IV

Die Empfindungen und Triebe der Menschen sind allenthalben dem Zustande, worin sie leben, und ihrer Organisation gemäß; allenthalben aber werden sie von Meinungen und von der Gewohnheit regieret

[310] Selbsterhaltung ist das erste, wozu ein Wesen da ist: vom Staubkorn bis zur Sonne strebt jedes Ding, was es ist, zu bleiben; dazu ist den Tieren Instinkt eingeprägt, dazu ist dem Menschen sein Analogon des Instinkts oder der Vernunft gegeben. Gehorchend diesem Gesetz, suchet er sich, durch den wilden Hunger gezwungen, überall seine Speise; er strebt, ohne daß er weiß warum und wozu, von Kindheit auf nach Übung seiner Kräfte, nach Bewegung. Der Matte ruft den Schlummer nicht, aber der Schlummer kommt und erneuet ihm sein Dasein; dem Kranken hilft, wenn sie kann, die innere Lebenskraft oder sie verlanget wenigstens und ächzet. Seines Lebens wehret sich der Mensch gegen alles, was ihn anficht, und auch ohne daß er's weiß, hat die Natur in ihm und um ihn her Anstalten gemacht, ihn dabei zu unterstützen, zu wahren, zu erhalten.

Es hat Philosophen gegeben, die unser Geschlecht dieses Triebes der Selbsterhaltung wegen unter die reißenden Tiere gesetzt und seinen natürlichen Zustand zu einem Stande des Kriegs gemacht haben. Offenbar ist viel Uneigentliches in dieser Behauptung Freilich, indem der Mensch die Frucht eines Baums bricht, ist er ein Räuber, indem er ein Tier tötet, ein Mörder, und wenn er mit seinem Fuß, mit seinem[310] Hauch vielleicht einer zahllosen Menge ungesehener Lebendigen das Leben nimmt, ist er der ärgste Unterdrücker der Erde. Jedermann weiß, wie weit es die zarte indische sowie die übertriebne ägyptische Philosophie zu bringen gesucht hat, damit der Mensch ein ganz unschädliches Geschöpf werde, aber für die Spekulation vergebens. Ins Chaos der Elemente sehen wir nicht, und wenn wir kein großes Tier verzehren, verschlingen wir eine Menge kleiner Lebendiger im Wasser, in der Luft, der Milch, den Gewächsen.

Von dieser Grübelei also hinweg, stellen wir den Menschen unter seine Brüder und fragen: Ist er von Natur ein Raubtier gegen seinesgleichen, ein ungeselliges Wesen? Seiner Gestalt nach ist er das erste nicht und seiner Geburt nach das letzte noch minder. Im Schoß der Liebe empfangen und an ihrem Busen gesäuget, wird er von Menschen auferzogen und empfing von ihnen tausend Gutes, das er um sie nicht verdiente. Sofern ist er also wirklich in und zu der Gesellschaft gebildet; ohne sie konnte er weder entstehen noch ein Mensch werden. Wo Ungeselligkeit bei ihm anfängt, ist, wo man seine Natur bedrängt, indem er mit andern Lebendigen kollidieret; hier ist er aber wiederum keine Ausnahme, sondern wirkt nach dem großen Gesetz der Selbsterhaltung in allen Wesen. Lasset uns sehen, was die Natur für Mittel aussann, ihn dennoch auch hier, soviel sie konnte, befriedigend einzuschränken und den Krieg aller gegen alle zu hindern.

1. Da der Mensch das vielfach künstlichste Geschöpf ist, so findet auch bei keiner Gattung der Lebendigen eine so große Verschiedenheit genetischer Charaktere statt als beim Menschen. Der hinreißende, blinde Instinkt fehlet seinem feinen Gebilde; die Strahlen der Gedanken und Begierden hingegen laufen in seinem Geschlecht wie in keinem andern auseinander. Seiner Natur nach darf also der Mensch weniger mit andern kollidieren, da diese in einer ungeheuren Mannigfaltigkeit von Anlagen, Sinnen und Trieben bei ihm verteilt und gleichsam vereinzelt ist. Was einem Menschen gleich[311] gültig vorkommt, ziehet den andern, und so hat jedweder eine Welt des Genusses um sich, eine für ihn geschaffene Schöpfung.

