Fünftes Kapitel

[72] Die Damen waren schon in Abendtoilette. Frau Sarah sagte:

»Die Herren werden wohl hier im Theater nicht etwas sehen wollen, was sie ebensogut in London, Berlin oder Paris genießen können. Obwohl wir gerade jetzt eine vorzügliche französische und die beste italienische Schauspielergesellschaft in Haifa haben. Ich meine, die jüdischen Schauspiele werden Sie mehr interessieren.«

»Es gibt jüdische Schauspiele?« staunte Friedrich.

Kingscourt scherzte:

»Haben Sie denn nicht immer jehört und jelesen, daß das Theater janz und jar verjudet ist?«

Frau Sahah warf einen Blick in die Zeitung:

»Man spielt heute im Nationaltheater ein biblisches Drama: Moses!«

»Das ist eine sehr erhabene Dichtung«, erklärte David.

»Aber doch zu ernst. In der Oper gibt man Sabatai Z'wi. In einigen Volkstheatern werden Possen im Jargon aufgeführt. Die sind lustig, aber nicht sehr geschmackvoll. Ich würde die Oper empfehlen.«

Dafür war auch Mirjam. Es sei das schönste jüdische Tonwerk der letzten Jahre, die doch so reich waren an musikalischen Hervorbringungen. Aber man müsse sich beeilen, weil die Fahrt nach dem Opernhause eine halbe Stunde dauere.

»Werden wir noch Plätze kriegen?« fragte Kingscourt.

David antwortete:

»An der Kasse wäre wohl um diese Stunde nichts mehr zu haben, weil die meisten Genossenschafter heute ihr Bezugsrecht ausgeübt haben dürften. Aber ich habe von der Gründung des Hauses her meine Loge.«

»Auch die Oper eine Genossenschaft?« rief Löwenberg.

»Abonnement, Fritze! Sie nennen das hier Genossenschaft. Wird ähnlich sein wie bei der Zeitung.«

»Ganz ähnlich«, lachte David. »Lassen Sie sich nicht verblüffen, Mr. Kingscourt. Es gibt nichts Neues bei uns, es sieht nur so aus.« Er hatte ein paar weiße Handschuhe hervorgeholt und begann, sie sich über die Finger zu ziehen.

Handschuhe! Und gar weiße. Weder Kingscourt noch Friedrich hatten welche. Auf ihrer Insel im stillen Ozean waren sie zwanzig Jahre lang solcher Flausen enthoben gewesen. Aber da man doch nun wieder in die verzweifelte Lage geraten war, mit Damen ins Theater gehen zu müssen, wollte man sich wie ein zivilisierter Mensch benehmen. Kingscourt fragte, ob man auf dem Wege nach der Oper beim Laden eines Handschuhmachers vorbeikäme. Nein. Es gebe überhaupt keine derartigen Läden. Da wäre der alte Herr beinahe böse geworden:

»Uzen Sie mich? Sie haben doch selbst schon die Lederhülsen auf den Däumen. Oder machen Sie sich die selbst? Sie sind wohl auch in der Genossenschaft der Handschuhmacher?«

Es war ein Mißverständnis, das unter allgemeiner Heiterkeit aufgeklärt wurde. Es gab nämlich keine besonderen Geschäfte für Handschuhe, weil man diese wie alle anderen Bekleidungsgegenstände in den großen Kaufhäusern feilhielt.[72]

Vor der Freitreppe von Friedrichsheim standen zwei Motorwagen bereit, als die Gesellschaft aufbrach, um nach dem Opernhause zu fahren. Im ersten nahmen Frau Sarah, Mirjam und Friedrich Platz, im zweiten Kingscourt und David. Es war ein Abend des Südens, an die weichen Nächte der Riviera gemahnend. Unter ihnen lag das Lichtmeer von Haifa. Im Hafen und auf der Reede bis nach Akka hin gab es Schwärme von Glühkörperchen im spiegelnden Wasser, das waren die Lampen der vielen Schiffe.

