[65] An eine Fortsetzung der Reise nach Europa war vorläufig nicht zu denken. Friedrich Löwenberg meinte zwar aus Diskretion, er müsse seinem Freunde diesen Vorschlag machen, weil Kingscourt sich wohl kaum für die Schicksale des jüdischen Volkes interessieren mochte. Aber der Alte erklärte mit Entschiedenheit, daß er dableiben wolle, solange man sie dulde. Das sei doch eine ganz verdammt kuriose Geschichte, die sich da mit den Juden abgespielt habe. Und wenn der Herr Dr. Friedrich Löwenberg für seine eigene Nation keine Teilnahme mehr habe, er, Kingscourt, sei kein solcher Unmensch.
Kurz und gut, als der Steuermann von der Jacht heraufkam, wurde ihm bedeutet, daß man in Haifa bleibe. Kleider und Wäsche sollten nach Friedrichsheim geschickt werden, und die Mannschaft könne sich ein paar gute Tage machen.
Die Fremdenzimmer, in denen sie untergebracht waren, grenzten aneinander. Kingscourt stand in Hemdsärmeln auf der Schwelle der Verbindungstür und machte heftig gestikulierend seine Randbemerkungen zu allem, was sie bisher gesehen und gehört hatten. Friedrich ruhte in einem Lehnstuhl und blickte träumend zur offenen Terrassentür hinaus aufs Meer. Ein herrlicherer Aufenthaltsort ließ sich nicht denken. Und was waren das für prächtige Menschen, die sich in diesem hohen und freien Wohlstand so gelassen bewegten. David heiter und energisch, selbstbewußt und doch nicht unbescheiden. Seine Frau neben ihm ein glückliches Bild der jungen und frohen Mütterlichkeit. Und dieses anmutige, edle Mädchen Mirjam, ernsteren Pflichten ergeben, als es vormals der Brauch gewesen in reichen, jüdischen Häusern. Nach langen Jahren zum erstenmal mußte er wieder an Ernestine Löffler denken, die er so töricht geliebt und die ihm den Abschied vom Leben so leicht gemacht hatte. Ob wohl Mirjam auch fähig wäre, eine solche Ehe einzugehen wie einst Ernestine? Er wußte selbst nicht, wie er auf diese komische Frage kam. Nein, das war ein anderes Mädchen und das waren andere Menschen als die im widerwärtigen Löfflerschen Kreise. Wer weiß, ob es damals nicht besser gewesen wäre, männlicher, menschenwürdiger, zu streben und zu kämpfen, statt sich vor dem Leben zu flüchten.
»Kingscourt!« seufzte er aus diesem Gedankenzuge heraus, »ich frage mich, ob unser Schiff keinen falschen Kurs hatte, als wir die selige Insel dort drüben suchten. Womit habe ich nun zwanzig schöne Jahre verbracht? Mit Jagen, Fischen, Essen, Trinken, Schlafen, Schachspielen...«
»Und mit einem alten Esel, was?« brummte Kingscourt verletzt.
»Den alten Esel schieben Sie mir unter«, lachte Friedrich, »ohne Sie könnte und möchte ich ja nicht mehr existieren. Aber es ist doch schade, daß man nicht nützlicher war. Da ist nun die Welt um solch ein Stück weitergekommen, und man hatte kein Teil daran, kein Verdienst.«
»Nee, so was. Nu war der Mensch zwanzig Jahre in meiner Schule und hat noch solche Gedanken. Sagen Sie gleich, daß Sie Mitglied der neuen Gesellschaft sein möchten.«
»Ich sage es nicht, weil ich sie noch nicht genügend kenne. Aber minder abstoßend, als die frühere, kommt sie mir doch vor.«[65]
»Minder abstoßend? Minder abstoßend!« schäumte der Alte. »Bitte, treten Sie nur in die saubere Gesellschaft ein. Ich kann ja allein weiterdampfen und sehen, wie ich mit mir fertig werde.«
»Regen Sie sich nicht auf, Kingscourt! Ich werde nicht länger hierbleiben als Sie selbst.«
»Das ist ein Wort?«
»Mein Ehrenwort ... Und ich werde auch nicht in Davids neue Gesellschaft eintreten. Es wäre denn...«
»Was?«
Friedrich lächelte bei diesem Gedanken:
»Es wäre denn – daß Sie auch eintreten.«
So gelacht hatte Kingscourt schon lange nicht.