2. Diesem divergierenden Geschlecht gab die Natur einen großen Raum, die reiche weite Erde, auf der die verschiedensten Erdstriche und Lebensweisen die Menschen zerstreuen sollten. Hier zog sie Berge, dort Ströme und Wüsten, damit sie die Menschen auseinander brächte; den Jägern gab sie den weiten Wald, den Fischern das weite Meer, den Hirten die weite Ebne. Ihre Schuld ist's also nicht, wenn Vögel, betrogen von der Kunst des Vogelstellers, in ein Netz flogen, wo sie einander Speise und Augen weghacken und den Atem verpesten; denn sie setzte den Vogel in die Luft und nicht ins Netz des Voglers. Sehet jene wilden Stämme an, wie unwilde sie unter sich leben! Da neidet keiner den andern, da erwirbt sich und genießt jeder das Seine in Frieden. Es ist gegen die Wahrheit der Geschichte, wenn man den bösartigen, widersinnigen Charakter zusammengedrängter Menschen, wetteifernder Künstler, streitender Politiker, neidiger Gelehrten zu allgemeinen Eigenschaften des menschlichen Geschlechts macht; der größeste Teil der Menschen auf der Erde weiß von diesen ritzenden Stacheln und ihren blutigen Wunden nichts, er lebt in der freien Luft und nicht im verpestenden Hauch der Städte. Wer das Gesetz notwendig macht, weil es sonst Gesetzesverächter gäbe, der setzt voraus, was er erst beweisen sollte. Dränget die Menschen nicht in enge Kerker, so dörft ihr ihnen keine frische Luft zulächeln. Bringet sie nicht in künstliche Raserei, so dörft ihr sie durch keine Gegenkünste binden.

3. Auch die Zeiten, wenn Menschen zusammen sein mußten, verkürzte die Natur, wie sie sie verkürzen konnte. Der Mensch ist einer langen Erziehung bedürftig; aber alsdenn ist er noch schwach; er hat die Art des Kindes, das zürnt und wieder vergißt, das oft unwillig ist, aber keinen langen Groll nähret. Sobald er Mann wird, wacht ein Trieb in ihm auf, und er verläßt das Haus des Vaters. Die Natur wirkte[312] in diesem Triebe: sie Stieß ihn aus, damit er sein eigen Nest bereite.

Und mit wem bereitet er dasselbe? Mit einem Geschöpf, das ihm so unähnlich-ähnlich, das ihm in streitbaren Leidenschaften so ungleichartig gemacht ist, als es im Zweck der Vereinigung beider nur irgend geschehen konnte. Des Weibes Natur ist eine andre als des Mannes; sie empfindet anders, sie wirkt anders. Elender, dessen Nebenbuhlerin sein Weib ist oder die ihn in männlichen Tugenden gar überwindet! Nur durch nachgebende Gute soll sie ihn beherrschen, und so wird der Zankapfel abermals ein Apfel der Liebe. –

Weiter will ich die Geschichte der Vereinzelung des Menschengeschlechts nicht fortsetzen; der Grund ist gelegt, daß mit den verschiednen Häusern und Familien auch neue Gesellschaften, Gesetze, Sitten und sogar Sprachen werden. Was zeigen diese verschiednen, diese unvermeidlichen Dialekte, die sich auf unsrer Erde in unbeschreibbarer Anzahl, und oft schon in der kleinsten Entfernung, nebeneinander finden? Das zeigen sie, daß es die weitverbreitende Mutter nicht auf Zusammendrängung, sondern auf freie Verpflanzung ihrer Kinder anlegte. Kein Baum soll, soviel möglich, dem andern die Luft nehmen, damit dieser ein Zwerg bleibe oder, um einen freien Atemhauch zu genießen, sich zum elenden Krüppel beuge. Eignen Platz soll er finden, damit er durch eignen Trieb wurzelaus in die Höhe steige und eine blühende Krone treibe.

Nicht Krieg also, sondern Friede ist der Naturzustand des unbedrängten menschlichen Geschlechts; denn Krieg ist ein Stand der Not, nicht des ursprünglichen Genusses. In den Händen der Natur ist er (die Menschenfresserei selbst eingerechnet) nie Zweck, sondern hie und da ein hartes, trauriges Mittel, dem die Mutter aller Dinge selbst nicht allenthalben entweichen konnte, das sie aber zum Ersatz dafür auf desto höhere, reichere, vielfacher Zwecke anwandte.

