IV

Von den Trieben der Tiere

[97] Wir haben über die Triebe der Tiere ein vortreffliches Buch des seligen Reimarus20 , das, so wie sein andres über die natürliche Religion, ein bleibendes Denkmal seines forschenden Geistes und seiner gründlichen Wahrheitsliebe sein wird. Nach gelehrten und ordnungsvollen Betrachtungen über die mancherlei Arten der tierischen Triebe sucht er dieselbe aus Vorzügen ihres Mechanismus, ihrer Sinne und ihrer inneren Empfindung zu erklären, glaubt aber noch, insonderheit bei den Kunsttrieben, besondere determinierte Naturkräfte und natürlich angeborne Fertigkeiten annehmen zu müssen, die weiter keine Erklärung leiden. Ich glaube das letzte nicht; denn die Zusammensetzung der ganzen Maschine mit solchen und keinen andern Kräften, Sinnen, Vorstellungen und Empfindungen, kurz, die Organisation des Geschöpfs selbst war die gewisseste Richtung, die vollkommenste Determination, die die Natur ihrem Werk eindrücken konnte.

Als der Schöpfer die Pflanze baute und dieselbe mit solchen[97] Teilen, mit solchen Anziehungs- und Verwandlungskräften des Lichts, der Luft und andrer feinen Wesen, die sich aus Luft und Wasser zu ihr drängen, begabte, da er sie endlich in ihr Element pflanzte, wo jeder Teil die ihm wesentlichen Kräfte natürlich äußert, so hatte er, dünkt mich, keinen neuen und blinden Trieb zur Vegetation dem Geschöpf anzuschaffen nötig. Jeder Teil mit seiner lebendigen Kraft tut das Seine, und so wird bei der ganzen Erscheinung das Resultat von Kräften sichtbar, das sich in solcher und keiner andern Zusammensetzung offenbaren konnte. Wirkende Kräfte der Natur sind alle, jede in ihrer Art, lebendig: in ihrem Innern muß ein Etwas sein, das ihren Wirkungen von außen entspricht, wie es auch Leibniz annahm und uns die ganze Analogie zu lehren scheinet. Daß wir für diesen innern Zustand der Pflanze oder der noch unter ihr wirkenden Kräfte keinen Namen haben, ist Mangel unsrer Sprache; denn Empfindung wird allerdings nur von dem innern Zustande gebraucht, den uns das Nervensystem gewähret. Ein dunkles Analogon indessen mag dasein; und wenn es nicht da wäre, so würde uns ein neuer Trieb, eine dem Ganzen zugegebne Kraft der Vegetation nichts lehren.

Zwei Triebe der Natur werden also schon bei der Pflanze sichtbar, der Trieb der Nahrung und Fortpflanzung; und das Resultat derselben sind Kunstwerke, an welche schwerlich das Geschäft irgendeines lebendigen Kunstinsekts reichet: es ist der Keim und die Blume. Sobald die Natur die Pflanze oder den Stein ins Tierreich überführet, zeigt sie uns deutlicher, was es mit den Trieben organischer Kräfte sei. Der Polyp scheint wie die Pflanze zu blühen und ist Tier; er sucht und genießet seine Speise tierartig; er treibt Schößlinge, und es sind lebendige Tiere; er erstattet sich, wo er sich erstatten kann – das größeste Kunstwerk, das je ein Geschöpf vollführte. Gehet etwas über die Künstlichkeit eines Schneckenhauses? Die Zelle der Biene muß ihm nachstehn; das Gespinst der Raupe und des Seidenwurms muß der künstlichen Blume weichen. Und wodurch arbeitete die Natur jenes aus?[98]

Durch innere organische Kräfte, die, noch wenig in Glieder geteilt, in einem Klumpen lagen und deren Windungen sich meistens dem Gange der Sonne gemäß dies regelmäßige Gebilde formten. Teile von innen heraus gaben die Grundlage her, wie die Spinne den Faden aus ihrem Unterteile ziehet, und die Luft mußte nur härtere oder gröbere Teile hinzubilden. Mich dünkt, diese Übergänge lehren uns gnugsam, worauf alle, auch die Kunsttriebe des künstlichsten Tiers, beruhen; nämlich auf organischen Kräften, die in dieser und keiner andern Masse, nach solchen und keinen andern Gliedern wirken. Ob mit mehr oder weniger Empfindung, kommt auf die Nerven des Geschöpfs an; es gibt aber außer diesen noch regsame Muskelkräfte und Fibern voll wachsenden und sich wiederherstellenden Pflanzenlebens, welche zwei von den Nerven unabhängige Gattungen der Kräfte dem Geschöpf gnugsam ersetzen, was ihm an Gehirn und Nerven abgeht.