»Fritze, hahaha, was haben Sie doch für pudelnärrische Einfälle. Oh, hoh, hahaha. Sehen Sie mich als Mitglied einer jüdischen Gesellschaft! Mich, Adalbert von Königshoff, einen königlich preußischen Offizier und christlichen germanischen Edelmann. Nee, Fritze, das ist zu jut, zu jut.«
»Der Junker spricht.«
»Da is er nu gleich pikiert. In meinen Augen sind Sie ja 'ne Ausnahme. Einer is Keiner.«
»Und was haben Sie gegen David Littwak einzuwenden?«
»Vorläufig nischt. Scheint 'n ganz strammer Kerl zu sein...«
Ihr Gespräch wurde durch den Hausherrn unterbrochen, der kam, sich nach ihren Wünschen zu erkundigen. Ob sie sich schon für ein Theater oder Konzert entschieden hätten. Er legte ihnen den Vergnügungsanzeiger einer Zeitung vor.
Kingscourt deutete auf das Blatt, ohne zu lesen:
»Wachsen noch immer so viele Lügen in der Welt?«
»Nur so viele, wie die Leser wollen«, entgegnete David.
»Also enorm viel«, schmunzelte Kingscourt.
»Das ist ganz verschieden. Im allgemeinen sind die genossenschaftlichen Blätter wahrheitsliebend und anständig.«
»Was für Blätter?«
»Die genossenschaftlichen. In unserer mutualistischen Wirtschaftsordnung mußten auch die Tageszeitungen natürlich diesen Charakter annehmen.«
Kingscourt unterbrach ihn:
»Halt, halt! Nicht zu schnell! In welcher Wirtschaftsordnung leben Sie?«
»In der mutualistischen. Stellen Sie sich aber darunter keine eisernen Regeln, keine unbeugsamen Grundgesetze, überhaupt nichts Hartes, Steifes, Doktrinäres vor – sondern einen harmlos und natürlich fließenden Gebrauch. Auch das hat schon zu Ihrer Zeit existiert, wie alles andere, was Sie bei uns sehen. Es gab Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften aller Art. Alle Arten werden Sie auch bei uns wirksam finden. Das ganze Verdienst unserer neuen Gesellschaft besteht nur darin, daß sie das Aufkommen und Gedeihen der Genossenschaften durch Kredit und – was wichtiger war – durch die Unterweisung der Massen gefördert hat. In der Wissenschaft des vorigen Jahrhunderts war die Bedeutung der Genossenschaften längst klargestellt worden. Im praktischen Leben rangen sie sich nur[66] schwer und zufällig durch. Die Genossen waren in vielen Fällen zu schwach, um bis an den Erfolg, der kommen mußte, durchzuhalten. Sie hatten auch mit der dumpfen oder offenen Gegenerschaft bedrohter Interessen zu kämpfen. Die Lebensmittelhändler waren selbstverständlich über die Konsumvereine nicht sehr froh. Die Möbelfabrikanten waren von den Tischlergenossenschaften nicht entzückt. Alle Trägheit, alle Reibungswiderstände, alle Hemmungen eingealterter Zustände wirkten gegen die Entstehung der Genossenschaften. Und doch ist das die mittlere Form zwischen Individualismus und Kollektivismus. Der einzelne wird nicht der Anregungen und Freuden des Privateigentums beraubt und dennoch kann er sich im Zusammenstehen mit Genossen der kapitalistischen Übermacht erwehren. Der Jammer, der Fluch ist von unseren Armen genommen, daß sie am Erzeugnisse weniger verdienen und den Verbrauch teurer bezahlen als die Reichen. Bei uns ist das Brot des Armen ebenso billig wie das des Reichen. Es gibt keinen Lebensmittelwucher. In der alten Gesellschaft wären Hunderttausende von Händlern dabei zugrunde gegangen. Wir ließen die Händler alten Stils gar nicht erst entstehen, sondern richteten von Anfang an die Konsumvereine ein. Da haben Sie wieder den Vorzug unserer Lastenfreiheit. Wir mußten niemanden zugrunde richten, um unseren armen Massen zu helfen.«
