V

Der Mensch ist zur zartesten Gesundheit, zugleich aber zur stärksten Dauer, mithin zur Ausbreitung über die Erde organisieret

[147] Mit dem aufgerichteten Gange gewann der Mensch eine Zartheit, Wärme und Stärke, die kein Tier erlangen konnte. Im Stande der Wildheit wäre er großenteils, insonderheit auf dem Rücken, mit Haaren bedecket, und das wäre denn die Decke, über deren Entziehung der ältere Plinius die Natur so jammernd anklagt. Die wohltätige Mutter hat dem Menschen[147] eine schönere Hülle gegeben, seine zarte und doch so harte Haut, die den Unfällen jeder Jahrszeit, den Abwechselungen jedes Klima zu widerstehen vermag, wenn einige Kunst, die diesem Geschöpf zweite Natur ist, Hülfe leistet.

Und zu dieser sollte ihn nicht nur die nackte Dürftigkeit, sondern etwas Menschlicheres und Schöneres, die holde Scham, leiten. Was auch einige Philosophen sagen mögen, so ist sie dem Menschen, ja schon ein dunkles Analogon derselben einigen Tierarten, natürlich; denn auch die Äffin bedecket sich, und der Elefant suchet zur Begattung einsame dunkle Wälder. Wir kennen beinah keine noch so tierische Nation32 auf der Erde, die nicht, zumal bei den Weibern von den Jahren an, da die Triebe erwachen, die Bedeckung liebe; zumal auch die empfindliche Zartheit dieser Teile und andre Umstände eine Hülle fodern. Noch ehe der Mensch also seine andern Glieder gegen die Wut der Elemente, gegen den Stich der Insekten durch Kleider oder Salben zu schützen suchte, führte ihn eine Art sinnlicher Ökonomie des schnellesten und notwendigsten Triebes auf die Verhüllung. Unter allen edlern Tieren will das Weib gesuchet sein und bietet sich nicht dar; sie erfüllet damit unwissend Absichten der Natur, und bei den Menschen ist das zartere Weib auch die weise Bewahrerin der holdseligen Scham, die bei der aufrechten Gestalt sich gar bald entwickeln mußte. –

Also bekam der Mensch Kleidung, und sobald er diese und einige andere Kunst hatte, war er vermögend, jedes Klima der Erde auszudauren und in Besitz zu nehmen. Wenige Tiere, fast der Hund allein, haben ihm in alle Gegenden nachfolgen können, und doch mit welcher Veränderung ihrer Gestalt, mit welcher Abartung ihres angebornen Temperamentes! Der Mensch allein hat sich am wenigsten[148] und in wesentlichen Teilen gar nicht verändert. Man erstaunt, wie ganz und einförmig sich seine Natur erhalten, wenn man die Abänderungen seiner wandernden Mitbrüder unter den Tieren siehet. Seine zarte Natur ist so bestimmt, so vollkommen organisiert, daß er auf einer höchsten Stufe stehet und wenige Varietäten, die nicht einmal Anomalien zu nennen sind, sich an ihm möglich fanden.

Wodurch nun dieses? Abermals durch seine aufrechte Gestalt, durch nichts anders. Gingen wir, wie Bär und Affe, auf allen vieren, so lasset uns nicht zweifeln, daß auch die Menschenrassen (wenn mir das unedle Wort erlaubt ist) ihr eingeschränkteres Vaterland haben und nie verlassen würden. Der Menschenbär würde sein kaltes, der Menschenaffe sein warmes Vaterland lieben; so wie wir noch gewahr werden, daß, je tierischer eine Nation ist, desto mehr ist sie mit Banden des Leibes und der Seele an ihr Land und Klima befestigt.

Als die Natur den Menschen erhob, erhob sie ihn zur Herrschaft über die Erde. Seine aufrechte Gestalt gab ihm mit einem feiner organisierten Bau auch einen künstlichern Blutumlauf, eine vielartigere Mischung der Lebenssäfte, also auch jene innigere, festere Temperatur der Lebenswärme, mit der er allein ein Bewohner Siberiens und Afrikas sein konnte. Nur durch seinen aufgerichteten, künstlichern, organischen Bau ward er vermögend, eine Hitze und Kälte zu ertragen, die kein andres Erdengeschöpf umfasset, und sich dennoch nur im kleinsten Maß zu verändern.

