Völkern jetzt durch gute Gesetze so nützlich wurden, wie ihre Väter es durch ruhmvolle Tapferkeit gewesen waren. So hebt sich außer den ersten Kolonienstiftern unter gesetzgebenden Königen insonderheit Minos empor, der seine kriegerischen Kretenser, die Bewohner einer Insel voller Gebürge, auch kriegerisch bildete und späterhin Lykurgs Vorbild wurde. Er war der erste, der die Seeräuber bändigte und das Ägäische Meer[123] sicherstellte, der erste allgemeinere Sittenstifter Griechenlandes zur See und auf dem Lande. Daß er in guten Einrichtungen mehrere seinesgleichen unter den Königen hatte, zeiget die Geschichte von Athen, von Syrakus und andern Königreichen. Freilich aber nahm die Regsamkeit der Menschen in der politischen Sittenbildung einen andern Schwung, als aus den meisten griechischen Königreichen Republiken wurden: eine Revolution, die allerdings eine der merkwürdigsten ist in der gesamten Menschengeschichte. Nirgend als in Griechenland war sie möglich, wo eine Menge einzelner Völker das Andenken ihres Ursprunges und Stammes sich auch unter seinen Königen zu erhalten gewußt hatte. Jedes Volk sähe sich als einen einzelnen Staatskörper an, der gleich seinen wandernden Vorfahren sich politisch einrichten dürfe; unter den Willen einer erblichen Königsreihe sei keiner der griechischen Stämme verkauft. Nun war zwar damit noch nicht ausgemacht, daß die neue Regierung auch die bessere wäre; statt des Königes herrschten beinahe allenthalben die Vornehmsten und Mächtigern, so daß in mehreren Städten die Verwirrung größer und der Druck des Volks unleidlich wurde; indessen waren doch damit einmal die Würfel geworfen, daß Menschen, wie aus der Unmündigkeit erwacht, über ihre politische Verfassung selbst nachdenken lernten. Und so war das Zeitalter griechischer Republiken der erste Schritt zur Mündigkeit des menschlichen Geistes in der wichtigen Angelegenheit, wie Menschen von Menschen zu regieren wären. Alle Ausschweifungen und Fehltritte der Regierungsformen Griechenlandes hat man als Versuche der Jugend, anzusehen, die meistens nur durch Schaden klug werden lernet.