»Aber die Zeitung?« fragte Friedrich. »Wir sprachen von Zeitungen. Wie können die genossenschaftlich eingerichtet werden? Gehören sie sämtlichen Redakteuren, oder wie ist das?«
»Sehr einfach. Die genossenschaftliche Zeitung gehört den Abonnenten. Der Abonnementsbetrag ist die Einlage der Mitglieder, die darüberhinaus nicht haften. Je größer der Leserkreis, um so bedeutender sind die Einnahmen aus Inseraten und Ankündigungen verschiedener Art. Dieser Gewinn gebührt eigentlich den Lesern oder wenigstens den Abonnenten und er wird zum Jahresschluß den Mitgliedern rückvergütet, so daß in besonders günstigen Fällen die Abonnenten schließlich ihre Einlage ganz wiedererhalten. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie mehr als die Einlage erhielten.«
»Fabelhaft! Unglaublich fabelhaft«, schrie Kingscourt. »Da kriegt man also eine Prämie für fleißiges Zeitungslesen?«
»Ja, haben Sie denn in Europa und Amerika nie davon gehört, welche Einkünfte die großen Zeitungen hatten? Sie wurden auch immer billiger, obwohl die Ausgaben für Depeschen und Mitarbeiterhonorare sich riesig steigerten. Die größten Blätter wurden unter den Entstehungskosten hingegeben, und dabei wuchs der Gewinn der Unternehmer doch immer mehr. Darin war also schon das Prinzip der Gewinnvergütung an die Abonnenten enthalten. Dasselbe finden Sie hier bei uns, nur gelangt auch der Löwenanteil des Unternehmers zur Verteilung an die Mitglieder der Zeitungsgenossenschaft. Die Redaktion ist der geschäftsführende Ausschuß, und Sie können versichert sein, daß diese hochstehenden Arbeiter, deren Geist ja das bedruckte Papier erst lesenswert macht, besser daran sind als früher. Sie sind es, die das Geld für die Abonnenten verdienen, und dafür hat auch der gewöhnliche Mann das Einsehen. Es kommt die Dankbarkeit für die guten, schönen und gerechten Aufsätze hinzu, durch die Tag um Tag die allgemeine Bildung[67] gepflegt und erweitert wird. Unsere Zeitungen ergänzen den Volksunterricht unermüdlich, sie belehren, aber sie unterhalten auch; sie dienen den praktischen Bedürfnissen des Verkehrs, des Handels und der Industrie nicht minder eifrig als der Kunst und Wissenschaft. Und wie anders freudig arbeiten diese Journalisten im Bewußtsein ihrer öffentlicher Wichtigkeit und des zu erwartenden rückhaltlosen Dankes. Um wieviel ernster nehmen sie ihre Aufgabe, für die es nunmehr auch eine Verantwortung gibt.«
»Das klingt verführerisch«, warf da Friedrich ein. »Nur scheint mir, daß solche genossenschaftlichen Zeitungen den Launen der Menge sklavisch unterworfen sein müssen. Die Redaktion, in ihrer ganzen Existenz von den Lesern abhängig, wird augendienern, dem Publikum schmeicheln, den Leidenschaften der Abonnenten zu fröhnen suchen.«
»Wenn dem so wäre«, entgegnete David, »wäre das vielleicht etwas Neues? Hat es nicht auch früher solche Erscheinungen gegeben? Es gab Redakteure, die ängstlich nach den Stimmungen des Publikums aushorchten und auslugten, die das eine verschwiegen und das andere übertrieben, je nachdem sie glaubten, es ihren Lesern recht zu machen. Und dabei waren sie erst noch im ungewissen, ob sie es auch trafen. Anders jetzt. In den jährlichen Versammlungen wird Rechenschaft gegeben, aber auch vom organisierten Publikum der Zeitung für die Zukunft eine Richtschnur erteilt.«
»Gräßlich!« rief Kingscourt. »Versammlungen von hunderttausend Abonnenten!«
