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[151] Die Erzählung des Phongraphen war zu Ende. Die letzten Worte hatten auf die Zuhörer einen tiefen Eindruck gemacht.
Kingscourt räusperte sich stark und bemerkte:
»Scheint'n charmanter Kerl zu sein, euer Joe, 'n ganz charmanter Kerl. Schade, daß er nicht hier ist. Hätte ihm gern die Hand gedrückt. Na, hoffentlich sieht man ihn doch, bevor man weiterzieht ... Auf eine Sache hat er mich übrigens recht gespannt gemacht: auf den Toten-Meer-Kanal. Scheint ja so 'ne Art Weltwunder zu sein. Wann werden wir ihn denn beaugapfeln, den sagenhaften Kanal?«
David versprach es für die ersten Tage nach der Passahwoche. Diese Zeit aber verbrachten sie in heiterer Ruhe zu Tiberias. Kingscourt aß wacker mit von den ungesäuerten Broten und schimpfte zwischendurch, daß man ihn, einen christlichen und deutschen Edelmann, ganz und gar verjude. Mit besonderer Heftigkeit schimpfte er auch über Fritzchens Tyrannei, die täglich anspruchsvoller wurde. Dieser kleine Schuft glaubte wohl, daß der alte Kingscourt auf die alten Tage nichts Gescheiteres zu tun habe, als sich zum Steckenpferd eines solchen Rangen herzugeben. Doch gestattete sich der Brummbär das Raisonnieren nur, wenn Fritzchen schlief, und alle Vorsätze der Auflehnung schwanden, sobald das Kind nach »Otto« rief. Als man sich nach Ablauf der Osterwoche anschickte, die Fahrt durch das Jordantal nach Jericho zu machen und David das Kind bei den Großeltern zurücklassen wollte, hatte Kingscourt allerlei einzuwenden. Der Bursche solle doch auch das Land ein bißchen kennenlernen, und David wäre eigentlich ein Rabenvater, wenn er Fritzchen allein ließe, und im schlimmsten Fall würde er, Kingscourt,[151] sich opfern und auf den ganzen Toten-Meer-Kanal verzichten, wenn Fritzchen nicht mitkäme. Kurz, er drang so lange darauf, bis man sich entschloß, auch das Bübchen mitreisen zu lassen. Da tat Kingscourt freilich, als wäre ihm das äußerst gleichgültig; er war persönlich daran nicht im mindesten beteiligt, er hatte sich nur des hilflosen Kindes angenommen.
Architekt Steineck und Reschid Bey waren mittlerweile nach Haifa zurückgekehrt. Reschid wollte nach seiner Familie sehen, versprach aber, in Jerusalem wieder zu den Freunden zu stoßen. Der Architekt hatte mit den nahe bevorstehenden Delegiertenwahlen für den Kongreß viel zu tun. Wie die Zeitungen und Privatnachrichten meldeten, machte die Partei Geyer ungeheure Anstrengungen. Da mußte Steineck auf dem Posten in Haifa sein, wo sämtliche Fäden der Agitation zusammenliefen und allstündlich die Losungsworte an die Ortskomitees hinaus telephoniert oder telegraphiert wurden. David aber hatte in seinen eigenen Geschäften noch einiges drüben in der Landschaft Dscholan zu besorgen, bevor er die Fahrt nach Jericho antreten konnte. Er lud seine Gäste ein, ihn nach dem Dscholan zu begleiten, wo es auch Merkwürdiges zu sehen gäbe. Friedrich Löwenberg schloß sich bereitwillig an, da auch Mirjam und Professor Steineck mit von der Partie sein sollten. Hingegen blieb Kingscourt noch länger in Tiberias, weil er Frau Sarah und Mrs. Gothland nicht allein im Motorwagen nach Besan fahren lassen wollte. Man verstand seine liebenswüridge Schwäche für Fritzchen schon und neckte ihn nicht übermäßig wegen seines Verweilens in Tiberias. In zwei Tagen also würden sich die beiden Teile der Reisegesellschaft wieder zu Besan im Jordantale vereinigen. Kingscourt sollte mit Frau Sarah, Mrs. Gothland, dem Kinde und der Kinderfrau im Motorwagen nach Besan fahren und dort im großen Hotel auf die vom Dscholan Kommenden warten.
