Fünftes Kapitel

[144] Nach einer kleinen Weile kam David wieder herein. Er fragte die Freunde, ob sie jetzt die Fortsetzung der Erzählung wünschten. Als sie bejahten, ließ er den Phonographen an der vorigen Stelle einsetzen. Und der unsichtbare Joe Levy sprach:

»...ließ ich mir auch eine heitere Sache angelegen sein. Sie wurde anfänglich als Unterhaltung und Sport gedeutet und vielfach bekrittelt. Ich rüstete nämlich das Schiff der Weisen aus. Dieses Schiff wollte ich den rückkehrenden Juden voraufziehen[144] lassen nach dem alten und neuen Lande. Schon sein Erscheinen in den mittelländischen Gewässern sollte die andere Zeit bedeuten.

Die Veranstaltung war nicht schwer. Ich warb den ersten Beamten eines großen englischen Reisebureaus an, sagte ihm mein Vorhaben, und in vierzehn Tagen legte er mir alle Kostenvoranschläge, Vertragsentwürfe und Pläne vor. Von einer italienischen Schiffsgesellschaft mietete ich auf den Vorschlag des Reisemarschalls den eleganten modernen Dampfer »Futuro«, der zwischen Neapel und Alexandrien zu verkehren pflegte. Das Schiff sollte am fünfzehnten März in Genua bereit sein und uns durch sechs Wochen zur Verfügung bleiben. Ferner ließ ich durch den Reisemarschall die Verpflegung von fünfhundert Passagieren in den besten Hotels der italienischen, ägyptischen, kleinasiatischen und griechischen Städte versorgen. Die Mitfahrenden konnten nach Belieben in Genua oder Neapel den Futuro besteigen. Ihre Billette gaben ihnen das Recht zur Fahrt auf allen italienischen Bahnen und zum Aufenthalt in den ersten Hotels. Äußerlich nahm sich die Expedition wie eine der schon damals gebräuchlichen Vergnügungsreisen nach dem Orient aus. Es war aber mehr. Die Damen und Herren, die wir eingeladen hatten, auf dieser sechswöchigen Frühlingsfahrt nach dem Morgenlande unsere verehrten Gäste zu sein, gehörten zum erlauchtesten Geistesadel der Kulturwelt. Ein Komitee von Schriftstellern und Künstlern war eingesetzt worden, um die Liste dieser Ehrengäste zu entwerfen. Die Besten aus aller Welt wurden gerufen, selbstverständlich ohne Unterschied von Nationalität und Konfession. Die Besten wurden gerufen und sie kamen gern, nicht nur weil wir ihnen eine helle Frühlingsreise versprachen, sondern vor allem, weil es eine so einzige Zusammenkunft mit ihresgleichen war. Auf dem Futuro trafen sich Dichter und Philosophen, Erfinder und Entdecker, Forscher und Künstler aller Zweige, Staatsgelehrte, Volkswirtschaftler, Politiker und Journalisten. Für Körper und Geist war in reichlichem Maße vorgesorgt. Der Reisemarschall hatte den ganzen Luxus, den die besten Gesellschaftsausflüge der damaligen Zeit bieten konnten, verschafft. Die Gäste des Futuro sollten in diesen sechs Wochen das Glück der wolkenlosen Tage erfahren. Von der Musikkapelle, welche zur Tafel auf spielte, bis zur täglich am Morgen ausgegebenen Bordzeitung war nichts vergessen. Und daß es dieser im Schiffsraume gedruckten Zeitung an fesselndem Inhalte nicht fehlte, das ergab sich schon aus der Zusammensetzung der Reisegesellschaft. Es war viel Küstenfahrt und in allen Häfen warteten schon die neuesten Depeschen aus der ganzen Welt auf den Futuro. Wenn das Schiff nachts auf einer Reede angelegt hatte, fand man die dort erhaltenen Depeschen am nächsten Morgen im Blatte. Aber viel köstlicher war der literarische Teil. Denn die Vorgänge und Erlebnisse des Tages wurden von den feinsten Federn geschildert. Namentlich erschienen in der Bordzeitung von Tag zu Tag, wie sie gehalten worden, die später berühmt gewordenen Tischgespräche; man hat sie die neuen Platonischen Dialoge genannt. Von allen höchsten Fragen war da in erhabener Form die Rede. Die edelsten Geister der Menschheit äußerten sich, unvergeßliche Anregung gebend und empfangend. Ich will nur einige der behandelten Gegenstände erwähnen. Man sprach über die Einrichtung eines wahrhaft modernen Gemeinwesens, über die Erziehung durch die Kunst, über Bodenreform, über die[145] Organisierung der Wohltätigkeit, über die Arbeiterfürsorge, über die Rolle der Frau in einer zivilisierten Gesellschaft, über die Entwicklung der Technik in Wissenschaft und Praxis und noch über manches andere, woraus alle Menschen einen unvergänglichen Nutzen ziehen konnten. Die »Tischgespräche des Futuro« sind längst eine Kostbarkeit der Weltliteratur geworden. Ich selbst kenne sie nur aus der Lektüre, denn es war mir nicht vergönnt, sie mitanzuhören. Ich hatte ja nicht Zeit, diese einzige Vergnügungsfahrt mitzumachen, weil ich bei der Arbeit sein mußte. Ich war schon lange in Haifa, als der Futuro noch in Genua ankerte. Aber gelesen habe ich die Bordzeitung mit einer Aufmerksamkeit und Dankbarkeit wie nie vorher oder nachher ein Tagblatt. Ich bin kein Philosoph und konnte mich auch in jenen Tagen weniger als je mit abstrakten Dingen abgeben. Aber was aus den Tischgesprächen des Futuro in praktische Energie umzusetzen war, das bemühte ich mich herauszufinden und anzuwenden. Denn mir kam es vor, als hätte vom Futuro her der Geist der Menschheit zum jüdischen Volk gesprochen, als es eben daran war, sich eine neue Existenz zu gründen. Diese Lehren mußten beherzigt werden. Besonders reich und fruchtbar wurden sie, als unsere edlen Gäste den Boden von Palästina betraten. Das Schiff der Weisen fuhr die Küste entlang, die Reisenden schwärmten nach ihrer freien Wahl im Lande umher, in kleineren Gruppen und Expeditionen, für die der Reisemarschall mit seinem Stabe von Gehilfen alle Bequemlichkeiten und Erleichterungen vorbereitet hatte. Alle interessierten sich nicht für alles in gleichem Maße. Die Geologen wollten anderes sehen als die Elektrotechniker; die Botaniker anderes als die Architekten; die Maler anderes als die Volks Wirtschaftler. Die wahlverwandten Gruppen zogen also aus und kehrten auf den Futuro zurück, wann sie wollten. Die hohe und heitere Geselligkeit auf dem Futuro übte aber auf manche eine derartige Anziehungskraft aus, daß sie sich vom Schiffe selten entfernten. Einige sahen vom Lande nichts als die Bahnstrecke nach Jerusalem und diese Stadt. Von einem geistreichen Schriftsteller wird erzählt – ich weiß nicht, ob es wahr ist –, daß er das Schiff überhaupt keinen Augenblick verlassen habe. Er soll gesagt haben: »Dieses Schiff ist Zion!« Er beschrieb aber nachher ausführlich das Land und seine Leute.