Und so führet uns die Natur selbst auf die Kunsttriebe, die man vorzüglich einigen Insekten zu geben gewohnt ist; aus keiner andern Ursache, als weil uns ihr Kunstwerk enger ins Auge fällt und wir dasselbe schon mit unsern Werken vergleichen. Je mehr die Werkzeuge in einem Geschöpf zerlegt sind, je lebendiger und feiner seine Reize werden, desto weniger kann es uns fremde dünken, Wirkungen wahrzunehmen, zu denen Tiere von gröberm Bau und von einer stumpferen Reizbarkeit einzelner Teile nicht mehr tüchtig sind, soviel andre Vorzüge sie übrigens haben mögen. Eben die Kleinheit des Geschöpfs und seine Feinheit wirkte zur Kunst, da diese nichts anders sein kann als das Resultat aller seiner Empfindungen, Tätigkeiten und Reize.

Beispiele werden auch hier das Beste sagen; und der treue Fleiß eines Swammerdam, Réaumur, Lyonnet, Rösels u.a. haben uns die Beispiele aufs schönste vors Auge gemalet. Das Einspinnen der Raupe, was ist es anders, als was soviel andre Geschöpfe unkünstlicher tun, indem sie sich häuten? Die Schlange wirft ihre Haut ab, der Vogel seine Federn,[99] viele Landtiere ändern ihre Haare; sie verjüngen sich damit und erstatten ihre Kräfte. Die Raupe verjünget sich auch, nur auf eine härtere, feinere, künstlichere Weise; sie streift ihre Dornhülle ab, daß einige ihrer Füße daran hangenbleiben, und tritt durch langsame und schnellere Übergänge in einen ganz neuen Zustand. Kräfte hiezu verlieh ihr ihr erstes Lebensalter, da sie als Raupe nur der Nahrung diente; jetzt soll sie auch der Erhaltung ihres Geschlechts dienen, und zur Gestalt hiezu arbeiten ihre Ringe und gebären sich ihre Glieder. Die Natur hat also bei der Organisation dieses Geschöpfs Lebensalter und Triebe nur weiter auseinander gelegt und läßt sich dieselbe in eignen Übergängen organisch bereiten – dem Geschöpf so unwillkürlich als der Schlange, wenn sie sich häutet.

Das Gewebe der Spinne, was ist's anders als der Spinne verlängertes Selbst, ihren Raub zu erhalten? Wie der Polyp die Arme ausstreckt, ihn zu fassen, wie sie die Krallen bekam, ihn festzuhalten, so erhielt sie auch die Warzen, zwischen welchen sie das Gespinst hervorzieht, den Raub zu erjagen. Sie bekam diesen Saft ungefähr zu so vielen Gespinsten, als auf ihr Leben hinreichen, und ist sie darin unglücklich, so muß sie entweder zu gewaltsamen Mitteln Zuflucht nehmen oder sterben. Der ihren ganzen Körper und alle demselben einwohnende Kräfte organisierte, bildete sie also zu diesem Gewebe organisch.

Die Republik der Biene sagt nichts anders. Die verschiedenen Gattungen derselben sind jede zu ihrem Zwecke gebildet, und sie sind in Gemeinschaft, weil keine Gattung ohne die andre leben könnte. Die Arbeitsbienen sind zum Honigsammlen und zum Bau der Zellen organisieret. Sie sammlen jenen, wie jedes Tier seine Speise sucht, ja wenn es seine Lebensart fodert, sie sich zum Vorrat zusammenträgt und ordnet. Sie bauen die Zellen, wie soviel andre Tiere sich ihre Wohnungen bauen, jedes auf seine Weise. Sie nähren, da sie geschlechtlos sind, die Jungen des Bienenstockes, wie andre ihre eignen Jungen nähren, und töten die Drohnen, wie jedes[100] Tier ein andres tötet, das ihm seinen Vorrat raubt und seinem Hause zur Last fällt. Wie dies alles nicht ohne Sinn und Gefühl geschehen kann, so ist es indessen doch nur Bienensinn, Bienengefühl: weder der bloße Mechanismus, den Buffon, noch die entwickelte rnathematisch-politische Vernunft, die andre ihnen angedichtet haben. Ihre Seele ist in diese Organisation eingeschlossen und mit ihr innig verwebet. Sie wirkt also derselben gemäß: künstlich und fein, aber enge und in einem sehr kleinen Kreise. Der Bienenstock ist ihre Welt, und das Geschäft desselben hat der Schöpfer noch durch eine dreifache Organisation dreifach verteilet.