Ehe wir also zum traurigen Haß kommen dörfen, wollen wir von der erfreuenden Liebe reden. Überall auf der Erde[313] ist ihr Reich; nur allenthalben zeigt sie sich unter andern Gestalten.

Sobald die Blume ihren Wuchs erreicht hat, blühet sie; die Zeit der Blüte richtet sich also nach der Periode des Wuchses und diese nach der sie emportreibenden Sonnenwärme. Die Zeit der früheren oder späteren Menschenblüte hangt gleichfalls vom Klima ab und von allem, was zu ihm gehöret. Sonderbar weit sind auf unsrer kleinen Erde die Zeiten der menschlichen Mannbarkeit nach Lebensarten und Erdstrichen verschieden. Die Perserin heiratet im achten und gebiert im neunten Jahr; unsre alten Deutschen waren dreißigjährige Männinnen, ehe sie an die Liebe dachten.

Jedermann siehet, wie sehr diese Unterschiede das ganze Verhältnis der Geschlechter zueinander ändern mußten. Die Morgenländerin ist ein Kind, wenn sie verheiratet wird; sie blühet frühe auf und frühe ab; sie wird von dem erwachsneren Mann also auch wie Kind und Blume behandelt. Da nun jene wärmeren Gegenden die Reize des physischen Triebes in beiden Geschlechtern nicht nur früher, sondern auch lebhafter entwickeln: welcher Schritt war näher, als daß der Mann die Vorzüge seines Geschlechts gar bald mißbrauchte und sich einen Garten dieser vorübergehenden Blumen sammlen wollte. Fürs Menschengeschlecht war dieser Schritt von großer Folge. Nicht nur, daß die Eifersucht des Mannes seine mehreren Weiber in einen Harem schloß, wo ihre Ausbildung mit dem männlichen Geschlecht unmöglich gleich fortgehen konnte, sondern da die Erziehung des Weibes von Kindheit auf für den Harem und die Gesellschaft mehrerer Weiber eingerichtet, ja das junge Kind oft schon im zweiten Jahr verkauft oder vermählt ward wie anders, als daß der ganze Umgang des Mannes, die Einrichtung des Hauses, die Erziehung der Kinder, endlich auch die Fruchtbarkeit selbst mit der Zeit an diesem Mißverhältnis teilnehmen mußte? Es ist nämlich gnugsam erwiesen, daß eine zu frühe Heirat des Weibes und ein zu starker Reiz des Mannes weder der Tüchtigkeit der Gestalten noch der Fruchtbarkeit des Geschlechts[314] förderlich sei; ja, die Nachrichten mehrerer Reisenden machen es wahrscheinlich, daß in manchen dieser Gegenden wirklich mehrere Töchter als Söhne geboren werden, welches, wenn die Sache gegründet ist, sowohl eine Folge der Polygamie sein kann, als es wiederum eine fortwirkende Ursache derselben wurde. Und gewiß ist dies nicht der einzige Fall, da die Kunst und die gereizte Üppigkeit der Menschen die Natur aus ihrem Wege geleitet hätte; denn diese hält sonst ein ziemliches Gleichmaß in den Geburten beider Geschlechter. Wie aber das Weib die zarteste Sprosse unsrer Erde und die Liebe das mächtigste Mobil ist, das von jeher in der Schöpfung gewirket, so mußte notwendig die Behandlung derselben auch der erste kritische Scheidepunkt in der Geschichte unsres Geschlechts werden. Allenthalben war das Weib der erste Zankapfel der Begierden und seiner Natur nach gleichsam der erste brüchige Stein im Gebäude der Menschenschöpfung. –