Er konnte das freilich aus den besten Quellen schöpfen. Denn die Ausflügler, die nach dem Futuro zurückkehrten, brachten Material in Hülle und Fülle, mit sachkundigen Augen gesehen, in meisterhafter Schilderung. Da hatten die Tischgespräche neuen Stoff, und es begann eine Reihe wunderbarer Dialoge über das, was sich in Palästina schaffen ließe. Diesen Teil der Tischgespräche habe ich mit Ehrfurcht oft und oft gelesen. Ich weiß sie noch heute fast wörtlich auswendig. Den tiefsten Eindruck machten auf mich die Ratschläge der Künstler, offenbar weil ich selbst keiner bin. Im Praktischen war ja nur ein bißchen gesunder Menschenverstand nötig, um die Dinge, die es anderswo schon gab, auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Den Künstlern vom Futuro verdankte ich die herrliche Lehre, daß unser Land in seinen natürlichen Schönheiten erfaßt und entwickelt werden müsse. Schön sollte es werden, schön überall, schön vor allem. Weil Schönheit die Herzen der Menschen immer erfreut.

Zu meinen merkwürdigsten Erlebnissen gehört es, daß ich den Futuro nicht[146] einmal ordentlich zu Gesicht bekam. Ich hatte seine Fahrt vorbereitet, mich um sein Wohl bekümmert, ich dachte immer an ihn und folgte den Worten seiner Weisen. Aber gesehen habe ich ihn nicht, wenigstens nicht genau. Und das kam so:

Als der Futuro an unserer Küste erschien, war ich eben im Inneren des Landes beschäftigt. Fischer, Steineck und Alladino begrüßten das Schiff namens der neuen Gesellschaft, als es vor Jaffa anlegte. Ich wollte mich unseren Gästen vorstellen, sobald ich meine damaligen dringenden Arbeiten erledigt hätte. Denn das war eine Zeit, wo ich Tag und Nacht unterwegs sein mußte, von einem Arbeitslager zum anderen. Ich schlief öfters in meinem großen Motorwagen, der mich von Ort zu Ort brachte. Von unserem heutigen Komfort war damals begreiflicherweise noch keine Rede. Wenn ich vorher wußte, wo ich übernachten würde, ließ ich mir eine Baracke aufschlagen. Aber das war nicht immer im vorhinein bestimmbar. Auch war es nützlich, daß ich da und dort unerwartet auftauchte, um die Straßenarbeiten, die Landverteilung und den Feldbau zu besichtigen. Wohl waren für alles detaillierte Pläne und Instruktionen da, doch wollte ich mich auch persönlich überzeugen, ob alles am Schnürchen ging. Mit meinem Hauptquartier zu Haifa war ich in beständiger Verbindung. Von dort kamen Meldungen, die mich zu hastigen Kreuz- und Querfahrten veranlaßten. Bei aller Planmäßigkeit gab es doch Zwischenfälle mit den Arbeitern oder in der Verpflegung, die rasches Eingreifen, Änderungen im Vorgesehenen, neue Dispositionen nötig machten. Bei der Bodenzuweisung schürzten sich manchmal gordische Knoten, die nur ich zerhauen konnte. Auf den eigenen Ländereien der neuen Gesellschaft war man beim Frühjahrsanbau. Wir hatten zwar die landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften nach dem System von Rahaline eingerichtet, aber die Leute waren noch neu bei der Sache, sie brauchten eine führende Autorität und gelegentlich eine höhere Entscheidung. Es waren durchaus keine ungewöhnlichen Aufgaben, sie erforderten nur eine stete Aufmerksamkeit. Sommerweizen, Gerste, Hafer, Mais, Rüben anzubauen ist gewiß keine Kunst. Hier gab es jedoch allerlei Schwierigkeiten. Wir mußten mit dem widerspenstig gewordenen Boden ringen. Wir hatten die modernsten Mittel und den zähesten Willen, wir haben den Boden besiegt und er ward unser Freund. Die Organisation war die Hauptsache und die hatten wir schon vor der Mobilisierung fix und fertig. Der Arbeitstag der Leute, welche von der neuen Gesellschaft abhingen, hatte nur sieben Stunden, aber es waren Stunden voll konzentrierten Eifers. Die einen machten Wege, die anderen gruben Kanäle, die dritten lasen Steine aus den Feldern, die der elektrische Pflug furchen sollte, die vierten bauten Häuser, die fünften pflanzten Bäume, und so weiter. Und jeder wußte, daß er für alle arbeite und alle für ihn. Singend zogen sie zur Arbeit und singend kehrten sie in ihre Lager zurück. Und es war ein rascher Frühling in diesem Werden, wie man es in der Natur sieht, wenn