8.

[66] Wenn Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Kunst ist: freilich, so muß Laokoon nicht schreien, sondern lieber nur beklemmt seufzen: denn wenn schon Sophokles zu seinem Theatralischen Auftritt einen brüllenden Philoktet eben so ungereimt fand, als Leßing den stoischen Philoktet findet: wie viel mehr der Künstler, bei welchem ein Seufzer und ein Schrei des offnen Mundes ewig dauret.[66]

Ohne es nun durch eine Handvoll Vermuthungen ausmachen zu wollen, wer den andern nachgeahmet, ob der Künstler den Dichter, oder der Dichter den Künstler? führe ich nur Eins an, was Hrn. Leßing in dem Augenblicke1 nicht beigefallen, daß es außer Pisander,2 der nur als eine Quelle Virgils im Unbestimmten angegeben wird, es Griechen gegeben, wo Virgil den nähern Gegenstand, die Geschichte Laokoons selbst, geschöpft haben könne. Daß unter Sophokles verlohrnen Stücken auch ein Laokoon sey, hat Hr. L. selbst angeführt,3 und Servius meinet, daß Virgil die Geschichte Laokoons aus dem Griechischen des Euphormio geschöpfet – Vermuthungen, die wenigstens weiter bringen können, als der leere Name eines Pisanders, oder ein Quintus Calaber, der es nicht verdiente, von Hrn. Leßing4 auch nur als ein halber Gewährsmann angeführt zu werden: denn was geht seine ganze Giganten-Erzählung unsern Virgil, oder Laokoon an?

Quintus Calaber ist ein später Schriftsteller, ein übertreibender Dichter, ein seyn wollendes Original – mehr Umstände braucht es nicht, ihm bei dieser Sache den Zutritt eines Zeugen strittig zu machen. Er dichtet bei seinem Laokoon so weit in die Welt hinein, daß die Dichterische Fabel kaum mehr Fabel bleibt: sie wird ein abentheuerliches Riesenmährchen. Warum muß unter dem warnenden Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die List der Minerva fallen soll; was brauchts die ganze Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum müssen seine unschuldigen Augen verblinden? warum muß er rasen? Etwa um noch blind und verstockt fortzufahren in seinem Rathe, und also als ein trotzender Gigante gegen die Götter zu erscheinen? – Etwa weiter durch diesen verstockten Rath noch erst die neue Verbrecherstrafe der Drachen zu verdienen – Was brauchts den gutgesinneten Patrioten erst in einen Himmelsstürmer, in einen tollen Verbrecher[67] umzuschaffen, und nachher gar – Unschuldige für ihn leiden zu lassen? Laokoon selbst geschieht nichts von den Drachen: seine armen unschuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleischt, – abentheuerliche, abscheuliche Scene, ohne Wahl und Zweck, ohne Zusammenordnung und dichtenden Verstand!

Ich bleibe also bei Virgil und dem Künstler. Virgil mag aus Pisander, aus Euphormio, und woher es sey, geschöpft haben: so schöpfte er als Dichter, als Epischer Dichter, als Homer der Römer. Er kleidete also auch diese Erzählung in ein Episches Gewand: er goß sie in eine Art von Neuhomerischer Form; und in solcher Gestalt tritt sie uns vor Augen. Wir haben einen Schriftsteller,5 der sich die Mühe gegeben, Virgil mit den Griechen zu vergleichen, und ihn daher zu erläutern; Schade aber, daß ihm in seiner Vergleichung bloß Worte, Bilder und einzelne Lappen vor Augen sind. Die Manier seiner Poesie aus Homer und andern Griechen zu erklären, ist ihm nicht eingefallen, sonst müßte sich auch in dieser Erzälung von Laokoon der Dichter zeigen, der nach Homer zeichnen wollte. – Vielleicht wird meine Vermuthung, welche Stelle Homers Virgil nachgeahmet, etwas zu unserm Zwecke thun.

Aeneas mitten im Erzälen,6 kommt auf die Geschichte Laokoons, und siehe! –


hîc aliud maius miseris multoque tremendum

obiicitur magis atque improvida pectora turbat.