Bald also taten sich in vielen frei gewordenen Stämmen und Kolonien weise Männer hervor, die Vormünder des Volks wurden. Sie sahen, unter welchen Übeln ihr Stamm litt, und sannen auf eine Einrichtung desselben, die auf Gesetze und Sitten des Ganzen erbauet wäre. Natürlich waren also die meisten dieser alten griechischen Weisen Männer in öffentlichen Geschäften, Vorsteher des Volks, Ratgeber der Könige,[124] Heerführer; denn bloß von diesen Edeln konnte die politische Kultur ausgehn, die weiter hinab aufs Volk wirkte. Selbst Lykurg, Drako, Solon waren aus den ersten Geschlechtern ihrer Stadt, zum Teil selbst obrigkeitliche Personen; die Übel der Aristokratie samt der Unzufriedenheit des Volks waren zu ihrer Zeit aufs höchste gestiegen; daher die bessere Einrichtung, die sie angaben, so großen Eingang gewann. Unsterblich bleibt das Lob dieser Männer, daß sie, vom Zutrauen des Volks unterstützt, für sich und die Ihrigen den Besitz der Oberherrschaft verschmähten und allen ihren Fleiß, alle ihre Menschen- und Volkskenntnis auf ein Gemeinwesen, d.i. auf den Staat als Staat, wandten. Wären ihre ersten Versuche in dieser Art auch bei weitem nicht die höchsten und ewigen Muster menschlicher Einrichtungen; sie sollten dieses auch nicht sein; sie gehören nirgend hin, als wo sie eingeführt wurden; ja auch hier mußten sie sich den Sitten des Stammes und seinen eingewurzelten Übeln oft wider Willen bequemen. Lykurg hatte freiere Hand als Solon; er ging aber in zu alte Zeiten zurück und bauete einen Staat, als ob die Welt ewig im Heldenalter der rohen Jugend verharren könnte. Er führte seine Gesetze ein, ohne ihre Wirkungen abzuwarten, und für seinen Geist wäre es wohl die empfindlichste Strafe gewesen, durch alle Zeitalter der griechischen Geschichte die Folgen zu sehen, die sie teils durch Mißbrauch, teils durch ihre zu lange Dauer seiner Stadt und bisweilen dem ganzen Griechenlande verursacht haben. Die Gesetze Solons wurden auf einem andern Wege schädlich. Den Geist derselben hatte er selbst überlebet; die übeln Folgen seiner Volksregierung sähe er voraus, und sie sind bis zum letzten Atem Athens den Weisesten und Besten seiner Stadt unverkennbar geblieben.224 Das ist aber einmal das Schicksal aller menschlichen Einrichtungen, insonderheit der schwersten, über[125] Land und Leute. Zeit und Natur verändern alles, und das Leben der Menschen sollte sich nicht ändern? Mit jedem neuen Geschlecht kommt eine neue Denkart empor, so altväterisch auch die Einrichtung und die Erziehung bleibe. Neue Bedürfnisse und Gefahren, neue Vorteile des Sieges, des Reichtums, der wachsenden Ehre, selbst der mehreren Bevölkerung drängen sich hinzu; und wie kann nun der gestrige Tag der heutige, das alte Gesetz ein ewiges Gesetz bleiben? Es wird beibehalten, aber vielleicht nur zum Schein, und leider am meisten in Mißbräuchen, deren Aufopferung eigennützigen, trägen Menschen zu hart fiele. Dies war der Fall mit Lykurgs, Solons, Romulus', Moses' und allen Gesetzen, die ihre Zeit überlebten.

Äußerst rührend ist's daher, wenn man die eigne Stimme dieser Gesetzgeber in ihren spätem Jahren höret; sie ist meistens klagend. Denn wenn sie lange lebten, hatten sie sich selbst schon überlebet. So ist's die Stimme Moses' und auch Solons in den wenigen Fragmenten, die wir von ihm haben; ja, wenn ich die bloßen Sittensprüche ausnehme, haben fast alle Betrachtungen der griechischen Weisen einen traurigen Ton. Sie sahen das wandelbare Schicksal und Glück der Menschen durch Gesetze der Natur enge beschränkt, durch ihr eigenes Verhalten schnöde verwirret, und klagten. Sie klagten über die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens und seiner blühenden Jugend; dagegen schilderten sie das oftmals arme und kranke, immer aber schwache und nichts geachtete Alter. Sie klagten über der Frechen Glück und des Gutmütigen Leiden, verfehlten aber auch nicht, die echten Waffen dagegen, Klugheit und gesunde Vernunft, Mäßigung der Leidenschaften und stillen Fleiß, Eintracht und freundschaftliche Treue, Standhaftigkeit und eisernen Mut, Ehrfurcht gegen die Götter und Liebe zum Vaterlande, den Bürgern ihrer Welt sanft rührend einzuflößen. Selbst in den Resten des neuen griechischen Lustspiels tönt noch diese klagende Stimme der sanften Humanität wider.225[126]

Trotz also aller bösen, zum Teil auch schrecklichen Folgen, die für Heloten, Pelasger, Kolonien, Ausländer und Feinde mancher Griechenstaat gehabt hat, so können wir doch das hohe Edle jenes Gemeinsinnes nicht verkennen, der in Lakedämon, Athen und Thebe, ja gewissermaßen in jedem Staate Griechenlands zu seinen Zeiten lebte. Es ist völlig wahr und gewiß, daß, nicht aus einzelnen Gesetzen eines einzelnen Mannes erwachsen, er auch nicht in jedem Gliede des Staats auf gleiche Weise, zu allen Zeiten gelebt habe; gelebt hat er indes unter den Griechen, wie es selbst noch ihre ungerechten, neidigen Kriege, die härtesten ihrer Bedrückungen und die treulosesten Verräter ihrer Bürgertugend zeigen. Die Grabschrift jener Spartaner, die bei Thermopylä fielen:


»Wanderer, sag's zu Sparta, daß, seinen Gesetzen gehorsam,

Wir erschlagen hier liegen –«


bleibt allemal der Grundsatz der höchsten politischen Tugend, bei dem wir auch zwei Jahrtausende später nur zu bedauren haben, daß er zwar einst auf der Erde der Grundsatz weniger Spartaner über einige harte Patriziergesetze eines engen Landes, noch nie aber das Principium für die reinen Gesetze der gesamten Menschheit hat werden mögen. Der Grundsatz selbst ist der höchste, den Menschen zu ihrer Glückseligkeit und Freiheit ersinnen und ausüben mögen. Ein Ähnliches ist's mit der Verfassung Athens, obgleich dieselbe auf einen ganz andern Zweck führte. Denn wenn die Aufklärung des Volks in Sachen, die zunächst für dasselbe gehören, der Gegenstand einer politischen Einrichtung sein darf, so ist Athen ohnstreitig die aufgeklärteste Stadt in unsrer bekannten Welt gewesen. Weder Paris noch London, weder Rom noch Babylon, noch weniger Memphis, Jerusalem, Peking und Benares werden ihr darüber den Rang anstreiten. Da nun Patriotismus und Aufklärung die beiden Pole sind, um welche sich alle Sittenkultur der Menschheit beweget, so werden auch Athen und Sparta immer die beiden großen Gedächtnisplätze bleiben, auf welchen sich die Staatskunst der Menschen über diese Zwecke zuerst jugendlich froh geübt hat. Die andern Staaten[127] der Griechen folgten meistens nur diesen zwei großen Mustern, so daß einigen, die nicht folgen wollten, die Staatsverfassungen Athens und Lacedämons von ihren Überwindern sogar aufgedrungen wurden. Auch siehet die Philosophie der Geschichte nicht sowohl darauf, was auf diesen beiden Erdpunkten in dem kleinen Zeitraum, da sie wirkten, von schwachen Menschen wirklich getan sei, als vielmehr, was aus den Prinzipien ihrer Einrichtung für die gesamte Menschheit folge. Trotz aller Fehler werden die Namen Lykurgs und Solons, Miltiades und Themistokles, Aristides, Cimon, Phocion, Epaminondas, Pelopidas, Agesilaus, Agis, Kleomenes, Dion, Timoleon u. f. mit ewigem Ruhme gepriesen, dagegen die ebenso große Männer Alcibiades, Konon, Pausanias, Lysander als Zerstörer des griechischen Gemeingeistes oder als Verräter ihres Vaterlandes mit Tadel genannt werden. Selbst die bescheidene Tugend Sokrates' konnte ohn' ein Athen schwerlich zu der Blüte erwachsen, die sie durch einige seiner Schüler wirklich erreicht hat; denn Sokrates war nur ein atheniensischer Bürger, alle seine Weisheit nur atheniensische Bürgerweisheit, die er in häuslichen Gesprächen fortpflanzte. In Absicht der bürgerlichen Aufklärung sind wir dem einzigen Athen also das meiste und Schönste aller Zeiten schuldig.