Auch das Wort Fertigkeit müssen wir uns also nicht irremachen lassen, wenn wir diese organische Kunst bei manchen Geschöpfen sogleich nach ihrer Geburt bemerken. Unsre Fertigkeit entstehet aus Übungen, die ihrige nicht. Ist ihre Organisation ausgebildet, so sind auch die Kräfte derselben in vollem Spiel. Wer hat die größeste Fertigkeit auf der Welt? Der fallende Stein, die blühende Blume: er fällt, sie blühet ihrer Natur nach. Der Kristall schießt fertiger und regelmäßiger zusammen, als die Biene bauet und als die Spinne webet. In jenem ist es nur noch organischer blinder Trieb, der nie fehlen kann; in diesen ist er schon zum Gebrauch mehrerer Werkzeuge und Glieder hinauforganisieret, und diese können fehlen. Das gesunde, mächtige Zusammenstimmen derselben zu einem Zweck macht Fertigkeit, sobald das ausgebildete Geschöpf da ist.

Wir sehen also auch, warum, je höher die Geschöpfe steigen, der unaufhaltbare Trieb sowie die irrtumfreie Fertigkeit abnehme. Je mehr nämlich das eine organische Principium der Natur, das wir jetzt bildend, jetzt treibend, jetzt emfindend jetzt künstlich bauend nennen und im Grunde nur eine und dieselbe organische Kraft ist, in mehr Werkzeuge und verschiedenartige Glieder verteilt ist, je mehr es in jedem derselben eine eigne Welt hat, also auch eignen Hindernissen und Irrungen ausgesetzt ist, desto schwächer wird der Trieb desto mehr kömmt er unter den Befehl der Willkür, mithin[101] auch des Irrtums. Die verschiednen Empfindungen wollen gegeneinander gewogen und dann erst miteinander vereinigt sein; lebe wohl also, hinreißender Instinkt, unfehlbarer Führer. Der dunkle Reiz, der in einem gewissen Kreise, abgeschlossen von allem andern, eine Art Allwissenheit und Allmacht in sich schloß, ist jetzt in Äste und Zweige gesondert. Das des Lernens fähige Geschöpf muß lernen, weil es weniger von Natur weiß; es muß sich üben, weil es weniger von Natur kann; es hat aber auch durch seine Fortrückung, durch die Verfeinerung und Verteilung seiner Kräfte neue Mittel der Wirksamkeit, mehrere und feinere Werkzeuge erhalten, die Empfindungen gegeneinander zu bestimmen und die bessere zu wählen. Was ihm an Intensität des Triebes abgeht, hat es durch Ausbreitung und feinere Zusammenstimmung ersetzt bekommen, es ist eines feinern Selbstgenusses, eines freiern und vielfachern Gebrauchs seiner Kräfte und Glieder fähig worden, und alle dies, weil, wenn ich so sagen darf, seine organische Seele in ihren Werkzeugen vielfacher und feiner auseinandergelegt ist. Lasset uns einige wunderbar schöne und weise Gesetze dieser allmählichen Fortbildung der Geschöpfe betrachten, wie der Schöpfer sie Schritt vor Schritt immer mehr an eine Verbindung mehrerer Begriffe oder Gefühle sowie an einen eignen freiern Gebrauch mehrerer Sinne und Glieder gewöhnte.

20

Reimarus, »Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere«, Hamburg 1773. Imgleichen »Angefangene Betrachtungen über die besondern Arten der tierischen Kunsttriebe«, denen auch J. A. H. Reimarus' reiche und schöne Abhandlung über die Natur der Pflanzentiere beigefügt ist.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 97-102.
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