Als sie am Hause Reschid Beys vorbeikamen, hörten sie den Gesang einer wundervollen Frauenstimme heraus.

Mirjam sagte:

»Die da singt ist die Gattin Reschid Beys. Sie ist unsere Freundin, ein sehr artiges, gebildetes Geschöpf. Wir kommen oft mit ihr zusammen, aber nur in ihrem Hause. Die mohammedanischen Gebräuche, an denen Reschid festhält, machen es ihr schwer, zu uns zu kommen.«

»Aber Sie dürfen nicht glauben, daß Fatma sich darum nicht wohl fühlte«, fügte Sarah hinzu.

»Es ist eine vollkommen glückliche Ehe. Sie haben reizende Kinder. Nur tritt die Frau nicht aus ihrer friedlichen Abgeschlossenheit heraus. Das ist gewiß auch eine Form der Glückseligkeit. Ich begreife sie ganz gut, obwohl ich ein vollberechtigtes Mitglied der neuen Gesellschaft bin. Wenn es der Wunsch meines Mannes wäre, würde ich ohne weiteres das Leben Fatmas führen.«

»Das kann ich bestätigen«, ergänzte Mirjam, indem sie ihre Hand liebkosend auf die Hand der neben ihr sitzenden Schwägerin legte.

Friedrich sprach nachdenklich:

»Ich verstehe. Hier in Ihrer neuen Gesellschaft kann jeder nach seiner Fasson leben und selig werden.«

Sarah erwiderte:

»So ist es, Herr Doktor! Jeder und jede.«

Nun waren sie wieder in den hellerleuchteten Straßen der Stadt. Vor einem riesigen Gebäude, aus dessen weiten Fensteröffnungen Lichtfluten herausdrangen, hielten die beiden Wagen. Das war doch nicht etwa die Oper? Nein! Ein Warenhaus nach Pariser Art war es.

»Das ist ja der bon marché!« rief Kingscourt.

David lächelte:

»Etwas Ähnliches. Wir haben nur solche Kaufhäuser. Es gibt gar keine kleinen Läden.«

»Was? Die habt ihr alle umgebracht? Die armen kleinen Schufte von Händlern habt ihr mausetot gemacht?«

»Nicht doch, Mr. Kingscourt! Wir haben sie nicht zu töten gebraucht, weil wir sie gar nicht entstehen ließen.«

Friedrich, der mit den Damen ein wenig nach den ausliegenden Modeschätzen geblickt hatte, mischte sich nun in das Gespräch:

»Wie? Sie haben den Kleinhandel verboten? Ist das Ihre Freiheit?«

»Bei uns ist jeder frei und kann tun oder lassen, was er will«, entgegnete David.[73]

»Betraft werden nur dieselben Verbrechen und Vergehen, die man in den Kulturländern Europas zu ahnden pflegte. Verboten ist bei uns nichts, was nicht auch dort verboten war. Und wir halten ja den Kleinhandel nicht für eine Schlechtigkeit, sondern für etwas Unwirtschaftliches. Das war eines der Probleme, die unsere Gesellschaft lösen mußte. Es war höchst wichtig, besonders in den Anfängen, weil ja große Massen unserer Leute vom Kleinhandel herkamen. Mein guter Vater selbst – Sie erinnern sich wohl noch, Herr Doktor – verdiente sich unser bißchen hartes Brot als Hausierer und das ist die ärmste, unglücklichste Art des Kleinhandels. Er ging mit seinem Kästchen von Schenke zu Schenke.«

»Hören Sie mal, Herr Littwak«, brummte Kingscourt; »Sie scheinen sich dessen nicht zu schämen?«

»Ich? Ich bin weit davon entfernt, mich dessen zu schämen. Für mich hat er sich geplagt und schinden lassen. Da wäre ich doch der letzte Mensch.«

»Lassen Sie sich die Hand drücken! Das gefällt mir.« Und er schüttelte die Rechte des jungen Mannes ganz energisch.

