[176] Sie beschlossen, es ohne Verzug zu tun. Sie wollten dem Präsidenten Eichenstamm, der sie schon damals in Haifa eingeladen hatte, einen Besuch machen und ihn um Rat fragen, wie sie es am besten anfingen, in die neue Gesellschaft als ordentliche Mitglieder einzutreten. So fuhren sie nach dem Hause des Präsidenten. Das war ein Gebäude, das an die Palazzi der genuesischen Patrizier erinnerte. Unmittelbar vor ihnen war ein Motorwagen vorgefahren, dem zwei ältere Herren und Professor Steineck entstiegen. Der Professor stand schon auf der Freitreppe, als er die beiden Freunde sah, die mit dem Portier parlamentierten. Er winkte ihnen einen Gruß zu, und das hatte die Folge, daß der Pförtner weiter keine Schwierigkeiten machte und sie durchließ. Aber Steineck war im nächsten Augenblick verschwunden.
Kingscourt und Friedrich hatten nach Dr. Werkin, dem Sekretär des Präsidenten, gefragt. Ein Diener führte sie in dessen Bureau, und dort hieß man sie warten. Sie warteten ein Weilchen in dem schönen hohen Vorsaale, dann wurde Kingscourt ungeduldig:
»Nee, das mach' ich nicht länger mit. Sieben Jahre werd' ich nicht im Vorzimmer dienen. Reden Sie mit einem der Sklaven, Fritze! Am Ende hat man uns nicht jemeldet.«
»Sklaven scheint es hier nicht zu geben«, lächelte Friedrich. »Aber der Maschinenschreiber dort wird uns Auskunft geben.«
Der Schreiber an der Maschine gab Auskunft. Dr. Werkin sei schon seit zwei Stunden beim Präsidenten, und es heiße, daß der Präsident plötzlich schwer erkrankt sei.
»Ah – hah! Nu jehn mir die Lichter auf. Darum ist Steineck so schnell verschwunden? Wissen Sie vielleicht auch, verehrtester Maschinist, wer die zwei Herren waren, die mit Steineck kamen.«
»Ja. Das waren zwei Professoren der Medizin von der Zions-Universität.«
»Ich glaube, Kingscourt«, sagte Friedrich, »wir ziehen uns zurück. Wir lassen unsere Visitenkarte für Dr. Werkin hier und wollen wiederkommen, wenn es dem Präsidenten besser geht.«[176]
So verließen sie unverrichteter Sache das Haus des Präsidenten. In der Stadt Jerusalem war von dem Ereignis noch nichts bekannt. Der Verkehr rauschte mit der gewöhnlichen Lebhaftigkeit durch die Neustadt. Die Freunde, die sich schon in den Straßen zurechtfanden, bogen von den Boulevards ab und betraten einen großen Park, der nach englischem Muster angelegt war. Am Eingänge dieses Parks bemerkten sie ein ausgedehntes Gebäude mit der Aufschrift: »Gesundheitsamt der neuen Gesellschaft«.
Kingscourt lachte laut auf:
»Sieh mal, da haben sie wieder was Jescheutes nachjemacht. Das ist offenbar dem deutschen Reichsjesundheitsamt nachjebildet. Da brauch' ich nicht erst die Einjeborenen zu befragen. Ich kenne mich schon janz aus in Altneuland. Es ist 'ne Mosaik – eine mosaische Mosaik. Juter Witz, was?«
»So gut wie alle Ihre Witze, Mr. Kingscourt; auch nicht besser«, sagte Friedrich. »Aber mir scheint, Altneuland ist in seinem Wesen nicht erschöpft, wenn wir nur feststellen, daß alle Einrichtungen bei unserer Abreise aus der Kulturwelt vor zwanzig Jahren schon da oder dort existiert haben. Jawohl, alles war schon vorhanden. Die Naturkräfte waren genügend erforscht – ich meine genügend für den jetzigen Zustand. Die technischen Möglichkeiten waren gegeben. Kein Gebildeter vom Jahre 1900 hätte sich über irgend etwas wundern können, was wir hier gesehen haben. Ja, sogar das Maß von sozialer Fürsorge, das man hier verwirklicht hat, kann einen zivilisierten Menschen unserer damaligen Zeit nicht überraschen. Im Bewußtsein der besseren Durchschnittsmenschen war die Forderung schon damals durchgedrungen, daß man dem rohen Egoismus in der Gesellschaft Schranken setzen müsse. Diese Schranken sind hier freilich nicht drückend, da der einzelne in der Genossenschaft wieder zurückbekommt, was ihm individuell genommen ist. Aber auch die Formen der genossenschaftlichen Produktion und Konsumtion waren schon da. Und doch ist aus all dem Alten etwas Neues geworden. Altneuland ist noch mehr, muß noch mehr sein als eine Zusammenfassung aller sozialen und technischen Fortschritte.«
»Warum? Ich finde schon das janz hübsch«, warf Kingscourt ein.