die dürren Bäume plötzlich zu grünen anfangen. Und jeder Tag machte die erworbene Geschwindigkeit unseres Fortschrittes wachsen. Ich hatte vor allen Dingen das Telegraphen- und Telephonnetz zu legen begonnen. Dem allgemeinen Verkehr konnte es natürlich nicht gleich dienen, unserer Verwaltung diente es sehr bald. Von Haifa strahlten die Leitungen[147] längst den Hauptlinien unserer Arbeit aus. Ein Telegraphist fuhr in einem der Begleitwagen immer hinter mir her, und der Anschluß an mein Bureau in Haifa, somit auch an die Londoner Zentrale, war schnell hergestellt. Ein guter Nachrichtendienst war mir natürlich immer das Wichtigste. Nur so konnte ich über Menschen und Material übersichtlich disponieren. Jetzt gab es jeden Tag Landungen von fünfhundert, tausend, zweitausend Einwanderern in den verschiedenen Häfen von Jaffa bis Beirut. Am Tage nach der Ankunft wurden sie schon weiterdirigiert, ohne Verzug an die Arbeit. Für die Eisenbahnlinien allein waren zehntausende von Männern erforderlich. Andere zehntausende für die Errichtung der öffentlichen Gebäude unserer neuen Gesellschaft: Betriebsämter, Verwaltungsstellen, Schulen, Krankenhäuser und so weiter. Die Ausführung war kein Kunststück, wenn nur der Plan so feststand, wie es bei uns der Fall war. Für die Arbeit an Wegen, Eisenbahnen und anderen öffentlichen Bauten bekamen unsere Arbeiter nicht nur den Lohn ausgezahlt – nach Abzug der Raten, die wir mit den Kaufhäusern für die von den einzelnen bezogenen Waren verrechneten –, sie erwarben auch Anspruch auf die spätere Kolonisierung. Der Mann, den wir vom Hafen weg zu den verschiedenen Arbeiten kommandiert hatten, sollte bis zum Herbst bereits das für ihn inzwischen hergestellte Haus in einer Kolonie beziehen und seine Familie zu sich rufen können. Die Sache war, wie gesagt, sehr einfach, es mußte nur ein Plan da sein. Die Militärverwaltungen der großen Staaten hatten im neunzehnten Jahrhundert viel schwierigere Aufgaben gelöst. Es ist eigentlich schon unbescheiden, daß ich unser Werk mit solchen Leistungen vergleiche. Wir hatten bis zum Herbst nur eine halbe Million Menschen anzusiedeln und bis dahin war eine erste Ernte zu gewärtigen. Die Heeresverwaltungen des vorigen Jahrhunderts mußten Millionen Menschen versorgen, möglicherweise in Feindesland, jedenfalls in einer Zeit allgemeiner Einschüchterung von Handel und Verkehr. Wir dagegen befanden uns in Freundesland, nein, auf dem väterlichen Boden, und wir verscheuchten nicht, wir zogen vielmehr Handel und Verkehr gewaltig an. Die Leute, die wir zunächst verpflegten, schufen sogleich die Mittel zu ihrer baldigen eigenen Verpflegung und zu derjenigen der Nachkommenden. Überall im Lande wurden von freien Unternehmern Fabriken gebaut, die im Herbst unter Dach sein sollten. Tatsächlich mußte doch jeder vernünftige Mensch einsehen, welch glänzende Aussicht für Industrien sich in diesem Lande eröffnete. Der Absatz an Ort und Stelle bei so mächtiger Einwanderung, die Möglichkeit, bei billigem Tarif die jetzt noch ohne Rückfracht fahrenden Importschiffe zu benützen, die Küstenausdehnung, die Lage des Landes in der Mitte zwischen Europa und Asien – das alles zusammen lockte die Leute her. Und als ich nach der ersten Ernte, die nicht einmal besonders gut, sondern eben nur erträglich war, den Stand der Dinge überblickte, konnte ich den Entschluß fassen, die Einwanderung im Herbste nicht zu unterbrechen. Ursprünglich war es so geplant gewesen. Aber die Sistierung war, Gott sei Dank! nicht nötig. Ich telegraphierte dies dann an alle Landeszentralen, und es erregte ungeheuren Enthusiasmus in den Ortsgruppen. Von unserer ersten Ernte datiere ich den Sieg der neuen Gesellschaft. Es gab später viel reichere Ernten, das alte Gold der Brotfrucht wuchs uns üppiger aus dem Boden, aber nie wieder[148] heimsten wir so viel ein. Denn wir ernteten damals das Vertrauen unserer Brüder in der ganzen Welt. Kaum zwölf Monate waren vergangen, seit ich meinen großen Generalstab in London versammelt hatte, und ich durfte meinen Freunden im Hauptquartier zu Haifa sagen, daß das erste Jahr gut gewesen sei.

