III

Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisieret

[134] Nahe dem Boden hatten alle Sinnen des Menschen nur einen kleinen Umfang, und die niedrigen drängeten sich den edlern vor, wie das Beispiel der verwilderten Menschen zeiget. Geruch und Geschmack waren, wie bei dem Tier, ihre ziehenden Führer.

– Über die Erde und Kräuter erhoben, herrschet der Geruch nicht mehr, sondern das Auge; es hat ein weiteres Reich um sich und übet sich von Kindheit auf in der feinsten Geometrie der Linien und Farben. Das Ohr, unter den hervortretenden Schädel tief hinuntergesetzt, gelangt näher zur innern Kammer der Ideensammlung, da es[134] bei dem Tier lauschend hinaufsteht und bei vielen auch seiner äußern Gestalt nach zugespitzt horchet.

Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf; denn durch ihn, die erste und schwerste Kunst, die ein Mensch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und gleichsam eine lebendige Kunst zu werden. Siehe das Tier! Es hat zum Teil schon Finger wie der Mensch; nur sind sie hier in einen Huf, dort in eine Klaue oder in ein ander Gebilde eingeschlossen und durch Schwielen verderbet. Durch die Bildung zum aufrechten Gange bekam der Mensch freie und künstliche Hände, Werkzeuge der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden Tastens nach neuen klaren Ideen. Helvétius hat sofern recht, daß die Hand dem Menschen ein großes Hülfsmittel seiner Vernunft gewesen; denn was ist nicht schon der Rüssel dem Elefanten? Ja dieses zarte Gefühl der Hände ist in seinen Körper verbreitet, und bei verstümmelten Menschen haben die Zehen des Fußes oft Kunststücke geübet, die die Hand nicht üben konnte. Der kleine Daum, der große Zeh, die auch der Struktur ihrer Muskeln nach so besonders gebildet sind, ob sie uns gleich verachtete Glieder scheinen, sind uns die notwendigsten Kunstgehülfen zum Stehen, Gehen, Fassen und allen Verrichtungen der kunstarbeitenden Seele.

Man hat so oft gesagt, daß der Mensch wehrlos erschaffen worden und daß es einer seiner unterscheidenden Geschlechtscharaktere sei, nichts zu vermögen Es ist nicht also; er hat Waffen der Verteidigung wie alle Geschöpfe. Schon der Affe führt den Prügel und wehret sich mit Sand und Steinen; er klettert und rettet sich vor den Schlangen, seinen ärgsten Feinden; er deckt Häuser ab und kann Menschen morden. Das wilde Mädchen zu Songi schlug ihre Mitschwester mit der Keule vor den Kopf und ersetzte mit Klettern und Laufen, was ihr an Stärke abging. Also auch der verwilderte Mensch ist seiner Organisation nach nicht ohne Verteidigung; und aufgerichtet, kultiviert – welch Tier hat das vielarmige Werkzeug der Kunst, was er in seinem Arm, in seiner Hand,[135] in der Geschlankigkeit seines Leibes, in allen seinen Kräften besitzet? Kunst ist das stärkste Gewehr, und er ist ganz Kunst, ganz und gar organisierte Waffe. Nur zum Angriff fehlen ihm Klauen und Zähne; denn er sollte ein friedliches, sanftmütiges Geschöpf sein; zum Menschenfressen ist er nicht gebildet.

Welche Tiefen von Kunstgefühl liegen in einem jeden Menschensinn verborgen, die hie und da meistens nur Not, Mangel, Krankheit, das Fehlen eines andern Sinnes, Mißgeburt oder ein Zufall entdecket und die uns ahnen lassen, was für andre, für diese Welt unaufgeschlossene Sinne in uns liegen mögen. Wenn einige Blinde das Gefühl, das Gehör, die zählende Vernunft, das Gedächtnis bis zu einem Grad erheben konnten, der Menschen von gewöhnlichen Sinnen fabelhaft dünket, so mögen unentdeckte Welten der Mannigfaltigkeit und Feinheit auch in andern Sinnen ruhen, die wir in unsrer vielorganisierten Maschine nur nicht entwickeln. Das Auge, das Ohr! Zu welchen Feinheiten ist der Mensch schon durch sie gelangt und wird in einem höhern Zustande gewiß weiter gelangen, da, wie Berkeley sagt, das Licht eine Sprache Gottes ist, die unser feinster Sinn in tausend Gestalten und Farben unablässig nur buchstabieret. Der Wohllaut, den das menschliche Ohr empfindet und den die Kunst nur entwickelt, ist die feinste Meßkunst, die die Seele durch den Sinn dunkel ausübet, so wie sie durchs Auge, indem der Lichtstrahl auf ihm spielet, die feinste Geometrie beweiset. Unendlich werden wir uns wundern, wenn wir, in unserm Dasein einen Schritt weiter, alle das mit klarem Blick sehn, was wir in unsrer vielorganisierten göttlichen Maschine mit Sinne und Kräften dunkel übten und in welchem sich seiner Organisation gemäß das Tier schon vorzuüben scheinet.