Nun ward mit diesem zarteren Bau und mit allem, was daraus folgte, auch freilich einer Reihe Krankheiten die Tür geöffnet, von denen das Tier nichts weiß und die Moscati33 beredt herzählet. Das Blut, das seinen Kreislauf in einer aufrechten Maschine verrichtet, das Herz, das in eine schiefe Lage gedrängt ist, die Eingeweide, die in einem stehenden Behältnis ihr Werk treiben: allerdings sind diese Teile bei[149] uns mehreren Gefahren der Zerrüttung ausgesetzt als in einem tierischen Körper. Insonderheit, scheint es, muß das weibliche Geschlecht seine größere Zartheit auch teurer als wir erkaufen. – Indessen ist auch hierin die Wohltat der Natur tausendfach ersetzend und mildernd; denn unsre Gesundheit, unser Wohlsein, alle Empfindungen und Reize unsres Wesens sind geistiger und feiner. Kein Tier genießt einen einzigen Augenblick menschlicher Gesundheit und Freude; es kostet keinen Tropfen des Nektarstroms, den der Mensch trinkt; ja auch bloß körperlich betrachtet, sind seine Krankheiten zwar weniger an der Zahl, weil sein Körperbau gröber ist, aber dafür desto fortwirkender und fester. Sein Zellengewebe, seine Nervenhäute, seine Arterien, Knochen, sein Gehirn sogar ist härter als das unsre; daher auch alle Landtiere rings um den Menschen (vielleicht den einzigen Elefanten ausgenommen der in seinen Lebensperioden uns nahe kommt) kürzer als der Mensch leben und des Todes der Natur, d.i. an einem verhärtenden Alter, viel früher als er sterben. Ihn hat also die Natur zum längsten und dabei zum gesundesten, freudenreichsten Leben bestimmt, das eine Erdorganisation fassen konnte. Nichts hilft sich vielartiger und leichter als die vielartige menschliche Natur; und es haben alle Ausschweifungen des Wahnsinns und der Laster, deren freilich kein Tier fähig ist, dazu gehört, unsre Maschine in dem Maß, wie sie in manchen Ständen geschwächt und verdorben ist, zu schwächen und zu verderben. Wohltätig hatte die Natur jedem Klima die Kräuter gegeben, die seinen Krankheiten dienen, und nur die Verwirrung aller Klimate hat aus Europa den Pfuhl von Übeln machen können, den kein Volk, das der Natur gemäß lebet, bei sich findet. Indessen auch für diese selbsterrungenen Übel hat sie uns ein selbsterrungenes Gute gegeben, das einzige, dessen wir dafür wert waren, den Arzt, der, wenn er der Natur folget, ihr aufhilft, und wenn er ihr nicht folgen darf oder kann, den Kranken wenigstens wissenschaftlich begräbet.

Und o welche mütterliche Sorgfalt und Weisheit der göttlichen[150] Haushaltung war's, die auch die Lebensalter und die Dauer unsres Geschlechts bestimmte! Alle lebendige Erdgeschöpfe, die sich bald zu vollenden haben, wachsen auch bald; sie werden früh reif und sind schnell am Ziel des Lebens. Der Mensch, wie ein Baum des Himmels aufrecht gepflanzt, wächset langsam. Er bleibt gleich dem Elefanten am längsten im Mutterleibe; die Jahre seiner Jugend dauren lange, unvergleichbar länger als irgendeines Tieres Die glückliche Zeit also, zu lernen, zu wachsen, sich seines Lebens zu freuen und es auf die unschuldigste Weise zu genießen, zog die Natur so lang, als sie sie ziehen konnte. Manche Tiere sind in wenigen Jahren, Tagen, ja beinah schon im Augenblick der Geburt ausgebildet; sie sind aber auch desto unvollkommener und sterben desto früher. Der Mensch muß am längsten lernen, weil er am meisten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigenerlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunst ankommt. Würde nachher auch durch das unnennbare Heer der Zufälle und Gefahren sein Leben abgekürzet, so hat er doch seine sorgenfreie lange Jugend genossen, da mit seinem Körper und Geist auch die Welt um ihn her wuchs, da mit seinem langsam heraufsteigenden, immer erweiterten Gesichtskreise auch der Kreis seiner Hoffnungen sich weitete und sein jugendlich edles Herz in rascher Neugier, in ungeduldiger Schwärmerei für alles Große, Gute und Schöne immer heftiger schlagen lernte. Die Blüte des Geschlechtstriebes entwickelt sich bei einem gesunden, ungereizten Menschen später als bei irgendeinem Tier; denn er soll lange leben und den edelsten Saft seiner Seelen- und Leibeskräfte nicht zu früh verschwenden. Das Insekt, das der Liebe früh dienet, stirbt auch früh; alle keusche einpaarige Tiergeschlechter leben länger, als die ohne Ehe leben Der lüsterne Hahn stirbt bald; die treue Waldtaube kann 50 Jahre leben. Für den Liebling der Natur hienieden ist also auch die Ehe geordnet, und die ersten, frischesten Jahre seines Lebens soll er gar als eine eingehüllete Knospe der Unschuld sich selbst leben. Es folgen darauf lange Jahre der männlichen und heitersten[151] Kräfte, in denen seine Vernunft reift, die bei dem Menschen, sogar mit den Zeugungskräften, in ein den Tieren unbekanntes hohes Alter hinauf grünet, bis endlich der sanfte Tod kommt und den fallenden Staub sowohl als den eingeschlossenen Geist von der ihnen selbst fremden Zusammenfügung erlöset. Die Natur hat also an die brechliche Hütte des menschlichen Leibes alle Kunst verwandt, die ein Gebilde der Erde fassen konnte, und selbst in dem, was das Leben kürzt und schwächet, hat sie wenigstens den kürzern mit dem empfindlichern Genuß, die aufreibende mit der inniger gefühlten Kraft vergolten.

32

Mir sind nur zwei ganz nackte Nationen bekannt, die aber auch in einer tierischen Wildheit leben, die Peschereis an der äußersten Spitze von Südamerika, ein Auswurf andrer Nationen, und ein wildes Volk bei Arakan und Pegu, das mir in den dortigen Gegenden noch ein Rätsel ist, ob ich's gleich in einer der neusten Reisen (»Mackintosh Travels«, T. I, S. 341, London 1782) bestätigt finde.

33

»Vom körperlichen wesentlichen Unterschiede der Tiere und Menschen«, Göttingen 1771.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 147-152.
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