Unser Direktionsgebäude in Haifa war in jenem Herbste wohl schon unter Dach, aber im Inneren noch nicht fertig. Bezogen sollte es erst im zweiten Frühjahr werden. Ich konnte dennoch schon meinen wackeren Gehilfen erklären: Unser Haus ist unter Dach! Ich meinte damit die ganze neue Gesellschaft. Es galt nur, von da weiter auch nichts zu versäumen, immer mit gespannter Aufmerksamkeit unsere Pflicht zu tun. Die Aufgaben wurden umfangreicher, und doch waren sie in der Folge leichter zu bewältigen. Der Apparat war aufgestellt, wir mußten ihn nur richtig in Stand und Gang erhalten. Die größeren technischen Werke wurden geschaffen, namentlich unsere Wasseranlagen. Wir knüpften da an eine sehr alte Tradition unseres Volkes wieder an. Die salomonischen Teiche zeugen noch von der verschollenen Tüchtigkeit unserer Vorfahren. Wir hatten freilich andere Wasserwerke herzustellen, nicht nur für die Trinkwasserversorgung von Jerusalem und anderen Städten; auch für Kraft und Licht. Der Tote-Meer-Kanal und die übrigen technischen Leistungen beweisen, daß die Ingenieure der neuen Gesellschaft nicht rasteten. Ihnen allen immer voran ihr herrlicher Chef, der unvergeßliche Fischer.