Lasset uns z.B. Cook auf seiner letzten Reise begleiten. Wenn auf den Sozietäts- und andern Inseln das weibliche Geschlecht dem Dienst der Cythere eigen zu sein schien, so daß es sich nicht nur selbst um einen Nagel, einen Putz, eine Feder preisgab, sondern auch der Mann um einen kleinen Besitz, der ihn lüstete, sein Weib zu verhandeln bereit war, so ändert sich mit dem Klima und dem Charakter andrer Insulaner offenbar die Szene. Unter Völkern, wo der Mann mit der Streitaxt erschien, war auch das Weib verborgner im Hause; die rauhere Sitte jenes machte auch diese härter, daß weder ihre Häßlichkeit noch ihre Schönheit den Augen der Welt bloßlag. An keinem Umstande, glaube ich, läßt sich der eigentliche Charakter eines Mannes oder einer Nation so unterscheidend erkennen als an der Behandlung des Weibes. Die meisten Völker, denen ihre Lebensart schwer wird, haben das weibliche Geschlecht zu Haustieren erniedrigt und ihm alle Beschwerlichkeiten der Hütte aufgetragen; durch eine gefahrvolle, kühne, männliche Unternehmung glaubte der Mann dem Joch aller kleinen Geschäfte entnommen zu sein und[315] überließ diese den Weibern. Daher die große Subalternität dieses Geschlechts unter den meisten Wilden von allerlei Erdstrichen; daher auch die Geringschätzung der Söhne gegen ihre Mütter, sobald sie in die männlichen Jahre treten. Frühe wurden sie zu gefahrvollen Übungen erzogen, also oft an die Vorzüge des Mannes erinnert, und eine Art rauhen Kriegs- oder Arbeitmutes trat bald an die Stelle zärtlicher Neigung. Von Grönland bis zum Lande der Hottentotten herrscht diese Geringschätzung der Weiber bei allen unkultivierten Nationen, ob sie sich gleich in jedem Volk und Weltteil anders gestaltet. In der Sklaverei sogar ist das Negerweib weit unter dem Neger, und der armseligste Karibe dünkt sich in seinem Hause ein König.

Aber nicht nur die Schwachheit des Weibes scheint es dem Mann untergeordnet zu haben, sondern an den meisten Orten trug auch die größere Reizbarkeit desselben, seine List, ja überhaupt die feinere Beweglichkeit seiner Seele dazu noch ein mehreres bei. Die Morgenländer z.B. begreifen es nicht, wie in Europa, dem Reich der Weiber, ihre ungemessene Freiheit ohne die äußerste Gefahr des Mannes stattfinden oder bestehen könne; bei ihnen, meinen sie, wäre alles voll Unruh, wenn man diese leicht beweglichen, listigen, alles unternehmenden Geschöpfe nicht einschränkte. Von manchen tyrannischen Gebräuchen gibt man keine Ursache an, als daß durch dies oder jenes Betragen die Weiber sich ehemals selbst ein so hartes Gesetz verdient und die Männer ihrer Sicherheit und Ruhe wegen dazu gezwungen hätten. So erklärt man z.B. den unmenschlichen Gebrauch in Indien, das Verbrennen der Weiber mit ihren Männern das Leben des Mannes, sagt man, sei ohne dieses fürchterliche Gegenmittel ihres eignen, mit ihm aufzuopfernden Lebens nicht sicher gewesen; und beinah ließe sich, wenn man von der verschlagnen Lüsternheit der Weiber in diesen Ländern, von den zauberischen Reizen der Tänzerinnen in Indien von den Kabalen der Harems unter Türken und Persern lieset, etwas von der Art glauben. Die Männer nämlich waren zu unvermögend, den[316] leichten Zunder, den ihre Üppigkeit zusammenbrachte, vor Funken zu bewahren, aber auch zu schwach und lässig, den unermeßlichen Knäuel zarter, weiblicher Fähigkeiten und Anschläge zu bessern Zwecken zu entwickeln; als üppig-schwache Barbaren also schafften sie sich auf eine barbarische Art Ruhe und unterdrückten die mit Gewalt, deren List sie mit Verstand nicht zu überwinden vermochten Man lese, was Morgenländer und Griechen über das Weib gesagt haben, und man wird Materialien finden, sich ihr befremdendes Schicksal in den meisten Gegenden heißer Klimate zu erklären. Freilich lag im Grunde alles wieder an den Männern, deren stumpfe Brutalität das Übel gewiß nicht ausrottete, das sie so ungelenk einschränkte, wie es nicht nur die Geschichte der Kultur, die das Weib durch vernünftige Bildung dem Mann gleichgesetzt hat, sondern auch das Beispiel einiger vernünftigen Völker ohne feinere Kultur zeiget. Der alte Deutsche, auch in seinen rauhen Wäldern, er kannte das Edle im Weibe und genoß an ihm die schönsten Eigenschaften seines Geschlechts, Klugheit, Treue, Mut und Keuschheit; allerdings aber kam ihm auch sein Klima, sein genetischer Charakter, seine ganze Lebensweise hierin zu Hülfe. Er und sein Weib wuchsen, wie die Eichen, langsam, unverwüstlich und kräftig; die Reize der Verführung fehlten seinem Lande; Triebe zu Tugenden dagegen gab beiden Geschlechtern sowohl die gewohnte Verfassung als die Not. Tochter Germaniens, fühle den Ruhm deiner Urmütter und eifre ihm nach: unter wenigen Völkern rühmt die Geschichte, was sie von ihnen rühmet; unter wenigen Völkern hat auch der Mann die Tugend des Weibes wie im ältesten Germanien geehret. Sklavinnen sind die Weiber der meisten Nationen, die in solcher Verfassung leben; ratgebende Freundinnen waren deine Mütter, und jede Edle unter ihnen ist's noch.