Eine schmucke Barke mit elektrischem Betriebe harrte der vier Reisenden, die nach dem jenseitigen Ufer des Sees von Genezareth übersetzen wollten. Die Zurückbleibenden hatten ihnen das Geleit bis ans Schiff gegeben. Friedrich Löwenberg reichte seinem alten Freunde zum Abschied die Hand.
»Wissen Sie, Fritze«, sagte Kingscourt mit grimmiger Betonung, »daß wir da vor einer Neuerung stehen? Seit zwanzig Jahren haben wir uns keinen Tag verlassen. Mensch, geraten Sie mir in der Gegend mit dem verrückten arabischen Namen da drüben auf keine Abwege! Sonst soll Sie ein mehrfach gesalzenes Donnerwetter einholen. Und Sie, Fräulein Mirjam, benützen Sie gefälligst die Gelegenheit nicht, um diesem Jüngling den Kopf zu verdrehen! Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Das ist das gefährlichste Alter. Und nun Gott befohlen! In Besan sieht man sich wieder!«
Mirjam war bei dem derben Scherz des Alten rot geworden, aber Friedrich auch. Ganz verwirrt stiegen beide in die Barke. Kingscourt sah Mrs. Gothland mit bedeutungsvollem Zwinkern der Augen an, und er freute sich unbändig, daß es ihm gelungen war, die beiden in Verlegenheit zu bringen.
Es war einer der weichen Frühlingstage, die am See von Genezareth so lieblich sind. Rasch durchschnitt die Barke die von einer spielenden Brise bewegten Wellen. Die lichten Palästchen und Villen von Tiberias wurden immer kleiner und die[152] steilen Höhen des östlichen Ufers rückten heran. Wundervoll war der Blick auf den schneeigen Hermon im Norden, und die zahlreich vorbeistreichenden Schiffe aller Art und Größen boten die munterste Unterhaltung. So verging die Fahrt hinüber wie ein eiliger Traum. Am anderen Gestade legte die Barke in einer kleinen Bucht an. Die Reisenden hatten nur wenige Schritte zur Station der elektrischen Bahn. Sie mußten auch nicht allzulange auf den Zug warten, der sie weiterbringen sollte. Sie nahmen in einem Salonwagen Platz und fuhren nach El Kunetra. Dort hatte David Littwak seine Geschäfte abzumachen. Das Bahngeleise stieg allmählich an, da es bis El Kunetra tausend Meter Meereshöhe zu erreichen hatte. Diese Stadt war als ein Knotenpunkt der Bahnen im Ostjordanlande zu ansehnlicher Bedeutung gelangt. Zwischen Safed und Damaskus liegend, war sie ein wichtiger Stapelplatz des Verkehrs.
Als David mit seinen Freunden aus dem Salonwagen stieg, bemerkten sie auf einem anderen Geleise, wo der Zug nach Beirut zur Abfahrt bereitstand, einen Waggon, aus dem singende Knabenstimmen tönten. Es waren Jungen im Alter von vierzehn bis zu sechzehn Jahren.
»Die machen wohl einen kleinen Ausflug?« erkundigte sich Friedrich.
»Jawohl, einen kleinen Ausflug – rund um die Erde«, erwiderte Professor Steineck schmunzelnd.