Und noch ein anderer Strom ergoß sich befruchtend über unser Land: Kapital und Kredit. Unsere zielbewußte Arbeit, unsere ersten Erfolge weckten das Vertrauen. So wie wir in den landwirtschaftlichen Produktivgenossen neue Bauern auf die Scholle gesetzt hatten, so brachten wir auch den modernen Ackerbaukredit ins Land. Früher hatte man geglaubt, daß wir unsere Geldmittel erschöpfen würden, wenn wir unseren Ansiedlern Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude, Felder und Maschinen, Pferde, Kühe und Schafe und Geflügel, Wagen und Geräte, Lebensmittel, Saat und Futter gäben. Die Klügsten unserer Gegner hatten sogar ausgerechnet, wann wir auf dem Trocknen sitzen müßten. Eine Familie, nach dem Durchschnitt mit fünf Köpfen angenommen, koste zur Ansiedlung ungefähr sechshundert Pfund Sterling. Folglich kosteten tausend solcher Familien sechsmalhunderttausend Pfund, zehntausend sechs Millionen, das ist hundertundzwanzig Millionen Mark, und so fort. Diese ausgezeichneten Rechner hatten dabei nur die Kleinigkeit übersehen, daß die Ansiedler einen bedeutend größeren volkswirtschaftlichen Wert repräsentieren, und daß man auf Wertvolles auch Geld geborgt erhält. Die neue Gesellschaft konnte ihre Geldmittel durch wohlgedeckte und amortisierbare Anleihen gewaltig vermehren. Mit einem Worte: je mehr der Ansiedler wir herüberbrachten, um so mehr Geld strömte uns zu. So ist es überall in der Welt, wo man zu wirtschaften versteht; warum hätte es nicht auch bei uns so sein sollen? Das war ebenso einfach und selbstverständlich wie alles andere.

Aber ich bemerke eben, daß ich von der Zeit abgekommen bin, von der ich erzählen wollte. Das war die Zeit, in der uns der Futuro besuchte. Ich war im Inneren des Landes beschäftigt, wie ich schon erwähnte. Von Tag zu Tag mußte ich meine Abreise nach Jaffa verschieben. Dort lag das Schiff der Weisen, die ich so gern gesehen[149] und gesprochen hätte, vor Anker. Einmal geschah es, daß mehrere Wagen mit Ausflüglern vom Futuro in meiner Nähe auftauchten. Ich war zu Pferde auf dem Feld, als sie auf dem neuen Wege vorüberkamen. Sie betrachteten die große Dampfstraßenwalze, sahen auch einen Augenblick unseren Leuten beim Arbeiten zu. Von den Hüten der Damen flatterten die lichten seidigen Sonnenschleier, und das sah sehr hübsch aus. Ich ritt aber doch nicht an die Wagen heran, weil ich, bestaubt und verschwitzt wie ich war, den Eindruck eines Wegelagerers zu machen fürchtete. Ich dachte mir, ich würde schon in Jaffa Gelegenheit haben, mich diesen interessanten, feinen Menschen vorzustellen. Es kam anders. Am nächsten Tage erhielt ich ein Telegramm, das mich zu schleuniger Fahrt nach Konstantinopel zwang. Ich mußte mit der türkischen Regierung eine sehr wichtige Sache ins Reine bringen. Die Zeit drängte. In aller Eile ließ ich meine Jacht in Haifa heizen und berief die Chefs der Abteilungen zusammen. Den Oberbefehl übergab ich Fischer, der alle meine Absichten genau kannte, und ich dampfte mit meinen Sekretären noch am selben Tage nach Konstantinopel ab.