Lasset uns also auf die Tugenden des Weibes kommen wie sie sich in der Geschichte der Menschheit offenbaren. Auch unter den wildesten Völkern unterscheidet sich das Weib vom Mann durch eine zärtere Gefälligkeit, durch Liebe[317] zum Schmuck und zur Schönheit; auch da noch sind diese Eigenschaften kennbar, wo die Nation mit dem Klima und dem schnödesten Mangel kämpfet. Überall schmückt sich das Weib, wie wenigen Putz es auch hie und da, sich zu schmücken, habe; so bringet im ersten Frühling die lebenreiche Erde wenigstens einige geruchlose Blümchen hervor, Vorboten, was sie in andern Jahrszeiten zu tun vermöchte. – Reinlichkeit ist eine andre Weibertugend, dazu sie ihre Natur zwingt und der Trieb, zu gefallen, reizet. Die Anstalten, ja die oft übertriebnen Gesetze und Gebräuche, wodurch alle gesunde Nationen die Krankheiten der Weiber absonderten und unschädlich machten, beschämen manche kultivierte Völker. Sie wußten und wissen also auch nichts von einem großen Teil der Schwachheiten, die bei uns sowohl eine Folge als eine neue Ursache jener tiefen Versunkenheit sind, die eine üppige, kranke Weiblichkeit auf eine elende Nachkommenschaft fortbreitet. – Noch eines größern Ruhmes ist die sanfte Duldung, die unverdrossene Geschäftigkeit wert, in der sich, ohne den Mißbrauch der Kultur, das zarte Geschlecht überall auf der Erde auszeichnet Mit Gelassenheit trägt es das Joch, das ihm die rohe Übermacht der Männer, ihre Liebe zum Müßiggange und zur Trägheit, endlich auch die Ausschweifungen seiner Vorfahren selbst als eine geerbte Sitte auflegten, und bei den armseligsten Völkern finden sich hierin oft die größesten Muster. Es ist nicht Verstellung, wenn in vielen Gegenden die mannbare Tochter zur beschwerlichen Ehe gezwungen werden muß; sie entläuft der Hütte, sie fliehet in die Wüste; mit Tränen nimmt sie ihren Brautkranz; denn es ist die letzte Blüte ihrer vertändelten, freieren Jugend. Die meisten Brautlieder solcher Nationen sind Aufmunterungs-, Trost- und halbe Trauerlieder148, über die wir spotten, weil wir ihre Unschuld und Wahrheit nicht mehr fühlen. Zärtlich nimmt sie Abschied von allem, was ihrer Jugend so lieb war; als eine Verstorbene verläßt sie das Haus ihrer Eltern,[318] verlieret ihren vorigen Namen und wird das Eigentum eines Fremden, der vielleicht ihr Tyrann ist. Das Unschätzbarste, was ein Mensch hat, muß sie ihm aufopfern, Besitz ihrer Person, Freiheit, Willen, ja vielleicht Gesundheit und Leben; und das alles um Reize, die die keusche Jungfrau noch nicht kennet und die ihr vielleicht bald in einem Meer von Ungemächlichkeit verschwinden. Glücklich, daß die Natur das weibliche Herz mit einem unnennbar zarten und starken Gefühl für den persönlichen Wert des Mannes ausgerüstet und geschmückt hat. Durch dies Gefühl erträgt sie auch seine Härtigkeiten; sie schwingt sich in einer süßen Begeisterung so gern zu allem auf, was ihr an ihm edel, groß, tapfer, ungewöhnlich dünket; mit erhebender Teilnehmung hört sie männliche Taten, die ihr, wenn der Abend kommt, die Last des beschwerlichen Tages versüßen und es zum Stolz ihr machen, daß sie, da sie doch einmal zugehören muß, einem solchen Mann gehöre. Die Liebe des Romantischen im weiblichen Charakter ist also eine wohltätige Gabe der Natur, Balsam für sie und belohnende Aufmunterung des Mannes; denn der schönste Kranz des Jünglings war immer die Liebe der Jungfrau.