»Wo denken Sie hin? Die Abonnenten wählen hundert oder zweihundert Vertrauensmänner, die das besorgen. Der Vorgang ist einfach. In der Zeitung selbst kandidieren Leute für dieses kurze Amt. Der Abonnementsschein hat einen Kupon, der als Wahlzettel dient. Fünfhundert oder tausend übergeben ihre Wahlzettel einem Vertrauensmann für die Generalversammlung. Ein solcher pflegt in der Zeitung selbst zu inserieren: Ich gedenke in der Generalversammlung diesen und diesen Standpunkt einzunehmen. Wer mit mir einverstanden ist, möge mir seinen Zettel einschicken.«
»Schön«, sagte Friedrich; »dem Publikum wird reichlich Rechnung getragen. Aber darin sehe ich noch keinen Vorteil für das Volk. Die neuen Gedanken und Bewegungen werden selten gleich verstanden. Sie könnten es ebensogut Kindern anheimstellen, ob sie etwas lernen wollen, wie dem Publikum, ob es seine Anschauungen verbessern, erneuern oder vertiefen will. Ihre öffentliche Meinungsgenossenschaft muß notwendig zur Volksverdummung in den extremsten Formen, nämlich zu Reaktion und Revolution führen. Die Leute werden entweder taub gegen den Wert des Neuen oder blind gegen den Wert des Alten sein. Der Nutzen einer geistigen Führung, die nur vom begabten Individuum kommen kann, geht ihnen verloren.«
»Sie haben mich nicht ausreden lassen, Herr Doktor. Ich sagte nicht, daß die genossenschaftliche Zeitung die einzige Form sei. Diese ist nur an Stelle derjenigen Publizitätsunternehmungen getreten, welche durch den Umfang der Anlage, die Kosten der technischen Herstellung und den teuren Nachrichtendienst einen[68] großindustriellen Charakter hatten. Wir haben aber auch Zeitungen, die von einzelnen gemacht und geführt sind. Ich selbst besitze eine solche. Ich brauche sie in dem Kampfe, den ich gegenwärtig in unserer neuen Gesellschaft auszufechten habe. Mein Hauptgegner, der Rabbiner Dr. Geyer, hat auch sein eigenes Blatt. Ich werde meine Zeitung nicht länger herausgeben, als der Streit dauert. Geyer wird es wahrscheinlich anders halten, denn er lebt von diesem Hader. Und so gibt es noch vielerlei im Eigentum einzelner befindliche und als solche solche kenntliche Zeitungen, die verschiedenen Zwecken dienen. Kommt eine neue Richtung, tritt ein schöpferischer Geist auf, so können sie sich in der öffentlichen Meinung betätigen. Gewiß werden sie auch recht bitter zu kämpfen haben, gleichwie in der vorigen Zeit. Sie werden den Ernst ihrer Überzeugungen, ihren Mut, ihre Ausdauer erhärten müssen und das ist nicht schlecht. Glauben Sie mir, wir sind durch unseren Mutualismus nicht ärmer geworden an kräftigen Individualitäten, sondern reicher. Der einzelne wird bei uns weder zwischen den Mühlsteinen des Kapitalismus zermalmt, noch von sozialistischer Gleichmacherei geköpft. Wir kennen und schätzen die Entwicklung des Individuums, so wie wir seine wirtschaftliche Basis, das Privateigentum, respektieren und schützen.«
»Na, Gott sei Dank!« sagte Kingscourt, »ich dachte schon, ihr hättet den Unterschied von Mein und Dein aufgehoben.«
»Dann wäre wohl das alles, was Sie schon gesehen haben und noch sehen werden, nicht entstanden«, erklärte David. »Nein, so verrückt waren wir nicht. Den Ansporn zur Arbeit, Bemühung, Entdeckung und Erfindung haben wir nicht aus der Welt geschafft. Die größere Begabung muß ihre größere Talentrente, die größere Anstrengung ihren größeren Lohn haben. Den Reichtum brauchen wir als Lockung für die Strebsamen und als Nahrung für die seltene Kunst. Ich selbst gehöre zu den besser Bemittelten. Ich bin Schiffsreeder. Meine Unternehmung ist von der Art derjenigen, die nach wie vor nur von einzelnen oder von Aktiengesellschaften mit Erfolg betrieben werden können. Das ist ja ein Hauptvorzug