»Als Jurist, als Europäer vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts frage ich mich, wie diese Gesellschaft im Gleichgewicht erhalten wird. Ich sehe eine Ordnung in der Freiheit, und doch bemerke ich nirgends eine staatliche Autorität hervorlugen.«
»Ja, Fritze, da liegt der Hase im Pfeffer. Die Juristerei und Europäertum verdunkeln euch jar vieles. Man kann mit sehr, wenig staatlicher Autorität auskommen. Wenn Sie, wie ich, drüben in Amerika jelebt und jeliebt hätten, wüßten Sie das besser. Nee, das verblüfft mich nu jar nicht. Wissen Sie, was mich verblüfft, schon die janze Zeit? Das sind die Bäume! Die Bäume in diesem Park sind unter Brüdern ihre fünfzig bis vierzig Jahre alt. Wo haben die Kerls das rausjekriegt?«
Er hatte so laut gesprochen, daß ein vorübergehender Herr ihn hörte, lächelte und stehenblieb. Kingscourt redete ihn natürlich sofort an:
»Ich sehe, daß Sie über mich in jelinde Heiterkeit jeraten, jeschätzter Vorüberjehender. Wissen Sie vielleicht Antwort auf meine Frage?«[177]
»Gewiß, mein Herr«, sagte der Angerufene. »Ich diene im Gesundheitsamte und kenne die Verhältnisse einigermaßen. Daß man auch erwachsene Bäume verpflanzen kann, ist eine bekannte Sache. In Köln zum Beispiel, wo ich früher lebte, gab es einen Volksgarten, in dem man vierzigjährige Bäume einsetzte. Das ist freilich recht kostspielig, aber für die öffentliche Gesundheit wird bei uns viel aufgewendet. In den Parks, die für das Volk da sind, ist nichts zu teuer. Es rentiert sich in den kommenden Geschlechtern. Übrigens haben wir nicht überall so alte und kostbare Bäume gesetzt. Wir haben namentlich von Australien jüngere Bäume, rasch wachsende Eukalyptusarten bezogen. Die Mittel wurden anfangs durch den nationalen Baumverein aufgebracht, der in allen Weltteilen Sammlungen einleitete, als das jüdische Volk noch zerstreut lebte. Die Spender haben schon damals für den Schatten gesorgt, in dem sie später sitzen wollten.«
»Danke«, sagte Kingscourt; »das leuchtet mir ein. Und wenn Sie jetzt noch Ihre Wohltat vollmachen wollen, dann erklären Sie bitte, woher alle die Kinder sind, die man da auf den Wiesen sieht?«
Sie waren nämlich an Wiesengründen vorbeigekommen, auf denen Schwärme halbwüchsiger Knaben und Mädchen die Spiele Englands spielten: die Mägdlein Tennis, die Burschen Kricket und Fußball.
