[172] Die Stunden im Hause des Malers vergingen wie ein Traum. Gegen Abend wurde Professor Steineck ans Telephon gerufen. Kingscourt war es, der ihn rief: er möge sofort heimkehren. Im Wagen, in dem sie mit Professor Steineck fuhren, sagte Friedrich:
»Fräulein Mirjam, ich danke Ihnen dafür, daß ich Sie durch Ihren Gesang kennenlernen durfte. Erst jetzt weiß ich, wer Sie sind.«
Sie errötete und schwieg.
Aber im Gasthofe, in dem die ganze Gesellschaft Littwaks wohnte, erwartete sie eine böse Überraschung.
Vor dem Tore stand Kingscourt unbedeckten Hauptes und schrie dem Professor entgegen:
»Zum Wetter, Sie hätten sich auch mehr beeilen können!«
»Ja, was gibt es denn?« fragte der Professor ruhig.
»Was es gibt? Das Bübchen, Fritzchen – krank ist es! Nu fackeln Sie aber jefälligst nicht lange rum und kommen Sie zu Fritzchen.«
Sie eilten in das Zimmer des Kindes. Fritzchen lag mit heißen Wangen und fieberisch glänzenden Augen im Bett.
»Otto!« schrie es dem alten Kingscourt entgegen. Und »Otto« gehorchte schleunigst seinem kleinen Tyrannen. Er setzte sich auf einen Stuhl am Kopfende nieder, und diesen sollte er in den folgenden Tagen nicht oft verlassen. Denn war die Gewalt des gesunden Fritzchens über Mr. Kingscourt recht groß gewesen, das kranke Fritzchen gar konnte mit ihm machen, was es wollte.
Professor Steineck hatte nach der Untersuchung den Kopf bedenklich geschüttelt. Zwar beruhigte er Frau Sarah, die ganz verzweifelt war; aber dem alten Kingscourt verbarg er seine Besorgnisse nicht. Das Kind war ernstlich krank: eine schwere Halsentzündung. Kingscourt erschrak heftiger, als er es zeigen wollte. Vor allem rief er Friedrich herbei, schleppte ihn in ein abgelegenes Zimmer und begann lästerlich zu fluchen. Die Erkrankung des Kindes werfe alle Pläne um, man könne jetzt nicht mehr tun, was man wollte, und es gelte, jetzt einen anderen Entschluß zu fassen.
»Ich verstehe, Kingscourt!« sagte Friedrich bekümmert; »Sie wollen abreisen. Nun denn, ich bin bereit!«
»I wo werd' ich!« schrie Kingscourt hochrot. »Sie verstehen jar nischt mehr. Ihre Intellijenz hat im Verkehr mit diesem Frauenzimmer sichtlich jelitten. Das ist ja eben die Schlemastik, wie ihr Juden euch ausdrückt: daß wir jetzt schandenhalber nich abreisen können. Sie halten mich für nen netten Jemütsmenschen. Zuerst Jastfreundschaft jenossen, amüsiert, Schmarotzerpflanze jewesen – und wenn nu mal Schatten übers Haus kriechen, soll' man gleich ausreißen? Nee, mein Lieber, Sie können meinetwejen abdampfen, wenn Sie Europa durchaus nicht länger entbehren wollen. Ich bleibe hier, bis Fritzchen jesund ist – aus reinem Anstandsjefühl. Das jehört sich einfach.«
Die Grobheit des alten Herrn, der er auch diesmal einen lustigen Anstrich geben wollte, kam aber nicht echt heraus. Er hatte mehr Angst um das Bübchen, als er[172] es zeigen wollte. Er blieb auch die Nacht über im Krankenzimmer Fritzchens, wachte mit Frau Sarah und der Kinderfrau zusammen. Und als ob Fritzchen eine Ahnung von der über alles merkwürdigen Wandlung gehabt hätte, die im Gemüte des alten Menschenfeindes vorging, es klammerte sich an Kingscourt an wie an keinen anderen. Professor Steineck suchte diese Erscheinung auf rationalistische Weise zu erklären: der schöne lange blütenweiße Bart Kingscourts habe es dem Kinde angetan, oder vielleicht waren es die Grimassen und Späße, die der alte Herr machte.
Doch wie man es auch deutete, das stand fest, daß Fritz von seinem grimmigen Freunde nicht ließ. Im steigenden Fieber umspannte er mit seinem Händchen den Zeigefinger des am Bett sitzenden Alten. Kingscourt war der einzige, von dem er Arznei annahm; der einzige, von dem er sich in Schlaf summen ließ. Kingscourt verfügte über keinen großen Schatz an Liedern. Am besten gelang ihm noch:'
»Wer reit't mit zwanzig Knappen ein
Zu Heidelberg im Hirschen?
Das ist der Herr von Rohodenstein.