Indessen wären alle diese Kunstwerkzeuge, Gehirn, Sinne und Hand, auch in der aufrechten Gestalt unwirksam geblieben, wenn uns der Schöpfer nicht eine Triebfeder gegeben hätte, die sie alle in Bewegung setzte: es war das göttliche Geschenk der Rede. Nur durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt, oder vielmehr die nackte Fähigkeit,[136] die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung. Nur durch die Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefühl aller Sinne eins und vereinigt sich durch sie zum schaffenden Gedanken, dem das Kunstwerk der Hände und andrer Glieder nur gehorchet. Das Beispiel der Taub- und Stummgebornen zeigt, wie wenig der Mensch auch mitten unter Menschen ohne Sprache zu Ideen der Vernunft gelange und in welcher tierischen Wildheit alle seine Triebe bleiben. Er ahmt nach, was sein Auge sieht, Gutes und Böses; und er ahmt es schlechter als der Affe nach, weil das innere Kriterium der Unterscheidung, ja selbst die Sympathie mit seinem Geschlecht ihm fehlet. Man hat Beispiele30, daß ein Taub- und Stummgeborner seinen Bruder mordete, da er ein Schwein morden sah, und wühlte, bloß der Nachahmung wegen, mit kalter Freude in den Eingeweiden desselben: schrecklicher Beweis, wie wenig die gepriesne menschliche Vernunft und das Gefühl unsrer Gattung durch sich selbst vermöge. Man kann und muß also die feinen Sprachwerkzeuge als das Steuerruder unsrer Vernunft und die Rede als den Himmelsfunken ansehen, der unsre Sinnen und Gedanken allmählich in Flammen brachte.

Bei den Tieren sehen wir Voranstalten zur Rede, und die Natur arbeitet auch hier von unten herauf, um diese Kunst endlich im Menschen zu vollenden Zum Werk des Atemholens wird die ganze Brust mit ihren Knochen, Bändern und Muskeln, das Zwerchfell und sogar Teile des Unterleibes, des Nackens, des Halses und der Oberarme erfodert: zu diesem großen Werk also bauete die Natur die ganze Säule der Rückenwirbel mit ihren Bändern und Ribben, Muskeln und Adern; sie gab den Teilen der Brust die Festigkeit und Beweglichkeit, die zu ihm gehören, und ging von den niedrigern Geschöpfen immer höher, eine vollkommenere Lunge[137] und Luftröhre zu bilden. Begierig zieht das neugeborne Tier den ersten Atemzug in sich, ja es dränget sich nach demselben, als ob es ihn nicht erwarten könnte. Wunderbar viel Teile sind zu diesem Werk geschaffen; denn fast alle Teile des Körpers haben zu ihrem wirksamen Gedeihen Luft nötig. Indessen sosehr sich alles nach diesem lebendigen Gottesatem drängt, so hat nicht jedes Geschöpf Stimme und Sprache, die am Ende durch kleine Werkzeuge, den Kopf der Luftröhre, einige Knorpel und Muskeln, endlich durch das einfache Glied der Zunge befördert werden. In der schlichtesten Gestalt erscheint diese Tausendkünstlerin aller göttlichen Gedanken und Worte, die mit ein wenig Luft durch eine enge Spalte nicht nur das ganze Reich der Ideen des Menschen in Bewegung gesetzt, sondern auch alles ausgerichtet hat, was Menschen auf der Erde getan haben. Unendlich schön ist's, den Stufengang zu bemerken, auf dem die Natur vom stummen Fisch, Wurm und Insekt das Geschöpf allmählich zum Schall und zur Stimme hinauffördert Der Vogel freuet sich seines Gesanges als des künstlichsten Geschäfts und zugleich des herrlichsten Vorzugs, den ihm der Schöpfer gegeben; das Tier, das Stimme hat, ruft sie zu Hülfe, sobald es Neigungen fühlet und der innere Zustand seines Wesens freudig oder leidend hinauswill. Es gestikuliert wenig; und nur die Tiere sprechen durch Zeichen, denen vergleichungsweise der lebendige Laut versagt ist. Die Zunge einiger ist schon gemacht, menschliche Worte nachsprechen zu können, deren Sinn sie doch nicht begreifen; die Organisation von außen, insonderheit unter der Zucht des Menschen, eilt dem innern Vermögen gleichsam zum voraus. Hier aber schloß sich die Tür, und dem menschenähnlichsten Affen ist die Rede durch eigne Seitensäcke, die die Natur an seine Luftröhre hing, gleichsam absichtlich und gewaltsam versaget31.[138]