des Mutualismus, daß er das Fortbestehen und Neubegründen anderer wirtschaftlicher Formen nicht ausschlließt. In meinem Hause werden Sie zum Beispiel eine interessante Mischform finden. Ich bin der Eigentümer der Firma. Meine Arbeiter bilden untereinander eine Genossenschaft, die mir gegenüber immer selbständiger wird und zwar mit meinem Willen, meiner Unterstützung. In den Anfängen meiner Unternehmung und ihrer Genossenschaft hatten sie nur einen Konsumverein, der sich zur Sparkasse erweiterte. Sie müssen bedenken, daß unsere Arbeiter als Mitglieder der neuen Gesellschaft ohnehin für Unfälle, Krankheit, Alter und Tod versichert sind. Ihre Sparkraft wird somit nicht zersplittert. Ich habe freiwillig ihre Spargenossenschaft durch Zuweisung eines Gewinnanteiles gestärkt. Ich tat es nicht aus Edelmut, sondern aus Egoismus, weil ich mir dadurch außer ihrer Arbeitshingebung auch noch den günstigen Verkauf meines Unternehmens sicherte für den Zeitpunkt, in dem ich mich vom Geschäft zurückziehen werde. Dann verwandle ich meine Reederei in eine Aktiengesellschaft und habe für diesen Fall der Spargenossenschaft meiner Arbeiter das Vorkaufsrecht auf Grundlage einer mäßigen Verzinsung schon im vornhinein eingeräumt. Darum sind meine Arbeiter[69] auch meine besten Freunde. Es gibt zwischen uns weder Lohnstreitigkeiten noch andere. Es ist, wenn Sie wollen, das patriarchalische Verhältnis, aber in den modernsten Verkehrsformen ausgedrückt. Wenn ein Aufwiegler zu meinen Arbeitern käme, brauchte ich ihn nicht gewaltsam entfernen zu lassen – sie würden ihn einfach hinauslachen. Sie wissen, woran sie sind, und damit hat aller unklare Sozialismus ein Ende.«
Kingscourt brummte gemütlich:
»Sie sind noch ein junger Mensch und halten schon so verdammt weit.«
»Ich habe eben früh angefangen. Wir waren unter den ersten Einwanderern. Persönliches Verdienst war es nicht, oder nur zum geringeren Teile. Der allgemeine Aufschwung hat mich mit hinaufgetragen. Aber das will ich Ihnen erst in Tiberias erzählen.«
»Warum in Tiberias?« fragte Friedrich.
»Sie werden dort den Grund erfahren, da Sie wahrscheinlich keine Ahnung haben, welches Fest wir begehen ... Jetzt aber wählen Sie endlich Ihre Abendunterhaltung, meine Herren. Wollen Sie lieber das Programm aus der gesprochenen Zeitung hören?« Er nahm zwei Hörmuscheln von der Wand, an der sie hingen und reichte sie seinen Gästen.
Kingscourt lachte:
»Euer Hochwohlgeboren, damit imponieren Sie mir nicht. Den Zauber kenn' ich. Eine solche Telephonzeitung war schon vor fünfundzwanzig Jahren in Budapest in Betrieb.«
»Ich wollte Ihnen durchaus nichts Neues zeigen. Übrigens ist auch diese gesprochene Zeitung eine genossenschaftliche.«
»Die wird aber kein Erträgnis abwerfen, da es keine Inserate gibt.«
»Im Gegenteil. Diese Ankündigungen werden am höchsten bezahlt. Den Inseratenteil der gedruckten Zeitungen muß der Leser nicht anschauen, er kann darüber hinwegblättern. Hingegen ist er gegen die Reklame wehrlos, die aus diesen Muscheln kommt. Horchen Sie, vielleicht wird gerade eine verlesen.«
Sie nahmen die Hörmuschel ans Ohr. Zuerst vernahmen sie die Anzeige eines Dockbrandes in Yokohama, dann den kurzen Bericht über eine Pariser Theaterpremiere, die neuesten Baumwollkurse von Neuyork – und jetzt erscholl es deutlich, noch schärfer betont als das Frühere:
»Bei Samuel Kohn bekommt man die edelsten Edelsteine, sowohl echte wie falsche, zu den garantiert brillantesten Preisen. Bei Sa-mu-el Kohn, Große Galerie 47.«
Sie lachten herzlich.