Laocoon – –


Wem fällt nun nicht gleich bei Eröfnung dieser Schlangenscene der Homerische Nestor7 ein, der auch eine solche Schlangenscene mit einem ähnlichen ενϑ εφανη μεγα σημα eröffnet? Der Vorfall bei beiden ist verschieden; die Manier der Erzälung ist völlig dieselbe. Bei Homer erzält der gesprächige Alte, wie vor ihrer[68] Abfahrt die Griechen rings um eine Quelle den Unsterblichen Opfer gebracht, wie darauf nahe an einem Pappelbaume sich ein großes Wunderzeichen sehen lassen: ein rothgefleckter gräulicher Drache, den Jupiter selbst gesandt, schoß unter dem Fuß des Altars plötzlich hervor, schlang sich zum Pappelbaume hinan, wo die Brut, die zarte Brut eines Sperlings auf dem Gipfel des Baums hinter Blättern versteckt nistete – acht an der Zahl, und die Mutter der Jungen war die neunte. Ohne Erbarmen würgte der Drache die winselnden Kleinen; die Mutter aber – zwar flatterte sie klagend um ihre geliebte Brut, allein auch sie ward am Flügel von ihm umschlungen, ergriffen und mitten in ihrem Geschrei erwürgt u.s.w. – Mich dünkt, Virgil habe in der Epischen Einkleidung des Laokoon Homer im Gedanken gehabt; nur daß er das Epische so verstärkte, daß aus Homers einfacher Erzälung ein völlig ausgemaltes Bild ward, – gegen das ich doch lieber Homers einfache Erzälung zurückwünschte.

In Homer sind alle Griechen schon, in Erwartung: rings um eine Quelle gelagert, mit dem Opfer an die Unsterblichen beschäftigt, und also in der Fassung, auf ein himmlisches Zeichen zu merken, so bald es erschiene. Bei Virgil ist alles unstät, zerstreut, auf den Griechischen Betrüger horchend, und nicht auf Laokoons Opfer; die Schlangen erscheinen, und was für ein Geräusch, was für ein Plätschern im Meer müssen sie machen, ehe sie bemerkt werden. »Zwo Schlangen kommen von der Höhe des Meers herab: in ungeheure Ringe geschlungen, (mich schaudert es zu sagen!) liegen sie auf der See und streben gemeinschaftlich ans Ufer. Mitten aus den Fluthen hebt sich ihre Brust empor: über die Wasser ragen ihre Blutrothen Kämme: ihr übriger Körper ist mit der langen Oberfläche der See gleich, und krümmt seinen unmäßlich langen Rücken in Ringen heran. Es entsteht ein Geräusch bei schäumender See, und schon sind sie am Ufer: ihre Augen funkeln, ihre Zungen züngeln, zischen« – welch entsetzlich lange Vorbereitung, so Episch, so Malerisch, daß – ich nicht weiß, wie Ein Grieche ihre Ankunft abwartet. Wie vieles wendet Virgil auf den[69] Nebenzug eines Gemäldes, den Homer mit einem Worte vollendete! und wie ist die ganze Schilderung mit solchen ausgemalten Nebenzügen überladen – beinahe ein untrügliches Wahrzeichen, daß der Dichter nach der Hand eines andern gearbeitet, daß er nicht aus dem Feuer seiner Phantasie geschrieben. Wäre dies, wie würde er sich so lange bei ihrem Heranplätschern, und noch länger bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Diese sind ihm das Hauptaugenmerk: sie kommen ihm immer von neuem ins Gesicht, und er schaudert nie mehr, als wenn er an diese unermäßliche Windungen, und Umschlingungen und Stellungen denkt. Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun einem Kunstwerke, oder welches mich wahrscheinlicher dünkt, dem Gemälde Homers. Das hat von jeher den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu künstlicher Hand klecket, und Nebendinge am sorgfältigsten vollendet. Eben daher wage ichs, zu sagen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr füllet, als die Seele. Mit allem Vorplätschern der Schlangen thut sie nichts, als uns zerstreuen und betäuben: mit allen Windungen derselben um Laokoon, die hier so genau angezeigt werden, wird unser Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt: wir vergessen, auf sein Gesicht zu merken, und auf die Seele, die in demselben spreche: endlich zeiget sich dieselbe – aber durch ein wüstes Geschrei, durch das Brüllen eines verwundeten Stiers, der vom Altar entlaufen:


clamores horrendos ad sidera tollit – –


freilich, »ein erhabener Zug für das Gehör« wie ich Hrn. L. gern zugebe;8 aber ein leerer Schall für die Seele. Der Dichter hat sich so sehr in die Windungen seiner Schlangen verschlungen, daß er eins, und zum Unglücke das Hauptstück, vergißt: Laokoon selbst, und seine Angst und den Zustand seiner Seele: Züge, die Homer so gar bei seiner jungen Sperlingsbrut, und bei ihrer armen Mutter nicht vergißt, und uns also ein Bild nicht fürs Auge, und noch minder bloß »erhabne Züge fürs Gehör,« sondern ein Bild[70] in die Seele malet. Ich weiß nicht, wie Hr. L. sich im Lobe Virgils so lange9 bei den Nebenzügen, »Windungen der Schlangen« u.s.w. aufhält, die bei dem Maler und Bildhauer, gewiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdienen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Künstlers gearbeitet hätte! Ist das aber nicht wider den Zweck des ganzen Leßingschen Werkes?

Und was er gegen Virgil zu nachsehend ist: wird er gegen Petron zu strenge,10 da sich doch die meisten dieser Vorwürfe sicherer auf Virgil gegen Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deuten ließen. Ich weiß Petrons gezwungene Art zu dichten, und gestehe gern zu, daß aus seiner Beschreibung Laokoons kein Funke Poetisches Genies hervorblitze: muß aber darum das Gemälde, das er beschreiben will, muß die ganze Gallerie von Gemälden zu Neapel nur in seiner Einbildungskraft exsistirt haben? Warum das? Etwa weil ein Romanschreiber kein Historikus seyn darf? seyn darf! freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht seyn müßte; nicht seyn könnte? zumal die schlechten Romanschreiber. Sie ersetzen uns das durch eingeschaltete Geschichte, was ihre Phantasie brüchig läßt: sie liefern uns Halbhistorische Romane, oder Romanhafte Halbgeschichte: der Abt Terrasson, mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, seinen Sethos, und andre einen Roman voll Geographie, oder wahrer Geschichte. Sollte sich nun nicht Petron auch zu dieser Klasse bekennen? Sehr wahrscheinlich, und eben von dieser Vermischung der Wahrheit und der Erdichtung, der Geschichte und Phantasie rührt auch die große Verschiedenheit des Urtheils, welches die Kunstrichter über Petron von jeher gefällt. Seine Einbildungskraft ist spielend, trocken, gezwungen; und die Kinder, die sie hervorbringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber sein Urtheil, die oft eingeschalteten Historischen Züge über den verderbten Zeitgeschmack, sind fein, sind lobwürdig. Mir wirds also sehr glaublich, daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter seyn wollte, seine Beschreibung Laokoons, durch die Nachahmung eines wirklichen[71] Gemäldes, wohl habe aufstützen wollen: daß das Gemälde von Laokoon wohl irgend wo anders, als in der Phantasie Petrons exsistirt habe. Und wenn es exsistirt hätte? – Nun! so treffen auch Hr. L. kritische Streiche auf Petron diesmal einen Unrechten, und sein Arkanum: den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm diesmal unzuverläßig werden. Hat Petron ein Gemälde geschildert: was eher, als daß sein Auge an Nebenideen hangen blieb, daß er diese Nebenideen auch übertreiben konnte? Ists, daß er im Bilde das Geräusch der Schlangen gleichsam zu hören glaubte: ists, daß er ein Gemälde der Kinder Laokoons Leidens, und sich zu Tode ängstigend antraf: so waren ihm, dem Versificateur einer Malerischen Schilderung, dem Nachahmer des Gemäldes, diese Figuren Augenmerk gnug, um mit dem Pinsel zu wetteifern, um diese Nebenideen der Phantasie, aber Hauptideen des Auges im Gemälde, bestmöglichst zu verschönern. Die Größe der Schlangen wiederum, in deren Schilderung sich Virgil verliebt hat, war nicht sein Hauptaugenmerk: denn sie konnte es nicht im Gemälde seyn, wo man die Größe aus dem Geräusche in den Wellen gleichsam nur schließen mußte. Die ganze Schilderung Petrons ist eine Zusammenhäufung sichtbarer Ideen: warum also nicht die Nachahmung eines wirklichen Gemäldes? und alsdenn nicht so sicher ein Beispiel und eine Probe von der Schülerhaften Nachahmung eines andern Dichters, und noch unsichrer eine erste Probe, die auf alle gölte. So sklavisch sie ist: so bleibt doch gegen sie ein Quintus Calaber noch nicht eben der beßre11 Dichter und Kenner der Natur: und so unendlich sie hinter Virgil zurückbleibt, so ist doch auch dieser in seiner Schilderung gewiß nicht ganz Dichter; er ist Nachahmer Homers, und zeigt dies in den so weit verstärkten und verschönerten Nebenzügen, daß das Ganze verschwindet.