Und Mirjam erklärte dem erstaunt Aufhorchenden, was das für eine Schülerreise war. Man hatte eine Einrichtung der klugen und gelehrten Benediktinermönche nachgebildet. Die französischen Benediktiner pflegten schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts Karawanen von Schülern unter der Hut ihrer Lehrer in fremde Länder zu schicken. Dort erwarben die jungen Leute die Kenntnis der Sprachen und Gebräuche. Lehr- und Wanderjahre wurden auf diese Art planvoll verbunden. Diese Jugend war inhaltsreicher, als die der früheren Zeiten, und ihre Ausbildung war nicht nur gediegener, sondern auch ökonomischer. Man bekam die fertigen Menschen schneller, und was die neue Gesellschaft an Geldmitteln auf diese Schulkarawanen verwandte, das trug bald seine Zinsen. Den Karawanen wurden nur die besten Schüler aller Unterrichtsanstalten des Landes eingereiht, weil man solche Kosten an möglicherweise faule und unnütze Burschen nicht verschwenden durfte. Zugleich war darin aber auch die wirksamste Prämie auf den Lerneifer gesetzt. Die Knaben hatten keinen höheren Ehrgeiz als die Erlangung eines Schulreiseplatzes. Die Abenteuerlust, welche die Jungen gerade in diesen sonderbaren Flegeljahren zu befallen pflegt, wurde da nicht nur gebändigt, sondern geradezu bewirtschaftet und zu einem weiteren Vorwärtskommen ausgenützt, gleich den kleinen Explosionen, die das Automobil treiben. Durch die Unterrichtsverwaltung der neuen Gesellschaft waren diese Schulkarawanen in ein gehöriges System gebracht worden. An mehreren Orten in den verschiedenen Ländern, die besucht werden sollten, hatte die neue Gesellschaft Schulhäuser mit allem zum Unterricht wie zur Verpflegung der Kinder Nötigen eingerichtet. Stille Kleinstädte in einiger Entfernung von der Hauptstadt des Landes wurden als Niederlassungsorte gewählt, für Frankreich zum Beispiel Versailles. Das war für Leib und Seele wichtiger als das Wohnen in den gefährlichen Metropolen. Jede dieser Anstalten stand[153] unter der Leitung eines Direktors, der immer dablieb, während die Karawanen mit ihren Klassenlehrern nach drei Monaten weiterzogen. Durch eine in Jerusalem zentralisierte Verfügung wurde der Weg der Karawanen geregelt. Die Knaben lernten die Welt kennen, ohne daß ihr Lehrgang unterbrochen worden wäre.
»Und die Mädchen?« fragte Friedrich lächeln.
»Die Mädchen machen solche Reisen nicht«, sagte Mirjam. »Wir glauben, daß der Platz der heranwachsenden Jungfrau bei ihrer Mutter ist, wenn sie auch etwas Tüchtiges gelernt hat und ihre Pflichten in der neuen Gesellschaft erfüllen muß.«
Während David seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigte, machten Mirjam, Friedrich und Professor Steineck einen Spaziergang durch die heiter belebte Stadt, besichtigten die Bazare, die aber nur wenig Orientalisches hatten, sondern die Niederlagen europäischer Kaufhäuser waren. Sie fanden in einem recht guten englischen Hotel Unterkunft. Friedrich wunderte sich über den Komfort, der hier geboten war, nicht mehr. Es kam ihm jetzt schon selbstverständlich vor, daß an einem Orte des Weltverkehrs auch Bequemlichkeiten für zivilisierte Reisende sich befanden. Das Abendessen wurde früh eingenommen, weil man am nächsten Tage beizeiten aufbrechen wollte, um einen Ausflug nach der sogenannten Kornkammer zu machen.
Es war ein Morgen in zarten Farben. Sie fuhren mit einer elektrischen Sekundärbahn in die bezaubernd junge Landschaft hinaus. Friedrich empfand in dieser Umgebung die Frühlingsgefühle seiner ersten Jünglingsjahre. Neues Leben war in ihm aufgebrochen beim Anblick all dieser glücklichen Arbeit auf den Feldern und auch – kaum wagte er es sich zu gestehen – die Nähe der schönen Mirjam war nicht ohne Einfluß auf die Fröhlichkeit seiner Stimmung. Wie verständig erklärte sie ihm alles, was seine Aufmerksamkeit erregte. David und Steineck halfen mit mancher Erläuterung aus, wo Mirjams Wissen doch nicht ausreichte. In dieser Gegend des Ostjordanlandes befanden sie sich an einer eigentümlichen Wasserscheide. Fern vom technischen Erfindungswesen des neunzehnten Jahrhunderts aufgewachsen, mit einer bloß juristischen Bildung