Während sie nach der Abteilung der Handschuhe weitergingen, forschte Friedrich noch:

»Wie sind Sie nun der Frage des Kleinhandels beigekommen, wenn nicht durch ein Gesetz oder Verbot?«

»Ganz einfach! Durch das, was Sie hier sehen: durch das große Warenhaus. Diese Riesenbazare und Versandgeschäfte mit Zweigniederlassungen an vielen Orten mußten im Zeitalter der Dampfmaschinen und Eisenbahnen entstehen. Es war keinem Zufall, keinem Genieblitz eines geistreichen Kaufmannes zu verdanken. Es lag eiserne Notwendigkeit in dieser Entwicklung. Die Art der Massenproduktion erzwang sich diese Art des Absatzes. Natürlich gingen dabei die kleinen Geschäftsleute dumpf und fassungslos zugrunde, wie die Fuhrmänner auf der Landstraße, als die Eisenbahn erschien. Nur pflegten die Kutscher ihr Los schneller zu erraten als die Ladenmenschen mit ihrer kurzsichtigen Pfiffigkeit. – Diese waren übrigens auch viel hilfloser, weil ihr Geschäftchen hauptsächlich aus ihrem Kapitälchen bestand und das war in der Regel schon verloren, wenn ihnen die erste Ahnung der Gefahr aufstieg. Sie waren an ihrem Ruin unschuldig, die guten Krämerseelen. Sie waren von der neuen Zeit ohne Kriegserklärung überfallen worden. Bei uns aber – das ist einer der Schlüssel unseres Erfolges – kam es gar nicht zur Einrichtung der überlebten Wirtschaftsformen. Wir fingen gleich mit der Neuzeit an. Niemand war so dumm, sich einen kleinen Laden neben einem großen Kaufhause zu errichten. Niemand ging mehr mit dem Pack auf dem Rücken von Haus zu Haus oder von Ort zu Ort, wenn er wußte, daß ihm die Versandgeschäfte mit Preislisten, Mustersendungen und Zeitungsannoncen längst zuvorgekommen waren. Kleinhandel und Hausierhandel versprachen keinen Gewinn mehr – darum wandten sich unsere Leute diesen Erwerbszweigen gar nicht erst zu, als sie in die neuen Verhältnisse kamen. Im alten Europa, das so vielerlei erworbene Rechte ungleichen Datums zu schützen hatte, war das eine böse Frage. Der untere Teil des kaufmännischen Mittelstandes geriet durch die großen Magazine in Todesgefahr. Sollte man die großen Kaufhäuser von Amts wegen sperren – bei welchem Umfange[74] begann das Warenhaus »groß« zu sein? Sollte man sie durch Steuern erschöpfen? Davon hatte der Fiskus eine Kleinigkeit und die Händler nicht viel. Aber das Publikum wollte, brauchte diese Häuser, wo man ohne Zeitverlust alle möglichen Gegenstände zu Preisen des Massenumsatzes findet. Der Fabrikant kann den großen Häusern billiger liefern als den kleinen. Kurz: Produktion und Konsumtion forderten das moderne Warenhaus. Bei uns wurde dadurch niemand ruiniert, weil das Verkehrsleben erst begann. Dagegen war damit für uns ein sozialpolitischer Zweck verknüpft: wir konnten so die Seele und den Leib unserer kleinen Leute von gewissen alten, unwirtschaftlichen und schädlichen Formen des Handels heilen.«

Die Damen gaben leichte Zeichen der Ungeduld, als David so ausführlich erklärte. Man würde zu spät in die Oper kommen. Aber Kingscourt wollte doch noch etwas wissen, während er seine großen, roten Hände der Verkäuferin hinhielt, die sie ihm in die weißen Handschuhe pressen mußte:

»Da stimmt mir etwas nicht, Euer Hochwohlgeboren! Heute, seh' ich, habt ihr 'nen großen Verkehr. Aber so war's doch nicht gleich? Man hat doch nicht diese Warenpaläste auf die nackte Erde hingestellt, und dann sind plötzlich die Kunden 'reingeströmt. Das können Sie Ihrem Fritzchen erzählen, nicht so 'nem alten Wüstenpilger wie mir.«