David sagte noch:
»Das wird oft auf eine witzige Weise gemacht, daß der Hörer nicht merkt, es werde auf eine Reklame hinauslaufen. Das Erträgnis dieser Zeitung ist kolossal. Die Abonnenten zahlten ursprünglich einen Schekel monatlich und bekamen mehr zurück. Diese Zeitung hat ja weder Druck-, noch Papier-, noch Zusendungskosten. Aber die Stadt Haifa und die neue Gesellschaft machten sich das Unternehmen tributär. Es steht übrigens auch unter besonderer Aufsicht. In der[70] Zentrale wachen Beamte der neuen Gesellschaft darüber, daß kein Unfug begangen, keine Lügen, Alarmnachrichten oder Unanständigkeiten in den Apparat hineingesprochen werden.«
Friedrich war ein Wort aufgefallen:
»Tributär? Wie kann sich die Stadt oder Ihre neue Gesellschaft, deren Verfassung Sie uns noch schuldig sind, ein Privatunternehmen einfach tributär machen, wenn es ergiebig wird?«
»Das ist ein ganz besonderer Fall. Die Telephonzeitung muß ihre Kabel doch irgendwohin legen. Nun haben wir unter unseren Straßen Hohlräume zur Aufnahme aller möglichen schon vorhandenen und noch kommenden Drahtleitungen und Röhren für Gas, Wasser und Kanalisation. Unter dem Fahrdamm läuft dieser Tunnel mit Mündungen an jedem Hause. Jedes Haus hat einen unterirdischen Eingang für solche Röhren und Drähte. Man muß nicht erst das Pflaster aufreißen, wenn man etwas Neues einführen will. Sie können darin meinetwegen auch einen symbolischen Zug unserer Einrichtungen erblicken. Die großen Städte, die Sie kannten, waren zufällig und planlos entstanden. Leuchtgas, Wasserversorgung, Kanäle, elektrische Leitungen verursachten immer wieder ein Aufreißen der kranken Eingeweide jener Straßen. Dabei wußte man nie genau, in welchem Zustande sich die einzelnen Leitungen befanden, erfuhr es gewöhnlich erst nach einem Schaden, einer Explosion. Wir aber kannten schon die Bedürfnisse moderner Städte, als wir die unsrigen anlegten und bauten deshalb die Straßen vernünftig mit diesem Hohlraum in der Mitte. Das war ziemlich kostspielig, rentiert sich aber großartig. Wenn Sie das Budget von Haifa mit dem von Paris oder Wien vergleichen, werden Sie sehen, was wir durch die unterirdischen Hohlräume ersparen. Dadrin liegen unter andern auch die Drähte der Telephonzeitung, und es muß dafür eine mit dem Erträgnis gewachsene Miete gezahlt werden. Das kommt ja wieder nur der Allgemeinheit zustatten.«
Kingscourt bekannte:
»Das ist das erste, was mir bei euch imponiert: daß ihr die edelsten Edelsteine des Samuel Kohn zur Straßenpflasterung verwendet. Ihr seid doch ein verflucht pfiffiges Volk! Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Ihre Komplimente schmecken bitter, Mr. Kingscourt!« sagte David freundlich. »Aber vielleicht wird sich Ihr Urteil noch ändern, wenn Sie erst einige Zeit bei uns sind.«
»Schön! Mich sehen Sie prinzipiell bereit, einzugestehen, daß ich 'n oller Esel bin – aber ich verlange Beweise dafür! ... – Und nun führen Sie uns in Deibelsnamen ins Theater.«
»In welches Sie wollen, lieber Littwak«, ergänzte Friedrich.
»Da Sie keine Wahl treffen wollen, meine Herren, so denke ich, wird's am besten sein, wir überlassen die Bestimmung den Damen.«
Damit waren die Gäste einverstanden.[71]
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