Auf Rheinwein will er pi-a-i-a-i-irschen.«
Mit diesem Gesange hatte er früher einmal bei Fritzchen Glück gehabt, und nun mußte der Rodensteiner ununterbrochen zu Heidelberg im Hirschen einreiten. Das zweite Lied Kingscourts war:
»Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte.«
Mit diesen beiden musikalischen Leistungen lullte er sein leidendes Freundchen ein.
David Littwak war von der Erkrankung des Kindes nicht benachrichtigt worden. Man wollte ihn nicht beunruhigen, da er am nächsten Tage ohnehin nach Jerusalem kommen sollte. Er kam als Sieger im Wahlkampfe. Die Geyersche Hetzpartei war fast in allen Kreisen, wo sie zu kandidieren gewagt hatte, geschlagen worden. Dr. Geyer selbst hatte nur in einem einzigen Bezirk eine relative Stimmenmehrheit erlangt und mußte sich am folgenden Sonntag der Stichwahl unterziehen. Hingegen war David Littwak in einunddreißig Bezirken zum Delegierten gewählt worden. Er entschied sich, nur das Mandat von Neudorf anzunehmen.
Doch als er in dieser frohen Stimmung zu Jerusalem eintraf, erwartete ihn die Trübung des Glückes im Kinderzimmer. Weinend fiel ihm Frau Sarah um den Hals:
»Wir waren zu glücklich, David. Nun sucht uns Gott so fürchterlich heim. Vielleicht waren wir hochmütig oder nahmen das Gute als zu selbstverständlich hin?«
Er entgegnete sanft und ernst:
»Wir wollen uns jedenfalls an die Brust schlagen und uns selber zur Demut mahnen. Das kann nie schaden. Im übrigen aber wollen wir mit der Krankheit kämpfen, was in unserer Macht ist.«
Und sie kämpften. Die besten Ärzte versammelten sich früh und abends zur Beratung.[173] Alle Kunst der Heilung wurde aufgeboten, um das kleine Leben zu retten. Aber die Krankheit schien dieser Anstrengungen zu spotten. Des Kindes Zustand verschlimmerte sich mehr und mehr. Es kam ein Abend, an dem die Ärzte traurig und kopfschüttelnd das Haus verließen; nur Professor Steineck blieb da. Er und Kingscourt hielten gemeinschaftlich mit der Pflegerin im Krankenzimmer aus. Frau Sarah war vor Aufregung und Ermüdung zusammengebrochen und selbst erkrankt. Man hatte sie zu Bett bringen müssen. Mirjam und Mrs. Gothland wachten bei ihr. David Littwak aber hielt sich zwischen den beiden Krankenzimmern seiner Lieben in einem Salon auf. Er ging bald hier und bald dort nachsehen, ob alles beim Rechten war. Besonnen traf er die nötigen Anordnungen, und Friedrich, der nebst Reschid Bey dem bekümmerten Mann Gesellschaft leistete, mußte ihn bewundern, wenn er diese Gelassenheit sah. David gab den näheren Freunden, die Nachrichten einholten, ruhig Auskunft. Doch auch seine Kraft überstieg es endlich. Er bat einen der Freunde, hinunterzugehen und die Besucher im Vestibül des Gasthofes zu empfangen. Reschid Bey übernahm diese Aufgabe. Im Bekanntenkreise Davids hatte sich die Nachricht eilig verbreitet, daß es um den kleinen Kranken schlecht stand, und von allen Seiten eilten die Leute herbei, um sich zu erkundigen. Der Präsident der neuen Gesellschaft ließ sich jede Stunde berichten. Die Liebe und Achtung, deren David Littwak sich bei seinen Mitbürgern erfreute, kamen bei diesem Anlasse zum Vorschein. Vor dem Gasthofe stauten sich die Teilnehmenden. Die wenigsten kannten das gute Fritzchen, aber daß es David Littwaks Sohn war, genügte. Viele beteten für dieses schwache kleine Leben, das vielleicht dereinst ein großer Segen für die Gemeinschaft werden konnte, wenn es erhalten blieb.
Und oben redete David gebeugt, aber ruhig mit Friedrich.
»Sehen Sie, mein lieber Dr. Löwenberg, das haben wir nicht anders machen können, als es war. Als es war vor zwanzig und vor zweitausend Jahren. Wenn die Stunde des früher glücklichen Hiob schlägt, muß er sich fassen und sagen: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen...«
Bei diesen Worten trat Steineck aus Fritzchens Zimmer und flüsterte:
»Noch nicht!« Aber es klang wenig Hoffnung daraus. Der Professor fügte hinzu: »Wenn das Kind nur einschlafen könnte. Ein ordentlicher Schlaf wäre ein Glück, vielleicht die Rettung.«
»Stört das Gebrumm Kingscourts das Kind nicht?« fragte Friedrich.
»Nein«, entgegnete Steineck. »Er muß weitersingen, ob er will oder nicht. Wenn Fritzchen aus dem Halbschlummer erwacht, muß der Alte singen. Es ist rührend, wie er es tut.«
»Er hat das Kind unendlich gern«, sagte Friedrich.