Und so dürfen wir auch, da von praktischen Tugenden wenig geredet werden kann, noch einige Worte jenen Anstalten gönnen, die nur eine atheniensische Volksregierung möglich machte, den Rednern und dem Theater. Redner vor Gericht, zumal in Sachen des Staats und des augenblicklichen Entschlusses, sind gefährliche Triebfedern; auch sind die bösen Folgen derselben offenbar gnug in der atheniensischen Geschichte. Da sie indessen ein Volk voraussetzen, das in jeder öffentlichen Sache, die vorgetragen ward, Kenntnisse hatte oder wenigstens empfangen konnte, so bleibt das atheniensische Volk, aller Parteien ohngeachtet, hierin das einzige unserer Geschichte, an welches auch das römische Volk schwerlich reichet. Der Gegenstand selbst, Feldherrn zu wählen oder zu verdammen, über Krieg und Frieden, über Leben[128] und Tod und jedes öffentliche Geschäft des Staats zu sprechen, war gewiß nicht die Sache eines unruhigen Haufens; durch den Vortrag dieser Geschäfte aber und durch alle Kunst, die man darauf wandte, ward selbst dem wilden Haufen das Ohr geöffnet und ihm jener aufgeklärte, politische Schwätzergeist gegeben, von dem keines der Völker Asiens wußte. Die Beredsamkeit vor den Ohren des Volks hob sich damit zu einer Höhe, die sie außer Griechenland und Rom niemals gehabt hat, die sie auch schwerlich je haben wird und haben kann, bis etwa die Volksrednerei wahre allgemeine Aufklärung werde. Unstreitig ist der Zweck dieser Sache groß, wenngleich in Athen die Mittel dazu dem Zweck unterlagen. Mit dem atheniensischen Theater war es ein gleiches. Es enthielt Spiele fürs Volk, und zwar ihm angemessene, erhabene, geistreiche Spiele; mit Athen ist seine Geschichte vorbei; denn der enge Kreis bestimmter Fabeln, Leidenschaften und Absichten, aufs Volk zu wirken, findet sich kaum mehr in dem vermischten Haufen einer andern Stammesart und Regimentsverfassung wieder. Niemals also messe man die griechische Sittenbildung, weder in ihrer öffentlichen Geschichte noch in ihren Rednern und theatralischen Dichtern, nach dem Maßstabe einer abstrakten Moral, weil keinem dieser gegebnen Fälle ein solcher Maßstab zum Grunde lieget.226 Die Geschichte zeigt, wie die Griechen in jedem Zeitpunkt alles waren, was sie, gut und böse, nach ihrer Lage sein konnten. Der Redner zeigt, wie er in seinem Handel die Parteien sah und seinem Zweck gemäß schildern mußte. Der theatralische Dichter endlich brachte Gestalten in sein Spiel, wie sie ihm[129] die Vorzeit gab oder wie er solche seinem Beruf gemäß diesen und keinen andern Zuschauern darstellen wollte. Schlüsse hieraus auf die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit des gesamten Volks zu machen wäre grundlos; daran wird aber niemand zweifeln, daß die Griechen in gewissen Zeitpunkten und Städten, nach dem Kreise von Gegenständen, der ihnen damals vorlag, das geschickteste, leichteste und aufgeklärteste Volk ihrer Welt gewesen. Die Bürger Athens gaben Feldherren, Redner, Sophisten, Richter, Staatsleute und Künstler, nachdem es die Erziehung, Neigung, Wahl oder das Schicksal und der Zufall wollte, und oft waren in einem Griechen mehrere der schönsten Vorzüge eines Guten und Edlen vereinigt.

221

»Pinxit Demon Atheniensium argumento quoque ingenioso: volebat namque varium, iracundum, iniustum, inconstantem, eundem exorabilem, clementem, misericordem, excelsum, gloriosum, humilem, ferocem fugacemque et omnia pariter ostendere.« Plinius, »Historia naturalis«, XXXV.

222

S. Heyne, »Deprimorum Graeciae legumlatorum institutis ad morum mansuetudinem«, in: »Opusc. academica«, Bd. 1, S. 207.

223

Œuvres p. St. Pierre T. 1, und beinah in allen seinen Schriften.

224

S. Xenophon, »Über die Republik der Athenienser«, auch Plato, Aristoteles u. f.

225

Hievon an einem andern Ort.

226

S. die Einleitung zu Gillies' Übersetzung der Reden Lysias' und Isokrates' nebst andern ähnlichen Schriften, die Griechenland aus Rednern oder Dichtern geschätzt haben.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1965, S. 119-130.
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