ausgestattet, hatte Friedrich eigentlich nicht viel von den modernen Möglichkeiten gewußt. Er glich darin den meisten mittleren Gebildeten seiner Zeit. Das Treiben der geschlossenen wie der »offenen« Fabriken war ihm völlig unbekannt. »Offene Fabriken« nannte nämlich Steineck in seinen plaudernden Erklärungen die neueren landwirtschaftlichen Betriebe, die sie auf ihrem Ausfluge zu sehen bekamen. Und eine Wasserscheide sei diese Gegend, weil die Wässer, die vom Norden und Süden heraufflossen, hier zusammentrafen. Friedrich glaubte zuerst an einen Scherz des Gelehrten, als dieser von den heraufströmenden Gewässern sprach. Steineck wollte sich wohl über die Unwissenheiteines so weit Zurückgebliebenen lustig machen. Doch der Aufschluß ließ nicht auf sich warten. Die Wasser selbst flossen wohl nicht bergauf, wohl aber die Kraft ihrer Wellen. Die Naturgewalten zu ändern war man auch in Altneuland nicht fähig gewesen, so wenig wie die Beschaffenheit der Menschen; wohl aber hatte man im Gefolge der allgemeinen Kultur die Naturkräfte besser kennen und ausnützen gelernt. Es war nicht mehr notwendig, das Mühlenrad unmittelbar unter dem Wasserfall anzubringen, wie in den einfältigen Zeiten. Ein Bach, der in[154] einer Ferne von fünfzehn oder zwanzig Meilen zu Tale stürmte, trieb die Räder, denn seine Kraft wurde als elektrischer Strom in den Drähten hierher geleitet. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war dieses Problem bereits vollkommen gelöst. In Amerika hielt man darin schon vor zwanzig Jahren weit genug. Vom Niagara wurde elektrischer Strom in eine Entfernung von 162 Kilometern geleitet. Von den San-Bernardino-Bergen nach der Stadt Los Angeles in Südkalifornien gab es damals eine Leitung von 133 Kilometer Länge mit sehr geringem Kraftverlust. Das waren leicht nachzuahmende Einrichtungen. Und so konnten auch die Wasserkräfte vom südlichen Toten-Meer-Kanal wie von den Gebirgsquellen des Libanon und Hermon im Norden herangezogen werden.
»Die wahren Gründer von Altneuland«, sagte David, »waren die Wasserbautechniker. Drainage der Sümpfe, Berieselung der verdorrten Strecken und dazu das System der Kraftanlagen – darin lag alles.«
Nach anderthalbstündiger Fahrt kamen sie auf der Musterwirtschaft an, welche unter der Aufsicht der neuen Gesellschaft von einem millionenreichen Wohltätigkeitsvereine angelegt worden war. Der Direktor dieser ausgedehnten großkapitalistisch geführten Unternehmung zeigte den Gästen alles auf dem prachtvollen Landgute. Die besondere Bewunderung Friedrichs rief die elektrische Zentrale neben dem Direktionsgebäude hervor. Da waren die Wände rings mit Knöpfen, Vertiefungen, Nummern und kleinen Täfelchen bedeckt. Zwei junge Damen in schlichter Kleidung hantierten da nach den Anweisungen eines Beamten, der selbst hinter einem Pult saß und jeden Augenblick die Hörmuschel eines Telephons ans Ohr legte. Friedrich erinnerte sich bei diesem Anblick, ähnliches einmal in einer Telephonzentrale gesehen zu haben. Der Direktor erklärte, wie von hier aus durch die Drahtleitungen nach allen Punkten der Wirtschaft die Kraft versendet werde, sobald man sie benötige, aber auch nicht um eine Minute länger. Von dieser Stube aus wurden nämlich nicht nur die eigentlichen Feldarbeiten mit Kraft gespeist, sondern auch die mit der Landwirtschaft zusammenhängenden, im großen betriebenen Gewerbe: eine Zuckerfabrik, eine Bierbrauerei, die Spiritusbrennerei, die Mühle, die Stärkefabrik und so weiter.
In den Wirtschaftsgebäuden, die sie besichtigten, wie in den Fabriken, auf den Wegen und Feldern war alles nach der modernsten landwirtschaftlichen Lehre eingerichtet, eine peinliche Sauberkeit herrschte, und es ging merkwürdig ruhig zu. Das riesige Räderwerk der Musterwirtschaft machte nicht mehr Geräusch, als unumgänglich nötig schien. Friedrich fiel es auf, als ein kleiner Trupp von Arbeitern in gleichmäßiger Kleidung mit Geräten auf den Schultern an ihnen vorüberzog. Die Leute schritten gesenkten Blickes vorbei. Die einen sahen verdrossen aus, die anderen scheu. Zwei Aufseher folgten hintennach. Diese grüßten den Direktor militärisch.