Endlich die süße Mutterliebe, mit der die Natur dies Geschlecht ausstattete; fast unabhängig ist sie von kalter Vernunft und weit entfernt von eigennütziger Lohnbegierde. Nicht, weil es liebenswürdig ist, liebet die Mutter ihr Kind, sondern weil es ein lebendiger Teil ihres Selbst, das Kind ihres Herzens, der Abdruck ihrer Natur ist. Darum regen sich ihre Eingeweide über seinem Jammer; ihr Herz klopft stärker bei seinem Glück; ihr Blut fließt sanfter, wenn die Mutterbrust, die es trinkt, es gleichsam noch an sie knüpfet. Durch alle unverdorbene Nationen der Erde geht dieses Muttergefühl; kein Klima, das sonst alles ändert, konnte dies ändern; nur die verderbtesten Verfassungen der Gesellschaft vermochten etwa mit der Zeit das weiche Laster süßer zu machen als jene zarte Qual mütterlicher Liebe. Die Grönländerin säugt ihren Sohn bis ins dritte, vierte Jahr, weil[319] das Klima ihr keine Kinderspeisen darbeut; sie erträgt von ihm alle Unarten des keimenden männlichen Übermuts mit nachsehender Duldung Mit mehr als Manneskraft ist die Negerin gewaffnet, wenn ein Ungeheuer ihr Kind anfällt; mit staunender Verwunderung lieset man die Beispiele ihrer das Leben verachtenden mütterlichen Großmut. Wenn endlich der Tod der zärtlichen Mutter, die wir eine Wilde nennen, ihren besten Trost, den Wert und die Sorge ihres Lebens, raubt – man lese bei Carver149 die Klage der Nadowesserin, die ihren Mann und ihren vierjährigen Sohn verloren hatte – : das Gefühl, das in ihr herrscht, ist über alle Beschreibung. – Was fehlet also diesen Nationen an Empfindungen der wahren weiblichen Humanität, wenn nicht etwa der Mangel und die trauige Not oder ein falscher Punkt der Ehre und eine geerbte rohe Sitte sie hie und da auf Irrwege leiten? Die Keime zum Gefühl alles Großen und Edeln liegen nicht nur allenthalben da, sondern sie sind auch überall ausgebildet, nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die Eigenheit des Volks erlaubte.