Was würde hieraus folgen? Dies, daß wenn Virgil nach Homer gearbeitet, er immer seine Geschichte, er habe sie aus Pisander,[72] Euphormio, Sophokles geschöpft, nach seiner Art verändert habe, und daß also der Künstler neben ihm aus eben dieser Quelle habe schöpfen, und doch in der Vorstellung von ihm abgehen können, wenn er auch bloß dem Griechischen Buchstaben gefolget wäre.

Gesetzt also, er hätte den verlohrnen Laokoon des Sophokles vor sich gehabt: welche Idee hätte ihm die Sophokleische Muse geben müssen? Sophokles, ein so weiser Dichter des Theaters, der zuerst auf demselben gleichsam Sittlichkeit und Anstand vestsetzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das rechte Maas traf; Sophokles, der bei seinem Philoktet die Leiden des Körpers so sehr in Leiden der Seele zu verwandeln wuste – wie wird er seinen Laokoon geschildert haben? Mit dem Hauptzuge des gräßlichen Geschreies? Ein vortrefliches Mittel, das Trommelfell des Ohres, aber nicht unser Herz, zu rühren. Gewiß wird er bessere Wege an unser Herz gesucht, und also auch Laokoons Schmerzen und Geschrei mit der Waage des Richterischen Genies zugewogen [haben], mit der er sie dem Philoktet zuwiegt. Nun lasset einen weisen Griechischen Künstler von einem weisen Griechischen Dichter diesen Gegenstand geborgt: lasset ihn die Manier des Theatralischen Gemäldes genutzt, und von Sophokles Laokoon so gelernt haben, als Timanthes vom Euripides die weise Verhüllung Agamemnons lernte: so dünkt mich, ich sähe die Waage des Ausdrucks eben auf dem Punkt, auf dem sie bei dem Laokoon des Künstlers schwebet. Das Maas des Seufzers ist ihm zugewogen. »Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andre Theile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte, und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singt; die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen,[73] wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.« Ich kenne nichts würdigers, als diese Worte, und der Römische Dichter, der Nachahmer Homers, kommt also gar nicht ins Spiel.

Ich sehe, daß ich bisher bloß in kritischen Materien, aufgeräumt habe, die Hr. L. seinem Laokoon hat zum Grunde legen wollen, füglich aber auch dem Hauptinhalt seines Buchs unbeschadet, hätte auslassen können. Es ist Zeit, meine Leser aus dem Mischen Schutte hinweg, zu diesem Hauptinhalte selbst näher hinan zu führen, und –

1

Laok. p. 50–67. [403–414]

2

p. 51. [404]

3

p. 8. [379]

4

p. 52. [405]

5

Virgilius collatione scriptor. graecor. illustratus opera et industria Fulvii Vrsini. Antverp. 1567.

6

Virg. Aeneid. lib. II. 198.

7

Homer. Iliad. B. 308–320.

8

Laok. p. 30. [392]

9

Laok. p. 59–66. [409–13]

10

Laok. p. 54. 55. [406–7]

11

p. 57. [408]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 66-74.
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