Der Beamte gab willig Auskunft:
»Das sind Schulkinder aus den Instituten, die um diesen Park herum liegen. Abwechselnd werden alle Klassen herausgeführt zu den athletischen Spielen, die wir in der Entwicklungszeit für ebenso wichtig halten wie das Lernen.«
»Das scheinen aber nur die Kinder wohlhabender Leute zu sein?« fragte Friedrich. »Alle sind gleich schmuck und reinlich gekleidet, wie ich sehe.«
»Nein, Herr!« erwiderte der Beamte. »Das sind die Kinder aller Leute. Es gibt in der Schule keinen Unterschied, weder in der Kleidung, noch in irgend etwas anderem – mit Ausnahme der Begabung und des Fleißes. In unserer neuen Gesellschaft sind wir durchaus nicht für die Gleichmacherei. Jedem nach seinen Werken. Den Wettbewerb haben wir nicht abgeschafft. Aber die Bedingungen sind für alle gleich, wie bei einem Preiskampf oder Wettlauf. Am Anfang müssen alle gleich sein, nicht am Ende. In der früheren Gesellschaft konnte es vorkommen, daß ein einziges gutes Geschäft eines Mannes seinen Kindern und Kindeskindern zu allen Wohltaten der höheren Erziehung verhalf und sie für immer sorglos machte. Auf der anderen Seite mußten wieder die Nachkommen nicht etwa nur für die Sünden, nein, sogar für die schlechten Geschäfte des Vaters büßen. Eine verarmte Familie geriet ins Proletariat, und es war Heldenkraft nötig, um sich daraus noch einmal zu erheben ... Bei uns aber werden die Kinder für die Geschäfte der Väter nicht belohnt und nicht bestraft. Für jede neue Generation stellen wir wieder den Anfang der Dinge her. Darum sind sämtliche Schulen, von der Elementarschule bis zur Zions-Universität unentgeltlich, und die Schüler müssen bis zur Reifeprüfung in der Mittelschule die gleiche einfache Kleidung tragen. Wir glauben nämlich nicht, daß es moralisch gut ist, wenn Rang oder Reichtum der Eltern die Kinder in der Schule unterscheidet. Das verdirbt alle. Die Kinder der Vornehmeren werden[178] hochmütig und faul, die Kinder der anderen werden früh verbittert ... Aber Sie verzeihen, wenn ich Sie verlasse. Mich ruft meine Pflicht.«
Und mit einem höflichen Gruße entfernte er sich.
Friedrich und Kingscourt sahen ergötzt noch eine Weile dem lustigen und geschickten Völkchen zu. Kingscourt, der noch aus früheren Tagen mit Kricket und Fußball wohl vertraut war, fühlte in sich die alte Passion für diese Spiele erwachen. Er feuerte die Kinder mit Zurufen an. Am liebsten hätte er mitgespielt. Endlich zog ihn Friedrich am Arm fort:
»Wir wollen auch sehen, wie es Fritzchen geht, Sie Rabenotto! Und vielleicht sind Nachrichten vom Präsidenten Eichenstamm da?«
Sie kehrten in das Hotel zurück. Fritzchen war schon frisch und munter und begrüßte seinen Freund mit einem Gesange, den Kingscourt an dem i-a-i-a-i-i als sein eigenes Lied vom Rodensteiner zu erkennen glaubte. Der Alte und das Kind waren auch bald in ein sehr intimes, allen übrigen unverständliches Gespräch verwickelt.
Von Eichenstamm kamen aber keine guten Nachrichten. Steineck sandte an David Littwak eine kurze Meldung: »Hoffnungslos!« Und als es Abend wurde, kam der Professor zurück. An seinem Gesichtsausdruck erkannten die Freunde, was geschehen war.
»Er ist groß gestorben«, sagte Professor Steineck. »Ich war bei ihm bis zur letzten Minute. Er sprach über das Sterben. Er sagte, es sei schmerzlos, wenn man sich damit schon lange vorher beschäftigt habe. ›Ich fühle‹, sagte er, ›wie sich mein Bewußtsein allmählich verdunkelt. Ich höre mich noch sprechen, aber immer schwächer. Ich werde vielleicht noch denken, unter Schleiern, wenn ich nicht mehr reden kann. Ich habe von mir selbst schon Abschied genommen – wie schade, daß ich nicht auch von all den anderen Abschied nehmen kann, die mir im Leben gut waren.‹ Dann schwieg er lange, sein Blick war in eine Ferne gerichtet. Wieder kehrten seine Augen dann zu mir zurück. ›Ich hatte Freunde‹, sagte er. ›Viele Freunde. Wo sind sie? Freunde sind der Reichtum des Lebens. Ich hatte viele, viele Freunde. Wo sind sie?...‹ Es ging mit ihm zu Ende. Er murmelte dann noch, und mir schien, als sagte mir sein betrübter Blick: Du siehst, jetzt kann ich nicht mehr reden, aber noch denken. Und in einer letzten Anstrengung fand er sich wieder. Er sagte deutlich das Wort als letztes, das wir oft von ihm gehört haben: ›Der Fremde soll sich bei uns wohlfühlen!...‹ Dann wurden seine Augen starr. Ich drückte sie ihm zu.«
So starb Eichenstamm, der Präsident der neuen Gesellschaft.
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