Ist dieses, so wird der Mann dem Weibe nicht nachbleiben; und welche denkbare männliche Tugend wäre es, die nicht hie und da auf der Erde den Ort ihrer Blüte gefunden hätte? Der männliche Mut, auf der Erde zu herrschen und sein Leben nicht ohne Tat, aber gnügsam-frei zu genießen, ist wohl die erste Mannestugend; sie hat sich am weitsten und vielartigsten ausgebildet, weil fast allenthalben die Not zu ihr zwang und jeder Erdstrich, jede Sitte sie anders lenkte. Bald also suchte der Mann in Gefahren Ruhm, und der Sieg über dieselbe war das kostbarste Kleinod seines männlichen Lebens. Vom Vater ging diese Neigung auf den Sohn über; die frühe Erziehung beförderte sie, und die Anlage zu ihr ward in wenigen Generationen dem Volk erblich. Dem gebornen[320] Jäger ist die Stimme seines Horns und seiner Hunde, was sie sonst keinem ist; Eindrücke der Kindheit trugen dazu bei; oft sogar geht das Jägergesicht und das Jagdgehirn in die Geschlechter über. So mit allen andern Lebensarten freier, wirkender Völker. Die Lieder jeder Nation sind über die ihr eignen Gefühle, Triebe und Seharten die besten Zeugen, ein wahrer Kommentar ihrer Denk- und Empfindungsweise aus ihrem eignen fröhlichen Munde.150 Selbst ihre Gebräuche, Sprüchwörter und Klugheitsregeln bezeichnen lange nicht soviel, als jene bezeichnen; noch mehr aber täten es, wenn wir Proben davon hätten oder vielmehr die Reisenden sie bemerkten, der Nationen charakteristische Träume. Im Traum und im Spiel zeiget sich der Mensch ganz, wie er ist, in jenem aber am meisten.

Die Liebe des Vaters zu seinen Kindern ist die zweite Tugend, die sich beim Mann am besten durch männliche Erziehung äußert. Frühe gewöhnt der Vater den Sohn zu seiner Lebensweise: er lehrt ihn seine Künste, weckt in ihm das Gefühl seines Ruhms und liebet in ihm sich selbst, wenn er alt oder nicht mehr sein wird. Dies Gefühl ist der Grund aller Stammesehre und Stammestugend auf der Erde; es macht die Erziehung zum öffentlichen, zum ewigen Werk; es hat alle Vorzüge und Vorurteile der Menschengeschlechter hinabgeerbet. Daher fast bei allen Stämmen und Völkern die teilnehmende Freude, wenn der Sohn ein Mann wird und sich mit dem Gerät oder den Waffen seines Vaters schmücket, daher die tiefe Trauer des Vaters, wenn er diese seine stolzeste Hoffnung verlieret. Man lese die Klage des Grönländers um seinen Sohn151, man höre die Klagen Ossians um seinen Oskar, und man wird in ihnen Wunden des Vaterherzens, die schönsten Wunden der männlichen Brust, bluten sehen. –

Die dankbare Liebe des Sohns zu seinem Vater ist freilich[321] nur eine geringe Wiedervergeltung des Triebes, mit dem der Vater den Sohn liebte; aber auch das ist Naturabsicht. Sobald der Sohn Vater wird, wirkt das Herz auf seine Söhne hinunter; der vollere Strom soll hinab, nicht aufwärts fließen; denn nur also erhält sich die Kette stets wachsender, neuer Geschlechter. Es ist also nicht als Unnatur zu schelten, wenn einige vom Mangel gedrückte Völker das Kind dem abgelebten Vater vorziehn oder, wie einige Erzählungen sagen, den Tod der Vergreiseten sogar befördern. Nicht Haß, sondern traurige Not oder gar eine kalte Gutmütigkeit ist diese Beförderung, da sie die Alten nicht nähren, nicht mitnehmen können und ihnen also lieber mit freundschaftlicher Hand selbst ein qualenloses Ende bereiten, als sie den Zähnen der Tiere zurücklassen wollen. Kann nicht im Drange der Not, wehmütig genug, der Freund den Freund töten und ihm, den er nicht erretten kann, damit eine Wohltat erweisen, die er ihm nicht anders erweisen konnte? – Daß aber der Ruhm der Väter in der Seele ihres Stammes unsterblich lebe und wirke, zeigen bei den meisten Völkern ihre Lieder und Kriege, ihre Geschichten und Sagen, am meisten die mit ewiger Hochachtung derselben sich forterbende Lebensweise.