»Darf ich mir eine kritische Bemerkung erlauben?« sagte Friedrich. »Wir haben bisher in Altneuland so viel Schönes bewundert, daß ich vielleicht auch ein Bedenken äußern kann.«
»Gewiß!« entgegnete David. »Was ist es?«
»Die Arbeiter kommen mir sonderbar gedrückt vor, als wären sie von der[155] prachtvollen Maschine, der sie dienen, innerlich ein bißchen zermalmt. Und was nützt all die sinnreiche ökonomische Einrichtung, wenn die Menschen dabei nicht glücklicher werden? Beim Anblick dieser Leute fielen mir die Fabrikarbeiter früherer Zeiten ein. Es ist wahr, ganz so traurig sind die Mienen der Leute hier nicht, sie sehen auch viel gesünder aus als die ehemaligen Fabrikslöhner – aber immerhin, eine Ähnlichkeit ist vorhanden. Und das finde ich betrübend. Wenn man bedenkt, daß dieses Gut einer wohltätigen Gesellschaft gehört, sollte man hier doch beglücktere Menschen erwarten. Ich gestehe, daß ich ein wenig enttäuscht bin.«
Der Gutsdirektor sah ihn erstaunt an und wandte sich dann fragend an die anderen:
»Weiß Herr Doktor Löwenberg denn nicht, wo er sich befindet?«
»Nein«, sagte David. »Wir haben es ihm absichtlich verschwiegen, weil er zuerst einen unbefangenen Eindruck haben sollte. Daß diese Musterwirtschaft eine Sträflingskolonie ist, damit wollten wir ihn überraschen.«
»Ist es möglich?« staunte Friedrich. »Dies eine Sträflingskolonie? Das ändert freilich viel an meinem Urteil. Und wie sind die Resultate der Erziehung zum Guten, Herr Direktor?«
»Die Leute werden moralisch und körperlich gesund«, erwiderte der Direktor. »Die meisten gewinnen das Landleben lieb und wollen es nicht mehr lassen. Sie bleiben nach verbüßter Strafe gern noch weiter hier und werden bezahlte Arbeiter, oder wir siedeln sie als Farmer auf immer weiter vorgeschobenen Posten an. Der Reinertrag unseres Betriebes wird für solche Ansiedlungen verwendet, und diese beginnen schon nach einigen Jahren das Hineingesteckte abzuzahlen. Wir machen aus den Abfällen der Gesellschaft wieder Menschen...«
Als die Reisenden am darauffolgenden Tage in Besan mit Kingscourt und den übrigen zusammentrafen, berichtete Friedrich über das Gesehene. Der alte Herr brummte:
»Natürlich! Wenn ich 'mal nicht in der Gefechtslinie bin, passieren die größten Wunder; das Wasser fließt bergauf und die Gefängnisse bestehen aus Freiheit.«
Jetzt fuhr die Motorarche durch das Jordantal südwärts. Die wohlgepflegte Landstraße traf und verließ öfters den vielgewundenen Flußlauf. Der Jordan war in seiner Frühlingsfülle, die Landschaft hüben und drüben in saftigem Grün. Reizende kleine Ortschaften, Städte und villenartige Niederlassungen blinkten von den östlichen und westlichen Höhen. Von Zeit zu Zeit stürmten auf dem rechten Ufer Züge der Jordantalbahn vorüber. Der Verkehr auf der Wagenstraße selbst war auch lebhaft genug. Es war die Zeit, in der die meisten Fremden von Jericho, dem weltberühmten Winterkurort, schon abzureisen pflegten. Hier im Jordantale war es für die verwöhnten Eleganten, die aus Europa vor der rauhen Jahreszeit flüchteten, jetzt schon zu warm. Man begegnete mehreren großen Reisekutschen, ähnlich der Motorarche David Littwaks. Die fuhren mit ihren hellgekleideten fröhlichen Passagieren, Damen und Herren, in entgegengesetzter Richtung, nach Norden zu; denn jetzt kamen die Modewochen für den Libanon. Ende April schifften sich die eleganten Herdenmenschen gewöhnlich in Beirut ein, um nach Europa zurückzukehren, wenn sie es nicht vorzogen, mit den Eilzügen der kleinasiatischen Bahnen noch rascher nach Konstantinopel zu kommen.[156]