Da begann David zu weinen. Aus dem Nebenzimmer aber hörten sie Kingscourts Stimme:
»Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte...«
Und dann ging es in den Rodenstein über, der auf Rheinwein pi-a-i-a-i-irschen wollte. Doch immer trübseliger ritt der Herr von Rodenstein zu Heidelberg im[174] Hirschen ein, und im Nebenzimmer horchten sie mit Bangen, ob der Gesang nicht jetzt und jetzt völlig verstummen werde.
Jetzt – eine Pause. Man hörte nichts mehr. Und im nächsten Augenblick erschien Kingscourt in der Tür. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er legte den Finger bedeutsam auf den Mund:
»Still! Er schläft! ... Keinen Ton mehr im Hause! Wer mir da draußen auf dem Korridor Lärm macht, den schlag' ich nieder. Ich setze mich raus ... Wenn Fritzchen aufwacht, ruft ihr mich!«
Und so tat Kingscourt. Er setzte sich in den Gang vor Fritzchens Zimmer auf einen Stuhl und wachte. Er blickte Diener und Gäste, die vorbeiwollten, so fürchterlich an, daß sie vor ihm erschraken. Dazu knurrte er heiser, sie möchten anderswohin gehen, hier sei ein Kranker.
Eine Stunde verging so, dann eine zweite. Da ging Friedrich zu Kingscourt hinaus vor die Tür. Der Alte fuhr von seinem Stuhl auf:
»Hat es mich jerufen?«
»Nein«, flüsterte Friedrich. »Es schläft noch immer.« Im selben Augenblick fühlte er sich beim Kopf gepackt. Kingscourt hatte ihn umschlungen und raunte ihm ins Ohr:
»Fritze, wenn das Wurm aufkommt, bleib' ich hier, für immer. Das jelobe ich hiermit feierlich. Dieses Opfer bring' ich für seine Jenesung, so wahr ich Adalbert von Königshoff heiße...«
Stunde um Stunde verrann. Fritzchen schlief und schlief. Er schlief sich in die Gesundheit hinüber. Aus Nacht ward Morgen. Und mit der Sonne ging auch wieder die Hoffnung auf. Als man in der Frühe Kingscourt an das Bett des Kindes rief, hatte es schon wieder helle Äuglein und es jauchzte ihm entgegen: »Ottoh! Ottoh!«
»So 'n Kerl!« brummte Kingscourt und versuchte eine unzufriedene Miene zu machen, weil er sich seiner nächtlichen Verzagtheit vor Friedrich schämte. »Nun gehen Sie aber auch schlafen, Kingscourt!« sagte dieser. »Sie brauchen jetzt Ruhe. Und was Ihre Worte vom Korridor betrifft, die will ich einfach nicht gehört haben.«
»Nee, mein Lieber!« entgegnete Kingscourt stolz, »da kennen Sie mich doch erst zur Hälfte. Was ich einmal jeschworen habe, ist jeschworen ... Aber vor allem denk' ich einen langen Schlaf zu tun ... Nachher wollen wir sehen, wie wir uns hier in die neue Jesellschaft aufnehmen lassen. Jawohl!«
Friedrich wußte noch immer nicht, ob der Alte scherzte. Hier zu bleiben war ja sein sehnlichster Wunsch. Ein nützliches Mitglied der neuen Gesellschaft werden, mitarbeiten an all dem Guten, was er gesehen hatte, dauernd ein Genosse der Wackeren sein – es war sein bisher verschwiegener Traum. Und noch etwas anderes, das er sich gar nicht zu gestehen wagte.
Aber Kingscourt hielt Wort. Gleich am folgenden Tage, als Fritzchen wieder frisch und munter war und auch Frau Sarah sich vom Schrecken erholt hatte, der ihre ganze Krankheit gewesen, mahnte Kingscourt selbst an die Ausführung des Vorhabens. Erriet er die Freude, die er dem Genossen seiner zwanzig Inseljahre[175] machte? Man durfte es ihm wohl Zutrauen, dem angeblichen Menschenfeinde, der dem Zauber des Kindes erlegen war. Sein Verhältnis zu Fritzchen suchte er wenigstens auf eine prinzipientreue Weise zu rechtfertigen, nachdem er es nicht mehr zu leugnen vermochte. Er könne das Bübchen allerdings recht gut leiden, aber nur ungefähr so, wie man ein unschuldiges Tierchen gern habe. Fritzchen sei eben noch kein Mensch, folglich vergebe sich ein Menschenhasser nichts, wenn er so 'n Kerlchen liebgewinne.
»Die Motivierung, Kingscourt, schenke ich Ihnen«, lachte Friedrich; »mir genügt die Tatsache. Wann sollen wir uns zum Eintritt in die neue Gesellschaft melden?«
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