Warum tat dies der Vater der menschlichen Rede? Warum wollte er das Geschöpf, das alles nachahmt, gerade dies Kriterium der Menschheit nicht nachahmen lassen und versperrte ihm dazu durch eigne Hindernisse den Weg unerbittlich? Man gehe in Häuser der Wahnsinnigen und höre ihr Geschwätz; man höre die Rede mancher Mißgebornen und äußerst Einfältigen, und man wird sich selbst die Ursache sagen. Wie wehe tut uns ihre Sprache und das entweihete Geschenk der menschlichen Rede! und wie entweiheter würde sie im Munde des lüsternen, groben, tierischen Affen werden, wenn er menschliche Worte, wie ich nicht zweifle, mit halber Menschenvernunft nachäffen könnte. Ein abscheuliches Gewebe menschenähnlicher Töne und Affengedanken – nein, die göttliche Rede sollte dazu nicht erniedrigt werden, und der Affe ward stumm, stummer als andre Tiere, wo ein jedes bis zum Frosch und zur Eidechse hinunter seinen eignen Schall hat.

Aber den Menschen baute die Natur zur Sprache; auch zu ihr ist er aufgerichtet und an eine emporstrebende Säule seine Brust gewölbet. Menschen, die unter die Tiere gerieten, verloren nicht nur die Rede selbst, sondern zum Teil auch die Fähigkeit zu derselben: ein offenbares Kennzeichen, daß ihre Kehle mißgebildet worden und daß nur im aufrechten Gange wahre menschliche Sprache stattfindet. Denn obgleich mehrere Tiere menschenähnliche Sprachorgane haben, so ist doch, auch in der Nachahmung, keines derselben des fortgehenden Stroms der Rede aus unsrer erhabnen, freien, menschlichen Brust, aus unserm engern und künstlich verschlossenen Munde fähig. Hingegen der Mensch kann nicht nur alle Schälle und Töne derselben nachahmen und ist, wie Monboddo sagt, der Mock-bird unter den Geschöpfen der Erde, sondern ein Gott hat ihn auch die Kunst gelehrt, Ideen in Töne zu prägen, Gestalten durch Laute zu bezeichnen und die Erde zu beherrschen durch das Wort seines Mundes. Von der Sprache also fängt seine Vernunft und Kultur an; denn[139] nur durch sie beherrschet er auch sich selbst und wird des Nachsinnens und Wählens, dazu er durch seine Organisation nur fähig war, mächtig. Höhere Geschöpfe mögen und müssen es sein, deren Vernunft durch das Auge erwacht, weil ihnen ein gesehenes Merkmal schon genug ist, Ideen zu bilden und sie unterscheidend zu fixieren; der Mensch der Erde ist noch ein Zögling des Ohrs, durch welches er die Sprache des Lichts allmählich erst verstehen lernet. Der Unterschied der Dinge maß ihm durch Beihülfe eines andern erst in die Seele gerufen werden, da er denn, vielleicht zuerst atmend und keichend, dann schallend und sangbar seine Gedanken mitteilen lernte. Ausdrückend ist also der Name der Morgenländer, mit dem sie die Tiere die Stummen der Erde nennen; nur mit der Organisation zur Rede empfing der Mensch den Atem der Gottheit, den Samen zur Vernunft und ewigen Vervollkommnung, einen Nachhall jener schaffenden Stimme zu Beherrschung der Erde, kurz, die göttliche Ideenkunst, die Mutter aller Künste.

30

In Sacks »Verteidigtem Glauben der Christen« erinnere ich mich einen solchen Fall erzählt gefunden zu haben; mehrere dergleichen sind mir aus andern Schriften erinnerlich.

31

S. Campers »Abhandlung von den Sprachwerkzeugen der Affen«, »Philosophical Transactions«, 1779, Band 1.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 134-140.
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