Aber in diesem Jordantale, das die Vergnügungsmenschen um die wärmere Jahreszeit verließen, blieb doch noch Leben zurück, eigentlich das gesündeste und stärkste Leben. Denn die von altersher wegen ihrer wunderbaren Fruchtbarkeit hochgepriesenen Ebenen zu beiden Seiten des Flusses waren üppiger als jemals. Vernünftig bewirtschaftet, mit allen neuen und besten ökonomischen Mitteln ausgestattet, brachte das Jordantal die reichsten Erträge. Reis und Zuckerrohr, Tabak und Baumwolle gediehen prachtvoll. Die Kunst der Wasseringenieure hatte hier das Herrlichste geleistet. Die Jordanregulierung war nur ein Teil ihrer Tätigkeit gewesen. Großartige Talsperren, namentlich zwischen den Bergen der Ostseite, ermöglichten die volle Ausnützung aller Wasserkräfte des gesegneten Landes. In den traurigen Zeiten der Vernachlässigung war der Regenreichtum fruchtlos versickert. Durch das einfache, in Kulturländern so wohlbekannte System der Talsperren wurde sozusagen jeder vom Himmel fallende Tropfen für die allgemeine Wohlfahrt verwendet. Und so geschah es, daß wieder Milch und Honig in der alten neuen Heimat der Juden floß, und es war, was es gewesen: das gelobte Land!
Und all diese praktische Nützlichkeit war noch gehoben und verklärt durch Schönheit. Aus den grünen Gärten, von den Terrassen der Abhänge hüben und drüben leuchteten weiße Gemäuer. Marmorvillen ragten. Der Stein war aus den unfernen Brüchen der Umgebung vom Toten Meer geholt. So war für Friedrich und Kingscourt kein Ende des erfreuten Staunens auf dem ganzen Weg nach Jericho. Und als sie in diese elegante Stadt kamen, war selbst der grimmige Raisoneur Kingscourt sprachlos über die Pracht und Zahl der großen Hotels, Palästchen und Villen, die sich inmitten der tropischen Pflanzenanlagen und Palmenalleen erhoben. So entzückend hatten sie sich den klimatischen Kurort Jericho gar nicht gedacht.
Aber Kingscourt wollte vor dem Hotel nicht absteigen. Er wünschte gleich nach dem Toten-Meer-Kanal weiterzufahren. Zum Glück war Fritzchen schon eingeschlummert, sonst hätte »Otto« wohl keine solchen Sonderideen haben dürfen. Die Damen blieben also mit dem Kinde im Hotel zurück, und nur die Herren fuhren die kurze Strecke talwärts. Vor ihnen dehnte sich der tiefblaue Spiegel des Toten Meeres. Ein donnerndes Brausen wurde vernehmbar – die Wasser des Kanals, die durch Tunnels vom Mittelländischen Meer hierhergeführt, in die Tiefe stürzten. David erklärte mit kurzen Worten die Anlage des Werkes. Das Tote Meer ist bekanntlich der tiefste Punkt der Erdoberfläche, sein Spiegel liegt 394 Meter unter dem Niveau des Mittelmeeres. Es war der einfachste Gedanke von der Welt, diesen gewaltigen Niveauunterschied zu einer Kraftquelle zu machen. Der Gefällverlust im Laufe des Kanals von der Küste bis ans Tote Meer betrug nur einige achtzig Meter. Es blieben also noch über dreihundert Meter Fallhöhe. Bei einer Breite von zehn und einer Tiefe von drei Metern lieferte der Kanal etwa fünfzigtausend Pferdekräfte.