»Nein, Mr. Kingscourt, so war es auch nicht. Die Dinge haben sich natürlich und selbstverständlich entwickelt. Als die Judenwanderung nach Palästina im großen Maßstabe begann, da war von einem Tag auf den anderen ein enormer Warenbedarf eingetreten. Wir produzierten noch gar nichts und brauchten alles. Dieser Zustand war in der ganzen Welt bekannt, weil sich die Judenwanderung in größter Öffentlichkeit vollzog. Infolgedessen beeilten sich die Inhaber von Warenhäusern, an den wichtigsten Punkten Palästinas Zweigniederlassungen zu errichten. Nicht nur Juden benutzten diese Konjunktur, ihre Ladenhüter loszuwerden. Deutsche, englische, französische, amerikanische Kaufhäuser waren im Handumdrehen aufgebaut. Zuerst waren es nur eiserne Baracken. Als mit dem Strom der Einwanderung die Bedürfnisse sich mehrten und verfeinerten, als es nicht mehr galt, die armen Ankömmlinge der ersten Zeit zu versorgen, weil sie anfingen, seßhaft und bemittelt zu werden – da verwandelten sich die Baracken allmählich in steinerne Kaufhäuser. Die neue Gesellschaft hütete sich davor, sie zu bedrängen oder zu unterdrücken. Im Gegenteil, sie wurden begünstigt, weil sie den doppelten Vorteil boten, die notwendigen Massenartikel rasch und billig ins Land zu schaffen, und unsere kleinen Leute vom unfruchtbaren Handel abzuhalten. Wir wollten kein Volk von Krämern sein.«

»Wirklich?« fragte Friedrich. »Es gibt keine Händler außer den großen Warenhäusern?«

»O doch!« war die Antwort. »Die Menschen sind ja bei uns nicht reglementiert. Es gibt weder eine monarchische noch eine sozialistische Tyrannei. Jeder treibt es, wie er's will. Die kostbarsten und die mindestwertigen Sachen, zum Beispiel Schmucksachen und alter Trödel, werden von einzelnen gehandelt. Aber das sind durchaus nicht lauter Juden. Griechen, Levantiner, Armenier, Perser stellen zu[75] diesen Beschäftigungen ein ansehnlicheres Kontingent als die Juden, insbesondere als die Juden, die Mitglieder unserer neuen Gesellschaft sind.«

»Wie? Gibt es auch Juden, die nicht zu Ihrer Gesellschaft gehören?«

»Jawohl ... Aber nun wollen wir gehen.« David wandte sich zur Verkäuferin: »Was kosten die Handschuhe der beiden Herren?«

»Sechs Schekel.«

Kingscourt blickte verwundert:

»Alle Deibel! Was ist das?«

David lächelte:

»Unsere Währung. Wir haben unsere althebräische Münze neu gewertet. Ein Schekel ist so viel wie ein französischer Franc. Da Sie nicht vorgesehen sind, erlauben Sie wohl, daß ich für Sie bezahle.«

Er warf ein Goldstück auf den Kassentisch, erhielt einige Silberlinge zurück, und dann schritten die Damen und Herren dem Ausgange zu.

Kingscourt kniff David in den Arm und schnauzte ihn lustig an:

»Das Jeld habt ihr also nicht abgeschafft in eurer Gesellschaft? Hätte mich auch von euch gewundert.«

David war nun schon mit der Ausdrucksweise des Alten befreundet und er gab in ähnlichem Tone zurück:

»Nee, Mister Kingscourt, vom Jelde haben wir uns nicht trennen können. Erstens, weil wir verdammt habgierige Juden sind. Zweitens, weil das Geld ein ausgezeichnetes Mittel ist. Man müßte es erfinden, wenn es nicht schon da wäre.«

»Jüngling, Sie reden mir aus der Seele! Das hab' ich immer gesagt: das Jeld ist 'ne gute, schöne Sache. Die Menschen haben es nur verdorben.«

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 72-76.
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