Den Futuro hatte ich nicht besuchen können, aber ich hoffte, ihn bei meiner Rückkehr von Stambul noch an der Küste zu finden. Ich tat auch mein Möglichstes, um die Verhandlungen rasch zu beenden. Doch wie es nun einmal in dieser liebenswürdigen und schläfrigen Stadt geht, alles zog sich in die Länge, und meine Ungeduld half mir nichts. Im Geiste und in den Dispositionen war ich freilich bei unseren großen Arbeiten in Palästina. Mit Fischer und dem Londoner Bureau blieb ich in allstündlichem Zusammenhange. Nur mit der geistreichen Heiterkeit des Weisenschiffes konnte ich mich auf telegraphischem Wege nicht verbinden. Mein Bedauern wuchs in dem Maße, als der Futuro nordwärts fuhr. Die täglichen Telegramme Fischers brachten auch über das Verbleiben des Futuro Nachricht. Schon war er in Tyrus, in Sidon gewesen. Vor Beirut sollte er länger ankern, um den Ausflug nach Damaskus zu ermöglichen. Da hoffte ich ihn auch zu finden, als ich endlich von Konstantinopel wegkam. Ich hatte zwar die größte Eile, meine Arbeiten wieder an Ort und Stelle aufzunehmen, aber einen halben Tag Aufenthalt in Beirut wollte ich mir gönnen, um die Bekanntschaft dieser ausgezeichneten Menschen zu machen. Meine gute Jacht flog nur so über die Wellen hin. Ich hatte den Kapitän gebeten, das Äußerste der Geschwindigkeit zu leisten. Dennoch kamen wir zu spät. Bei der Insel Cypern, an der wir eines Morgens vorüberkamen, sah ich ferne ein Schiff in entgegengesetzter Richtung fahren. Wie der Blitz durchzuckte es mich: das ist der Futuro! Ich stürmte auf die Kommandobrüche und sah durchs Fernrohr. Ich hätte ein geübter Seemann sein müssen, um ein Schiff auf diese Distanzen zu erkennen. Der Kapitän war leider nicht auf der Brücke, sondern in seiner Kajüte. Bis man mir ihn holte, war jenes Schiff aus unserem Gesichtskreise verschwunden. Aufs Geradewohl hinterdrein zu jagen wäre nicht ratsam gewesen. Erstens war es fraglich, ob wir jenen Dampfer noch erreichen konnten; zweitens versäumteich vielleicht eben dadurch den Futuro, falls er noch vor Beirut lag. Wir blieben also in unserem Kurs. Erst in Beirut erhielt ich die Kunde, daß ich richtig vermutet hatte. Jenes Schiff im Morgensonnenschein vor Cypern war der Futuro gewesen.[150]

Ich empfang darüber einen gewissen Schmerz. Und seither habe ich den Wunsch, es möge mir wenigstens vergönnt sein, die Wiederkehr des Futuro zu sehen. Denn fünfundzwanzig Jahre nach seiner ersten Fahrt soll er wiederkommen. Allerdings nicht das gleiche Boot, weil es eine veraltete Form hat; ein neues Prachtschiff wird seinen für immer berühmten Namen erhalten. Und allerdings auch nicht ganz die gleichen Gäste, weil manche schon gestorben sind; wir wollen eben außer den Überlebenden von der ersten Reise auch noch diejenigen einladen, die inzwischen die Besten der Kulturwelt geworden sind.

Und alle fünfundzwanzig Jahre soll ein Dampfer Futuro einen solchen Areopag, vor dessen Urteil wir uns beugen wollen, zu uns bringen. Wir werden nicht die Potemkinschen Dörfer einer Weltausstellung aufrichten. Das ganze Land soll zur Besichtigung da sein, die Gäste vom Futuro unsere werte Jury. Und wenn sie nun wiederkommen, und unser Herrgott mich sie diesmal nicht versäumen läßt, und sie finden, daß Joseph Levy seine einfache und doch schwere Aufgabe einigermaßen anständig gelöst hat, denn – dann will ich in Pension gehen. Und wenn ich sterbe, legt mich an die Seite meines teuren Freundes Fischer, dort oben hin auf den Karmelfriedhof, von wo man den Blick hat auf mein liebes Land und auf mein liebes Meer.«

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 144-151.
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