Kingscourt wollte sich um keinen Preis verblüffen lassen. Er sagte:
»Die Kraftstation der Niagara Falls Hydraulic Power Company erzeugte schon zu meiner Zeit vierzigtausend Pferdekräfte.«[157]
David entgegnete:
»Mit dem Niagarafalle und den Millionen Pferdekräften, die er liefert, dürfen wir natürlich die Anlage des Toten-Meer-Kanals nicht vergleichen, obwohl der Niagarafall nur fünfzig Meter hoch ist. Dort gibt es eben ungeheure Wassermengen. Aber ich denke, es ist ganz hübsch, daß wir in den verschiedenen Kraftstationen im Jordangebiet und am Toten Meer insgesamt eine halbe Million Pferdekräfte erzeugen.«
»Sie haben eigentlich recht, hochgeschätzter Wasserkünstler«, gestand nun der Alte; »es ist wirklich ganz hübsch. Aber eines verstehe ich nicht. Jetzt strömt um so viel mehr Wasser in das tote Becken, das keinen Abfluß hat. Ist denn eine andere Verdunstung da als früher?«
»Die Frage ist nicht unintelligent«, bemerkte hierauf Steineck. »Sie müssen aber wissen, meine Herren, daß wir dem Toten Meer auch ebensoviel Wasser entziehen, wie wir ihm zuführen. Das Süßwasser nämlich entwenden wir ihm in entsprechendem Maße. Wir pumpen es in Reservoirs hinauf und benützen es dann zur Bewässerung des Bodens dort, wo es ebenso nötig, wie hier überflüssig ist. Sie verstehen?«
»Freilich versteh' ich«, schrie Kingscourt, und diesmal war sein Poltern nicht so ungerechtfertigt wie sonst, denn der Donner des Wassersturzes war schon in der Nähe. »Verdammt schlaue Jungens seid ihr, das muß euch der Neid lassen.«
Und da waren sie vor der Kraftstation angelangt. Sie hatten auf dem Fahrwege von Jericho her keinen vollen Ausblick auf das Becken des Toten Meeres gehabt. Jetzt lag es weit und blau vor ihnen, groß wie der Genfer See. An dem nördlichen Ufer, an dem sie standen, hatten sie zur Rechten ein schmal zulaufendes Stück Land vor sich. Dieses zog sich unter dem Felsen hin, von dem das Wasser des Kanals herunterdonnerte. Unten befanden sich die Turbinenhäuser und oben langgestreckte Fabrikgebäude. So weit der Blick um den See und seine Uferberge reichte, sah man großartige Fabrikanlagen. Die Kraftquelle hatte all die verschiedenartigen Industrien angezogen. Der Kanal hatte das Tote Meer zum Leben erweckt. Beim Anblick der eisernen Röhren, in denen das Kanalwasser auf die Turbinenräder niederschlug, erinnerte sich Kingscourt der Anlagen am Niagara. Hier am Toten Meere gab es etwa zwanzig solcher mächtigen Eisenröhren, die aus dem Felsen in gleichmäßigen Abständen hervorragten. Senkrecht standen die Röhren auf den Turbinenhäusern und sahen wie phantastische Rauchfänge aus. Aber der Donner aus ihnen und der weiße Gischt des Abflusses verkündeten, was da Gewaltiges vorging. Die Reisenden traten in eines der Turbinenhäuser ein. Friedrich war von dem Ungeheuerlichen dieser Kraftentwicklung betäubt, indessen Kingscourt sich im Lärm der Industrieschlacht ordentlich wohl zu fühlen schien. Er schrie aus Leibeskräften Bemerkungen, die alllerdings im Gebrause niemand verstehen konnte. Dennoch ahnte man aus seinen Mienen, daß er endlich einmal vollkommen befriedigt war. Das war aber auch etwas prachtvoll Zyklopisches, wie das Wasser auf die riesigen Bronzeschaufeln der Turbinenräder herunterkrachte und sie zu rasenden Umdrehungen trieb. Und von da ging die wilde, die gebändigte Naturkraft in die Generatoren des elektrischen Stromes über, und sie lief in die Drähte und[158] durcheilte das Land, das altneue Land und machte es aufblühen, daß es ein Garten und eine Heimat wurde für Menschen, die ehemals arm, schwach, hoffnungslos, heimatlos gewesen...
Friedrich fand endlich Worte:
»Ich fühle mich wie zermalmt von dieser Größe.«
»Uns«, entgegnete David ernst, »hat die große Kraft keineswegs zermalmt – sie hat uns erhoben.«[160]
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