Gemeinschaftliche Gefahren endlich erwecken gemeinschaftlichen Mut: sie knüpfen also das dritte und edelste Band der Männer, die Freundschaft. In Lebensarten und Ländern, die gemeinschaftliche Unternehmungen nötig machen, sind auch heroische Seelen vorhanden, die den Bund der Liebe auf Leben und Tod knüpfen. Dergleichen waren jene ewigberühmten Freunde der griechischen Heldenzeit; dergleichen waren jene gepriesenen Scythen und sind allenthalben noch unter den Völkern, die Jagd, Krieg, Züge in Wäldern und Wüsteneien oder sonst Abenteuer lieben. Der Ackermann kennet nur einen Nachbar, der Handwerker einen Zunftgenossen, den er begünstigt oder neidet; der Wechsler endlich, der Gelehrte, der Fürstendiener – wie entfernter sind sie von jener eigengewählten, tätigen, erprobten Freundschaft, von der eher der Wandrer, der Gefangne,[322] der Sklave weiß, der mit dem andern an einer Kette ächzet. In Zeiten des Bedürfnisses, in Gegenden der Not verbünden sich Seelen: der sterbende Freund ruft den Freund um Rache seines Blutes an und freut sich, ihn hinterm Grabe mit demselben wiederzufinden. Mit unauslöschlicher Flamme brennet dieser, den Schatten seines Freundes zu versöhnen, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, ihm beizustehen im Streit und das Glück des Ruhms mit ihm zu teilen. Ein gemeinschaftlicher Stamm kleiner Völker ist nichts als ein also verbündeter Chor von Blutsfreunden, die sich von andern Geschlechtern in Haß oder in Liebe scheiden. So sind die arabischen, so sind manche tatarische Stämme und die meisten amerikanischen Völker. Die blutigsten Kriege zwischen ihnen, die eine Schande der Menschheit scheinen, entsprangen zuerst aus dem edelsten Gefühl derselben, dem Gefühl der beleidigten Stammesehre oder einer gekränkten Stammesfreundschaft.

Weiterhin und auf die verschiednen Regierungsformen weiblicher oder männlicher Regenten der Erde lasse ich mich jetzt und hier noch nicht ein. Denn da aus den bisher angezeigten Gründen es sich noch nicht erklären läßt, warum ein Mensch durchs Recht der Geburt über Tausende seiner Brüder herrsche, warum er ihnen ohne Vertrag und Einschränkung nach Willkür gebieten, Tausende derselben ohne Verantwortung in den Tod liefern, die Schätze des Staats ohne Rechenschaft verzehren und gerade dem Armen darüber die bedrückendsten Auflagen tun dörfe; da es sich noch weniger aus den ersten Anlagen der Natur ergibt, warum ein tapfres und kühnes Volk, d.i. tausend edle Männer und Weiber, oft die Füße eines Schwachen küssen und den Zepter anbeten, womit ein Unsinniger sie blutig schlägt, welcher Gott oder Dämon es ihnen eingegeben, eigne Vernunft und Kräfte, ja oft Leben und alle Rechte der Menschheit der Willkür eines zu überlassen und es sich zur höchsten Wohlfahrt und Freude zu rechnen, daß der Despot einen künftigen Despoten zeuge – da, sage ich, alle diese Dinge dem ersten Anblick[323] nach die verworrensten Rätsel der Menschheit scheinen und glücklicher- oder unglücklicherweise der größeste Teil der Erde diese Regierungsformen nicht kennet, so können wir sie auch nicht unter die ersten, notwendigen, allgemeinen Naturgesetze der Menschheit rechnen. Mann und Weib, Vater und Sohn, Freund und Feind sind bestimmte Verhältnisse und Namen; aber Führer und König, ein erblicher Gesetzgeber und Richter, ein willkürlicher Gebieter und Staatsverweser für sich und alle seine noch. Ungebornen – diese Begriffe wollen eine andre Entwicklung, als wir ihnen hier zu geben vermögen. Gnug, daß wir die Erde bisher als ein Treibhaus natürlicher Sinne und Gaben, Geschicklichkeiten und Künste, Seelenkräfte und Tugenden in ziemlich großer Verschiedenheit derselben bemerkt haben; wiefern sich nun der Mensch dadurch Glückseligkeit zu bauen berechtigt oder fähig sei, ja, wo irgend der Maßstab zu ihr liege, dies lasset uns jetzo erwägen.

148

S. einige derselben in den »Volksliedern«, T. 1, S. 33, T. 2, S. 96–98, S. 104.

149

Carvers Reisen, S. 338 u. f.

150

S. die »Volkslieder«, teils allgemein, teils insonderheit die nordischen Stücke, T. 1, S. 166, 175, 177, 242, 247; T. 2, S. 210, 245.

151

»Volkslieder«, T. 2, S. 128–129.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 310-324.
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